Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts


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einen literaturwissenschaftlichen Ansatz, der literarische und nicht-literarische Texte gleichberechtigt zu einander in Beziehung setzt. So wird der literarische Text nicht nur in seinem historischen Kontext berücksichtigt. Vielmehr kann nun aufgezeigt werden, wie bestimmte Ideen und Vorstellungen zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten zirkulieren. Aufgrund dieser Wechselseitigkeit wird neben dem Begriff New Historicism auch der Begriff Kulturpoetik verwendet. Der literarische Text nimmt in diesem Modell zwar als Kunstwerk eine herausragende Position ein. Grundsätzlich steht er jedoch nicht wie ein Monolith in seinem historischen Kontext, sondern wirkt am Erschaffen dieses Kontextes seinerseits mit (vgl. Belsey 2000: 51–52). Dabei sei es Greenblatt, so resümiert der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler (2005) in seiner literaturtheoretischen Monografie Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, nicht daran gelegen zu zeigen, was die historische Person Shakespeare dachte und meinte, und ob diese Person bestimmte persönliche Ansichten in seinen Dramen zu vermitteln oder populär zu machen hoffte. Vielmehr stelle Greenblatt heraus, weshalb und wozu Shakespeare so schrieb, wie er schrieb:

      [D]er Dramatiker [ShakespeareShakespeare, William] benutzt das diskursive Material eben nicht, um religionskritische Aussagen zu machen, sondern um dramatische Effekte zu erzeugen. Dabei und dafür aktiviert er auch und gerade die Widersprüche, Absurditäten und dunklen Seiten, die den diskursiven Konstellationen anhaften. (Baßler 2005: 15)

      Es geht Greenblatt und Baßler nicht darum, Widersprüche aufzulösen und Ambivalenzen zu glätten, sondern sie sichtbar zu machen und als dramatische Mittel anzuerkennen. Übertragen auf meine Fragestellung bedeutet dies, die durchweg ambivalenten und bisweilen absurd anmutenden Darstellungen jüdischer Figuren und des Judentums als dramatisches, beziehungsweise literarisches Mittel anzuerkennen und sie nicht allein auf ihren politischen, gesellschafts- oder religionskritischen Gehalt zu reduzieren.

      In seiner Einführung in den New Historicism fragt Baßler: „Wer braucht überhaupt den New Historicism?“ Die Antwort gibt er umgehend: „Es braucht ihn, wer die theoretischen Prämissen des Poststrukturalismus teilt und nach wie vor mit historischem Interesse in einer kultur- oder textwissenschaftlichen Disziplin arbeiten will“ (Baßler 2001: 7). In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die vorliegende Arbeit. Das Vorgehen orientiert sich prinzipiell an der foucault’schen Diskursanalyse; es wird betrachtet, wie in einer bestimmten Region (Dänemark), Epoche (Dänemarks „Goldenes Zeitalter“) und in einer bestimmten Textgattung (Erzählliteratur) über Juden und Jüdinnen geschrieben wurde, geschrieben werden konnte. Der Aufbau der Arbeit ist zwar chronologisch nach den untersuchten Werken unterschiedlicher Autor*innen gegliedert, aber die Texte werden trotz dieses traditionell anmutenden Aufbaus immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt und die Chronologie so gestört, um die Zirkulation von Ideen und Vorstellungen zwischen den Werken aufzuzeigen. Dem von der Diskursanalyse beeinflussten Ansatz dieser Arbeit scheinen allerdings die Kriterien für die Textauswahl zu widersprechen, denn für diese ist die nicht-jüdische Herkunft der Autoren und der Autorin zentral, da mich der nicht-jüdische Blick auf die Juden und Jüdinnen als die Anderen interessiert. Somit wird dem Autor, den Roland BarthesBarthes, Roland 1968 (2000) für tot erklärt hatte in dieser Analyse eine entscheidende Bedeutung beigemessen, die ihm in einer klassischen Diskursanalyse nicht zugekommen worden wäre. Der kulturpoetische Ansatz erlaubt es jedoch, das Material diskursanalytisch zu untersuchen und zugleich auch den Autor als Teil des Kontextes eines Textes zu begreifen. Die Biografie samt Herkunft, Religion und Geschlecht der Autor*innen ist ein Aspekt unter vielen, die das Zustandekommen eines Textes möglich (oder auch unmöglich) machen. Diesen Kontext werde ich folglich in jedem Kapitel in kurzer Form skizzieren, jedoch auf die Punkte beschränken, die für das Textverständnis relevant erscheinen.

      Greenblatt hat den Begriff der „Zirkulation sozialer Energie“ geprägt (1988: 7–24) und damit die Überzeugung formuliert, dass Literatur nicht oder nicht vornehmlich als Abbildung oder künstlerische Verarbeitung einer außerliterarischen Wirklichkeit verstanden wird, sondern im vitalen Austausch mit der außerliterarischen Welt steht. Dieser Austausch verläuft in beide Richtungen, in die Literatur hinein und aus ihr heraus, und ist dabei höchst lebendig und fruchtbar. So wird auch der Begriff der ‚Intertextualität‘ nicht als Einbahnstraße verstanden, in der ein Autor seinen Text mit Verweisen auf andere Texte spickt. Vielmehr ist der literarische Text Teil des texte général1 und hat an der Zirkulation von Wissen, Konnotationen, Annahmen oder eben: sozialer Energie ebenso Teil, wie jede andere Produktion von Kultur und Sinn auch. Roland BarthesBarthes, Roland nutzt ebenfalls die Metapher der Zirkulation, wenn er in seinem Essay Junge Forscher fordert, dass

      endlich eine freie Lektüre zur Norm des ‚literaturwissenschaftlichen Studiums‘ wird. Die Freiheit, um die es sich handelt, ist natürlich keine x-beliebige Freiheit (die Freiheit steht im Gegensatz zum Beliebigen): Hinter der Forderung nach einer unschuldigen Freiheit würde die eingelernte, stereotypisierte Kultur wiederkehren (das Spontane ist das unmittelbare Feld des Bereits-Gesagten): […] Diese Freiheit muß eine Virtuosität sein: diejenige, die gestattet, im Leit-Text, mag er auch noch so alt sein, die Devise jeglichen Schreibens herauszulesen: es zirkuliert. (BarthesBarthes, Roland 2006: 95)

      Um diese Zirkulation fassbar zu machen oder vielmehr: in den Texten aufzuspüren und zu reaktivieren, bedarf es einer akribischen und genauen Lesart, eines close reading, das Verallgemeinerungen zu vermeiden versucht (vgl. Baßler 2005: 10, 14, 19–21). Dies wiederum erfordert einen Textbegriff, der nicht jede beliebige kulturelle Äußerung als Text begreift, sondern sich auf physisch (oder digital) archivierbares und mit textwissenschaftlichen Werkzeugen lesbares Material stützt. Eine solche Text-Kontext-Theorie entwickelt Baßler, denn, so bemängelt er, es „geht mit dem Abrücken vom Textualitäts-Theorem regelmäßig eine Tendenz zurück zu abstrakter Beschreibungssprache, zu historischen Metanarrationen und Generalaussagen einher, in der ich keinen Fortschritt erkennen kann“ (Baßler 2005: 10). Durch ein Textverständnis, das sich zwar nicht allein auf literarische, jedoch auf archivierbare und archivierte Kulturproduktion beschränkt,2 soll der Rückgriff auf Verallgemeinerungen vermieden werden. Auf diese Weise bleibt das Forschungsfeld fassbar und benennbar und verallgemeinernde Aussagen können ebenso vermieden werden, wie eine abstrakte und schwer zugängliche Sprache. So fallen denn auch tatsächlich die Arbeiten derjenigen, die einen solchen kulturpoetischen Ansatz verfolgen, wie Greenblatt, Svetlana Alpers (2001), Schößler (2009) und Baßler selbst, durch ihre „Anschaulichkeit und Lesbarkeit“ (Baßler 2005: 10) auf. Diesen Aspekt als methodische Prämisse zu betonen mag ungewöhnlich erscheinen. Doch so wenig wissenschaftlich relevant ein anschaulicher und leserlicher Stil für die Bestimmung eines theoretisch-methodischen Rahmens auf den ersten Blick wirken mag, so sehr ist eine spürbare und für den Leser nachzuvollziehende Freude am Forschungsgegenstand vonnöten, um zu ungewohnten Lesarten und neuen Forschungsergebnissen zu gelangen.

      1.5.3 Widerstände und die Lust am Text

      Der Literatur- und Medienwissenschaftler Markus Spöhrer plädiert in seinen Überlegungen Zum Eigen- und Stellenwert geisteswissenschaftlicher Literaturproduktion. Schreiben als Experimentalsystem für eine „‚Offenheit‘ experimenteller Forschung“ um so „durch die Anordnung und Rekombination von ‚Altem‘ etwas ‚Neues‘ zu generieren“ (2017: 200). Oftmals werde in der Forschung durch „bestimmte konventionalisierte Theorien, Konzepte oder standardisierte Analysemodelle der Kultur- oder Literaturwissenschaft, aber auch ‚stabilisiertes Wissen‘, etwa Thesen, Argumente oder historische ‚Fakten‘“ tatsächlicher Erkenntnisgewinn verhindert (Spöhrer 2017: 201). Spöhrer begreift den Schreibprozess als das Experimentierfeld der Geisteswissenschaften. Im Experiment des Schreibens werde, im besten Fall, nicht allein Ordnung „beobachtet, analysiert und schlichtweg übertragen […], sondern diese Ordnung [wird] zuallererst im Zuge des Prozesses der Beobachtung, Analyse oder allgemein: der Forschung hergestellt“ (Spöhrer 2017: 203). Wie aber den Zufall als wissenschaftlich relevanten Faktor anerkennen, ohne ihn mit Beliebigkeit zu verwechseln? Wo beginnen mit der Ordnungsstiftung, was weglassen, wie auswählen, wenn doch ein Text niemals erschöpfend erfasst und immer auch anders verstanden werden kann? Und wie den Rückfall in vertraute Ordnungssysteme und Schemata verhindern? Hier helfen Roland BarthesBarthes,