Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts


Скачать книгу

in den Text geschrieben. An ihrem Beispiel lassen sich die beiden Topoi, um die es in den späteren Kapiteln dieser Arbeit immer wieder gehen wird, anschaulich skizzieren.

      2.2.1 Die ‚schöne Jüdin‘

      Die schöne Benjamine wird als „ung sorthaaret Pige [junges schwarzhaariges Mädchen]“ in die Novelle eingeführt, das „skjælvende af Kulde, ved en gammel Jødes Side [gikk] og syntes at trøste ham med en venlig deeltagende Stemme [vor Kälte zitternd an der Seite eines alten Juden ging und ihn mit freundlich teilnahmsvoller Stimme zu trösten schien]“. Im Mondlicht sieht der alte Jude – es ist der Rabbiner – „Taarerne glindse i de lange sorte Øienhaar [die Tränen in den langen schwarzen Wimpern schimmern]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 106). Wenngleich eine solche Figur erstmals in der dänischen Literatur auftritt, darf angenommen werden, dass sie einem großen Teil des Lesepublikum bereits vertraut war. Seit dem 17.Jahrhundert hat sich die ‚schöne Jüdin‘ in der deutschsprachigen Literatur zu einem Topos entwickelt, der bis in die Gegenwart hinein wirksam ist, und der zu Beginn des 19.Jahrhunderts einen Popularitätshöhepunkt erreichte. Florian Krobb stellt in seiner Untersuchung Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17.Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg fest:

      Zumindest vom ersten Drittel des 19.Jahrhunderts an gehörte der Topos ‚Die Schöne Jüdin‘ im deutschen Sprachraum zum allgemeinen Sprachgebrauch und kollektivem Bewußtsein […]. Wenn ein bestimmtes Vorverständnis aber ganz selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, so ergeben sich daraus Konsequenzen für die literarische Verwendung: die Gestalt braucht nicht mehr beschrieben, sondern nur noch benannt zu werden, um das Vorverständnis aufzurufen. Oder aber es genügt die Erwähnung weniger Merkmale, um die beschriebene Figur zuzuordnen und ihre stereotype Bezeichnung mit all ihren Konnotationen zu assoziieren. (Krobb 1993: 11)

      Das bedeutet, dass die wenigen von IngemannIngemann, Bernhard Severin aufgerufenen Merkmale ausreichend sind, um beim Leser ein viel umfassenderes Bild zu erzeugen, mit dem all jene Assoziationen verbunden sind, die Krobb folgendermaßen zusammenfasst:

      ‚Rätselhafte Frauenschönheit‘ und ‚das Abenteuer der Assimilation‘ – das Zusammentreffen dieser beiden Attribute erotischer Ausstrahlung und bürgerlichen Emanzipationswunsches macht die Gestalt der ‚Schönen Jüdin‘ recht eigentlich aus. (Krobb 1993: 20)

      So wird die bescheidene und fromme Benjamine zwar mit keinem Wort als erotisch dargestellt. Der Assoziationsraum, den sie mit dem Topos ‚schöne Jüdin‘ öffnet, ermöglicht es aber trotzdem, sie als erotisch aufgeladen zu denken. Mit ihrem Eintritt in die dänische Literatur zitiert Benjamine eine der populärsten ‚schönen Jüdinnen‘ des 19.Jahrhunderts: Rebecca von York aus Sir Walther ScottsScott, Sir Walter Roman Ivanhoe von 1819 (vgl. Krobb 1993: 123–124; siehe auch Kapitel 5.6.2.). Rebecca ist von außergewöhnlicher Schönheit und sexueller Attraktivität, dabei aber fromm, bescheiden und duldsam, wie auch Benjamine es ist. Und wie Benjamine, die während der Hep-Hep-Krawalle am Arm ihres Großvaters die dänische Erzählliteratur betritt, ist Rebecca durch einen Tumult verängstigt und klammert sich „fest an den Arm ihres bejahrten Vaters“ (Scott 1971: 90). Der viel zu alte jüdische Mann an Rebeccas wie an Benjamines Seite signalisiert dem Leser unmittelbar, dass diese Frau einen jungen Beschützer und Retter benötigt. Und auch Benjamines Körper selbst ist lesbar: Ihre Schönheit, ihre Tränen, ihr Zittern signalisieren Reinheit, Unschuld und Verletzlichkeit und verlangen nach einem Mann – und zwar einem Christen. Ohne ihn wird sie am Arm des alten Juden zugrunde gehen.

      Die ‚schöne Jüdin‘, das zeigt dieses kurze Beispiel, nimmt das ebenfalls um 1800 an Popularität gewinnende Konzept der ‚schönen Seele‘ in sich auf, das Friedrich SchillerSchiller, Friedrich 1793 in seiner philosophischen Schrift Über Anmut und Würde in Auseinandersetzung mit Immanuel Kants ästhetischen Schriften und vor ihm bereits Jacob Friedrich AbelAbel, Jacob Friedrich in seinem Werk Einleitung in die Seelenlehre von 1786 (1985) formuliert haben. Eingeschrieben in dieses Konzept ist die Lesbarkeit der ‚schönen Seele‘ anhand ihres Körpers. Äußere und innere Schönheit werden in ein Abhängigkeitsverhältnis zueinander gestellt, äußere Zeichen von Schönheit als Beweis von Tugendhaftigkeit gedeutet. In Heinrich von KleistsKleist, Heinrich von Lustspiel Der zerbrochene Krug von 1811 (2001), uraufgeführt bereits 1808, dient diese vermeintliche Lesbarkeit des Körpers sogar als Beweis vor Gericht.1 Und so wird auch der Körper der ‚schönen Jüdin‘ Benjamine im Handlungsverlauf immer wieder gelesen werden – durch den christlichen Mann, der schließlich ihr Retter wird (vgl. Kapitel 2.4), und durch den Leser selbst, der gleich zu Beginn die Tränen und die langen Wimpern der Jüdin als sichtbare Zeichen ihrer schönen Seele erkennt und unmittelbar begreift, dass sie zwar bei dem alten Juden keine Zukunft hat, dass sie ihn aber unter keinen Umständen verlassen kann.

      2.2.2 Der ‚edle Jude‘

      Der alte Rabbiner, der erste Jude in der dänischen Erzählliteratur überhaupt, betritt nicht als Nebenfigur die literarische Szene. Er ist im Gegenteil als tragende Figur gestaltet und sogar titelgebend für die Erzählung. Die Novelle beginnt direkt mit seiner Figurenrede:

      „Er din Forfølgelsesdag nu kommen igjen? fortabte, ulykkelige Israel!“ – sagde den gamle Rabbin Philip Moses og rystede sit hvide graaskæggede Hoved, da en Efteraarsaften 1819 Stenene fløi ind ad Vinduerne til ham, medens den hamborgske Pøbel raabte: „Hep! Hep!“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 99)

      „Ist der Tag deiner Verfolgung nun wieder gekommen? verlorenes, unglückliches Israel!“ – sagte der alte Rabbiner Philip Moses und schüttelte sein weißes, graubärtiges Haupt, als an einem Herbstabend 1819 die Steine durch die Fenster zu ihm flogen, während der hamburgische Pöbel „Hep! Hep!“ rief.

      Bereits mit diesen ersten Sätzen sind die wesentlichen Eigenschaften des Rabbiners skizziert. Seine Figurenrede und sein Äußeres kennzeichnen ihn als streng religiös, sein weißes Haar und der graue Bart markieren ihn als fromm und würdevoll, gleich einem biblischen Erzvater. Auch er ist also durch sein Äußeres lesbar, wenngleich unter seinen literarischen Vorgängern ihm keineswegs alle ähnlich sind. Anders als Benjamine, die mit wenigen Worten als ‚schöne Jüdin‘ erkennbar wird, gibt es für den ‚edlen Juden‘ Philip Moses nämlich verhältnismäßig wenig vergleichbare Vorbilder. Jüdische Männerfiguren waren in der Literatur bislang überwiegend mittels judenfeindlicher Stereotype gestaltet (vgl. Gutsche 2014; Schumacher 2000). Ihre prominentesten und literarisch produktivsten Vertreter sind jedoch zumindest ambivalent und verweisen immer auch auf die Christen, die den Juden gegenüber schuldig geworden sind, wie es IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle mit diesen ersten Sätzen gleich zu Beginn tut. So steht beispielsweise der Vater der schönen Rebecca, Isaac von York, in ScottsScott, Sir Walter Ivanhoe, der durch judenfeindliche Zuschreibungen charakterisiert ist, in der Tradition des äußerst ambivalenten ShylockShakespeare, William aus Shakespeares Kaufmann von Venedig [1598] (2014). Dessen „blutiger Handel ist die Folge endloser Kränkungen“ (Körte 2007: 63) und wird mit der Judenfeindschaft, die ihm als Juden allenthalben entgegenschlägt, nachvollziehbar gemacht, so dass „Shakespeares Jude manchmal sympathisch ist“ und „seine Christen es manchmal nicht sind“, wie David Nirenberg (2015: 279) in seiner Betrachtung des Dramas im Rahman seiner Monografie Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens anmerkt. Dennoch reichen diese Erfahrungen von Judenfeindschaft und Gewalt nicht aus, um Shylocks Handeln moralisch zu rechtfertigen und ihn als „gut“ erscheinen zu lassen. Als Vorbild für einen ‚edlen Juden‘ kann sich Ingemann fast ausschließlich auf die Figur des NathanLessing, Gotthold Ephraim in Lessings Drama Nathan der Weise [1779] (2000) beziehen, wobei auch er literarische Vorgänger hat.1 Von Lessings (2002) Hand selbst ist ein solcher Vorgänger der namenlose Jude in seinem Lustspiel Die Juden, das bereits 30 Jahre vorher, 1749, uraufgeführt wurde. Seinen ersten Auftritt in der deutschsprachigen Literatur hatte der ‚edle Jude‘ ein Jahr zuvor in Christian Fürchtegott GellertsGellert, Christian Fürchtegott Roman Leben