j. Christian Rainer

Meister der Vertikale


Скачать книгу

Drang, den Berg zu „besiegen“, drängen sich vehement in den Vordergrund. Aus dem Bergsteigen wird ein Sport, zumindest für die Engländer. Für die Einheimischen – für Schweizer, Savoyer, Bayern, Salzburger, Tiroler oder Trentiner – ist die britische Sicht auf das Besteigen von Bergen völlig neu, mit dem so typisch englischen Sportsgeist können sie zunächst so wenig anfangen wie mit dem sinn- und zweckfreien Treiben am Berg. Trotzdem setzt kaum ein Engländer einen Fuß an oder auf einen Berg, ohne von einem Ortskundigen begleitet zu werden. Hirten, Gamsjäger, Wilderer, Schmuggler oder Kristallsammler werden so zu gesuchten Trägern und Führern. Führern, wohlgemerkt, nicht Bergführern, denn vor den 1860er-Jahren von „Bergführern“ zu reden, wäre irreführend. Schließlich suchen die Engländer nicht Bergführer in einem heutigen Sinne. Was sie brauchen, ist vielmehr ein „Guide“ im Sinne eines menschlichen Wegweisers. Technisch-alpinistische Fähigkeiten sind Nebensache, was zählt, ist die Ortskenntnis der „Locals“.

      Mallorys „Weil er da ist“ mag also in den Anfangsjahren der Grund dafür gewesen sein, dass Engländer auf einen Berg stiegen, für die Einheimischen war die reine Existenz des Berges aber nicht genug, um sich unnötig einer Gefahr auszusetzen. Und ihre „Sehnsucht“ richtete sich auch weniger auf die Eroberung des Universums als vielmehr auf die Eroberung der Brieftasche des Gastes. Oder anders: Bergsteigen wurde in den 1860ern für einige wenige zum Geschäft, sie konnten sich damit etwas zum kargen Lebensunterhalt dazuverdienen. Kurz: Älpler stiegen auf Berge, weil sie dafür bezahlt wurden. Und nicht, weil sie da waren.

image

      Weil nur ein heldenhafter Kampf Aufmerksamkeit bringt, wird das Risiko am Berg besonders lebendig dargestellt. Das spielt wiederum den Bergführern in die Karten.

image

      Es sind die Mitglieder der Alpenvereine, allen voran des britischen, die das Bergsteigen in den Alpen im 19. Jahrhundert salonfähig machen – auch durch künstlerische Begleitung.

image

      Viel Verkehr: Der Mont Blanc entwickelt sich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Touristenmagneten – trotz oder vielleicht auch wegen seiner Tücken.

      Noch einen zweiten großen Unterschied gibt es damals zwischen der englischen Sicht auf das Leben (und damit auch auf das Bergsteigen) und der kontinentaleuropäischen. Während sich die Engländer umso wohler fühlen, je weniger Regeln ihr Leben einschränken, scheinen Republiken und Königreiche auf dem Kontinent nur regierbar, wenn alles und jedes bis ins Detail geregelt ist. Schon 1821 etwa erlässt man – nicht zufällig – in Chamonix am Fuße des Montblanc das erste Bergführerreglement der Welt. Es wird aus der Not geboren, oder vielmehr: als Folge eines tragischen Unglücks. Im Jahr zuvor waren drei Bergführer eines Beraters des russischen Zaren am Montblanc in einer Lawine umgekommen, woraufhin als erster Bergführerverein überhaupt die Compagnie des Guides de Chamonix gegründet und der Beruf des Bergführers (und dessen Absicherung im Unglücksfall) geregelt wird.

       Faule Führer?

      „Da die Führer bis jetzt keiner Art von Controlle noch gewissen Regeln unterworfen waren, so konnte ein jeder Taugenichts, der zu träge war sein Brod durch Handarbeit zu verdienen, sich hierzu stempeln.“

      Der Oberamtmann von Interlaken in einem Schreiben an die Berner Kantonalregierung, 1826

      Fünf Jahre später wird auch in der Schweiz der Ruf nach einer Bergführerordnung laut. Angelockt vom – im Vergleich zum Schuften in Ställen, auf Wiesen und im Wald – schnellen und leicht verdienten Geld, versuchen sich immer mehr junge Männer als Träger oder Führer. Auch solche, die offensichtlich nicht über die nötigen Voraussetzungen verfügen. So droht der Wildwuchs über kurz oder lang das große Geschäft mit dem Bergtourismus zu gefährden, denn Klagen der englischen Touristen über Unzuverlässigkeit und fehlenden Anstand, über unverhältnismäßig hohe Preise, Vertragsbruch, Zecherei und fehlende Ortskenntnis häufen sich. Erst in den 1850er-Jahren verabschieden die ersten Schweizer Kantone jedoch Gesetze, mit denen der Beruf des Bergführers sowie der Zugang dazu über ein System von Ausbildungskursen und Prüfungen geregelt wird. Und sogar fast zehn Jahre länger dauert es im kaiserlich-königlichen Universum, den Beruf des Bergführers zu regeln. So wird 1863 in Salzburg die erste Bergführerordnung der österreichischen Geschichte verabschiedet. Zwei Jahre später regen die Ministerien in Wien den Erlass weiterer Bergführerordnungen in den Alpenländern an.

      Die plötzliche Geschäftigkeit hat einen einfachen Grund, nämlich einen finanziellen. Schließlich geht es um die Frage, inwieweit Bergführer Erwerbsteuer zahlen müssen. Die Antwort fällt überraschend aus: Innen-, Polizei-, Finanz- und Handelsministerium sprechen sich im Mai 1865 gegen eine Erwerbsteuerpflicht für Bergführer aus, sei doch „die Beschäftigung der Bergführer, da sie gewöhnlich nur gelegentlich und vorübergehend, daher nur als ein prekärer Nebenverdienst ausgeübt wird, in der Regel als kein Gewerbe anzusehen“. Nur wenn ein Bergführer seine Tätigkeit „ausnahmsweise als eine selbstständige Unternehmung förmlich gewerbsmäßig“ betreibe, müsse er dafür auch Steuern bezahlen. Offensichtlich sind Profibergführer damals also noch dünn gesät. Trotzdem werden „Anordnungen zur Regelung des Bergführerwesens“ erlassen, die zur Grundlage der in den nächsten Jahren folgenden Bergführerordnungen in den Ländern werden und in der Zwischenzeit schon einmal die wichtigsten Voraussetzungen für den Zugang zur Bergführerei und deren Ausübung regeln.

image

      In den 1890er-Jahren verlassen sich die meisten Seilschaften auf kompetente Begleitung durch einen Bergführer. Und auf jemanden, der ihnen die Arbeit am Berg abnimmt.

       Erfahrung, Verlässlichkeit, Ortskenntnis

      „In jenen Gegenden, welche von Reisenden häufig besucht werden und wo sich das Bedürfniß nach Bergführern herausgestellt hat, haben die politischen Bezirksbehörden denjenigen, die darum, wenn auch nur mündlich ansuchen und von deren Befähigung zum Bergführergeschäfte, nämlich von deren genügender Erfahrung, Verläßlichkeit, genauer Ortskenntniß und physischer Tauglichkeit sie sich in geeigneten Wegen überzeugt haben, ein Bergführerbuch zu verabfolgen.“

      § 1 der ministeriellen Anordnungen zur Regelung des Bergführerwesens, 1865

      Schaut man sich die ministeriellen Anordnungen genauer an, erkennt man ein Grundprinzip: Die Zuständigkeit für die Regelung des Bergführerwesens wird den Bezirken zugeschrieben. Gleichzeitig wird für das gesamte österreichische Hoheitsgebiet das Bergführerbuch als Befähigungsnachweis eines Bergführers eingeführt. Die Behörden schrecken aber (noch) vor einem Monopol der behördlich anerkannten Bergführer zurück, spielen deshalb die Bedeutung des Bergführerbuches herunter und degradieren es fast schon zu einem Marketinginstrument. So heißt es in den Anordnungen: „Es gibt ihm zwar kein ausschließliches Recht gegenüber solchen, die ein Bergführerbuch nicht erwirken; allein da es den Charakter eines behördlichen Zeugnisses hat, so wird es einerseits dem reisenden Publikum die so sehr gewünschte Garantie der Verläßlichkeit des damit Betheilten und dem Letzteren alle Vortheile einer behördlichen, zur allgemeinen Kenntniß gebrachten Beglaubigung gewähren.“

      Im Ministeriumserlass von 1865 finden sich auch noch andere Regelungen, die später in den Länder-Bergführerordnungen übernommen werden. Dazu gehören die Pflicht des Führers, das Bergführerbuch den Reisenden und Behörden vorzulegen, falls diese es wünschen, und die Möglichkeit der Behörden, den Führern das Buch zu entziehen. Zugleich ordnet Wien an, die Namen der Bergführer „in den Gasthöfen, Wirthshäusern, Bahnhöfen, auf Dampfschiffen etc. durch Anschlag kund zu machen, damit die Reisenden in die Kenntniß kommen können, daß in einem bestimmten Orte oder Bezirke behördlich legitimirte Führer sich befinden“.

      Weil