Hans Christoph Buch

Tunnel über der Spree


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Kenner seines Werks. Weder habe ich all seine Bücher gelesen noch war und bin ich mit seinen politischen Interventionen immer einverstanden: Walsers frühzeitiges Eintreten für die Wiedervereinigung imponierte mir, aber seine Paulskirchen-Rede irritierte mich. Aus seiner Dissertation über Kafka habe ich viel gelernt, wie auch aus seinem theologischen Essay über Rechtfertigung. Und es gefiel mir, wie er kürzlich im Springerhaus alle Versuche, ihn zur Verdammung von Günter Grass zu bewegen, von sich abtropfen ließ, ohne dessen Israel-Kritik gutzuheißen. Doch mein Wunsch, Martin Walser zu treffen, hatte nichts zu tun mit dem durch inflationären Gebrauch entwerteten Antisemitismus-Vorwurf, sondern mit dem Wunsch, den letzten Dinosaurier der deutschen Literatur in seiner natürlichen Umgebung agieren zu sehen.

      Ist Walser ein Tyrannosaurus Rex? Diese Charakterisierung passt eher auf Günter Grass, denn trotz oder wegen seines cholerischen Temperaments ist Martin Walser ein Pflanzenfresser, der Bäume abweidet, um Literatur daraus zu machen, also ein Papiertiger: Wenn ich richtig gezählt habe, hat er dreißig Romane veröffentlicht, dazu je zehn Theaterstücke, Essay- und Erzählbände – Tagebücher, Gedichte, Hörspiele und Filmszenarien nicht mitgerechnet. Martin Walser ist der produktivste Autor der Gegenwart, kein Vielschreiber, sondern ein springender Brunnen – so der Titel eines Romans – dessen Vitalität auch im Alter ungebrochen ist. Die Schaffenskraft hat ihren Preis, denn anders als die ständige Einmischung in öffentliche Belange vermuten lässt, vollzieht sich die Umwandlung des Lebensstoffs zu Lesestoff in der Stille und Abgeschiedenheit eines ländlichen Domizils, und die Bodenhaftung, nein: Bodenseehaftung war die Voraussetzung für die Entstehung seines Werks. Hier ist ein zusätzliches Paradox zu konstatieren, denn Walsers beredte Klage über den Zwang, recht haben zu müssen, dem er die christliche Rechtfertigungslehre entgegenstellt – wir sind weder durch unsere Taten noch durch den Glauben gerechtfertigt, sondern allein durch Gott –, steht im Widerspruch zu den Wortmeldungen des Autors, die nicht frei sind von Rechthaberei – kein Wunder auf Walsers langem Marsch von der SPD über die DKP zur CSU, der er sich in Wildbad Kreuth andiente.

      In seiner Phänomenologie kritisiert Hegel die »geistlose Freiheit des Meinens«, die nur »Anspielungen auf witzige und scheinbare Beziehungen« darbiete, und als ich diesen Satz zitiere, bricht Martin Walser in Gelächter aus und stößt mir den Ellbogen in die Rippen, eine Geste, mit der er spontane Zustimmung wie auch jugendlichen Übermut zum Ausdruck bringt. Dazu passt seine Antwort auf die Frage, was ihn kürzlich nach Hildesheim geführt habe, eine Buchpremiere oder ein Vortrag? Nichts dergleichen: Es war sein Freund Georg Olms, Chef des bekannten Reprint-Verlags, dem Martin Walser, Jahrgang 1927 wie Olms, zum Geburtstag eine Festrede hielt. Georg Olms ist ein passionierter Pferdezüchter und Pistolenschütze, aber als er vorschlug, nach dem Essen zum Schießstand in den Keller zu gehen, lehnte Walser ab, um den Jubilar nicht versehentlich totzuschießen.

      Martin Walser hat eine jungenhafte Unbekümmertheit, ja Naivität, gepaart mit lausbübischer Ironie, die in erzählender Prosa gut rüberkommt, bei seinen politischen Interventionen aber oft überhört oder überlesen wird, so als seien öffentliche Stellungnahmen Gesetzestafeln und nicht bloß Wegmarken am Straßenrand. »Ich hatte nicht das Gefühl, einem Mönchsorden beizutreten, als ich 1968 den Boykottaufruf gegen die Springerpresse unterschrieb«, sagte Walser bei dem oben erwähnten Gespräch im Springerhaus, und es sei durchaus möglich, dass er sich mit dem Zeitungsverleger gut verstanden hätte, dessen Engagement für die Wiedervereinigung, aber auch für Israel, er nachträglich Respekt erweist, obwohl er ihm nie persönlich begegnet ist.

      Umgekehrt, erzählt Martin Walser am Kaffeetisch, während seine Frau Aprikosenkuchen kredenzt, wollte Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld von seinen Autoren nicht nur als Verleger ernst genommen werden, sondern als Intellektueller, der er nicht wirklich gewesen sei: Fürs Geistige seien die Lektoren zuständig gewesen – allen voran Walter Boehlich. Ich weiß, wovon Martin Walser spricht, denn im Umgang mit Siegfried Unseld hatte ich eher das Gefühl, einem Skilehrer zu begegnen als einem feinsinnigen Literaten, und habe seinen Genius als Verleger, aber auch seine intellektuelle Kapazität unterschätzt. Martin Walser lacht hell auf, als ich ihm erzähle, dass Unseld mich mit einem Salär von hundert Mark im Monat für Suhrkamp köderte – 1963 war das viel Geld, und er boxt mich in die Seite, als er hört, dass der Verlagschef meine Frau, um mit ihr anzubändeln, zum Skiurlaub einlud. »Das Skifahren habe ich ihm beigebracht«, sagt Walser stolz, aber Siegfried Unseld sei der bessere Schwimmer von beiden gewesen. Und er erzählt nicht ohne Bitterkeit, wie der Verleger und er sich in den achtziger Jahren entfremdet hätten, weil eine neu hinzugekommene Person einen Keil in ihre Freundschaft trieb.

      »Und wer war diese Person?« – »Namen sind Schall und Rauch!«

      Das stimmt nicht ganz, denn die Namen von Walsers Romanhelden sind Programm – ähnlich wie bei Kafka, dessen Protagonisten Gregor Samsa und Josef K. schon in der Namensgebung auf den Autor verweisen. Gottlieb Zürn zum Beispiel, »ein leidenschaftlicher Verundeutlicher, der an allem, was er verundeutlicht, keinen Zweifel lässt, und Wendelin Krall, der darauf besteht, ein rückhaltloser Verdeutlicher zu sein«. In der doppelten Bewegung dieses Satzes (aus Der Augenblick der Liebe) charakterisiert Walser sich selbst als Doktor Jekyll und Mr. Hyde, aber das dahinterstehende Prinzip hat er schon Anfang der fünfziger Jahre in seiner Doktorarbeit benannt: »Soll man mir nachsagen dürfen, dass ich am Anfang des Prozesses ihn beenden wollte, und jetzt, an seinem Ende, ihn wieder beginnen will?«, fragt Josef K. in Kafkas Process, und Martin Walser kommentiert: »Dass jeder Existenzbehauptung die Aufhebung folgt, aber der Lebenswille eines Menschen durchbricht sie insofern, als er seine Existenz trotz der immerwährenden Aufhebung weiter behauptet.«

      Dialektisch gesprochen, geht es um die Negation der Negation, und hier wird sichtbar, dass und wie die Infragestellung des eigenen Ichs im Existenzialismus der Nachkriegszeit wurzelt, als Martin Walser Theologie und Philosophie studierte – die Spätfolgen dieser frühen Prägung lassen sich an seinem Essay über Rechtfertigung ablesen, der um Karl Barth kreist. Anders ausgedrückt: Schreiben ist ein Modus des Seins, und die Literatur hat ihre eigene Wahrheit, die mit den Pseudogewissheiten der Politik nicht oder nur begrenzt kompatibel ist. Politische Meinungen dagegen sind etwas Erworbenes, das man wie Kleider zur Schau stellen und auch wieder ablegen kann. Vielleicht hat Kafka deshalb zu Gustav Janouch gesagt, auf politischen Versammlungen hätten ihn die Redner aller Parteien stets vollkommen überzeugt – ein Satz, der Martin Walser so gut gefällt, dass er mir zum dritten Mal an diesem Tag in die Rippen boxt.

      Hans Magnus Enzenbergers langer Weg nach Westen

      Wer war oder ist Hans Magnus Enzensberger? Obwohl ich ihn seit über einem halben Jahrhundert kenne und nie aus den Augen verlor, bleibt seine Persönlichkeit mir so rätselhaft wie seine literarische Physiognomie. Beim Schreiben seines Erinnerungsbuchs mit dem sprechenden Titel Tumult muss es ihm ähnlich ergangen sein, denn der Blick zurück auf die Zeit um 1968, eine wichtige Weichenstellung seines Lebens, fördert zwar unbekannte, wissenswerte und überraschende Einzelheiten zutage, aber Enzensberger tut sich schwer, zu sagen, was er wollte und wer er war. Beim Häuten der Zwiebel hat Günter Grass das jedem Memoirenschreiber vertraute Dilemma genannt, doch der Verfasser der Blechtrommel blieb seiner Geburtsstadt, sich selbst und der SPD treu und legte, von Buch zu Buch, neue und aktualisierte Versionen der Danzig-Trilogie vor. Anders Hans Magnus Enzensberger, der sich in jeder Schaffensphase neu erfand, bis er selbst nicht mehr wusste, hinter welcher Facette seiner multiplen Persönlichkeit das Ich des Autors sich verbarg:

      »Sein wahres Wesen kennen wir nicht; ein Geschöpf, an dem seine und unsre Einbildungskraft nicht weniger teilhat als die Geschichte: ein Kobold und Bürgerschreck, Komödiant, erotisches Genie, genialer Sammler wunderbarer Geistesschätze, aber auch ein radikaler Artist, der Verse ohne Vorbild schrieb, auf der Höhe seines Lebens von einer Bekehrung ereilt, die sein Leben in zwei Stücke gespalten hat, unberechenbar, nie ganz zu durchschauen …«

      Ich habe mir die Freiheit genommen, stark verkürzt aus Enzensbergers Doktorarbeit über Brentano zu zitieren, ohne den Dichter beim Namen zu nennen, um deutlich zu machen, wie verblüffend genau der in den fünfziger Jahren geschriebene Text den Werdegang seines Autors vorwegnimmt, einschließlich der politischen Bekehrung, die diesen zehn Jahre später »ereilte«.

      Damit nicht alles