Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts


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      2.4.1 Erkennen

      Als sich Philip Moses augenscheinlich von seiner Krankheit erholt hat, möchte er das Haus der Christen verlassen und zurück in die jüdische Gemeinde kehren. Doch Benjamine ist nun gefangen zwischen der Loyalität zum alten Glauben/dem alten Mann und der Liebe zum neuen Glauben/dem jungen Mann. Wann immer Benjamine selbst spricht, das heißt ihr Sprechen im Text als Figurenrede markiert ist, sind es fast ausschließlich Worte, mit denen sie ihren Großvater schützt und verteidigt. So hat sie auch in diesem, ihrem eigenen, inneren Konflikt zunächst weder eine Stimme noch Handlungsmacht. Bei ihrer bevorstehenden Trennung ist es Veit, der erkennt und an ihrer Stelle ausspricht, dass sie ihn liebt:

      [D]a saae de unge Mennesker smertelig paa hinanden, og Taarerne styrtede dem begge af Øiene.

      „Ja, Benjamine! nu seer jeg det – du elsker mig, som jeg længe har elsket dig“ – sagde den unge Veit plutselig og greb hendes Haand, og førend Benjamine kunde besinde sig, laae de begge for de Gamles Fødder og bade om deres Velsignelse. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 118)

      Da sahen die jungen Menschen einander schmerzvoll an, und Tränen stürzten ihnen beiden aus den Augen.

      „Ja, Benjamine! Nun erkenne ich es – du liebst mich, wie ich dich lange schon geliebt habe“ – sagte der junge Veit plötzlich und griff ihre Hand, und ehe Benjamine sich besinnen konnte, lagen sie beide zu Füßen der Alten und baten um ihren Segen.

      Um mögliche Einwände des Rabbiners oder seines Vaters gleich zu entkräften fügt Veit hinzu: „Benjamine er Christen i Hjertet [Benjamine ist Christin im Herzen]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 118). Diese beiden entscheidenden Bekenntnisse kann Benjamine nicht selbst aussprechen, sie bedarf auch im Ausdruck ihrer intimsten Gefühle und Gedanken der Worte des jungen Christen. Erst in dem Moment, als sie sich zwischen Veit und Großvater, Christ und Jude, Herkunft und Zukunft entscheiden muss, spricht sie schließlich selbst und offenbart dem Großvater, indem sie seine Knie umfasst, „det var Christi Ord, jeg læste for dig [es waren Christi Worte, die ich für dich gelesen habe]“ (Ingemann 2007: 118). Doch ist dies kein Glaubensbekenntnis, sondern vielmehr ein Schuldgeständnis. Auf die tiefe Erschütterung des Alten kann Benjamine nur reagieren, indem sie ihm Gehorsam verspricht und ihm zurück in die jüdische Gemeinde folgt, wo für sie nur noch der Tod vorstellbar ist: „[T]ag mig med dig og lad mig døe i dine Arme! men fordøm mig ikke i min Dødsstund! hvad der er skeet i min Sjæl var den Høiestes Villie [Nimm mich mit und lass mich in deinen Armen sterben! aber verfluche mich nicht in meiner Todesstunde! Was in meiner Seele geschehen ist, war der Wille des Höchsten]“ (Ingemann 2007: 119). Und doch gibt es für Benjamine kein Zurück zum Judentum, denn sie ist bereits übergetreten, in die Sphäre des christlichen Mannes.

      Veit stellt eine Ausnahme unter den Hamburger Christen dar. Als Maler ist er kürzlich aus der deutschen Künstlerkolonie in Rom zurückgekehrt. Die Stadt Rom ist vielfältig symbolisch aufgeladen: als religiöser und kultureller Gegenpol zur Stadt Jerusalem, als Sehnsuchtsort dänischer und deutscher Literaten und Künstler im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert und darüber hinaus auch ganz konkret als Ort, an dem die sogenannten Nazarener wirkten und arbeiteten. Diese Künstlergruppe orientierte sich stilistisch an der Malerei der italienischen Renaissance und stellte vor allem religiöse Motive in den Mittelpunkt ihres Kunstschaffens. Äußerlich ähnelt Veit selbst einem Renaissancegemälde, denn er ist gekleidet „i gammeltydsk Dragt og med lange gule Lokker om den hvide Krave [in altdeutscher Tracht und mit langen goldenen Locken über dem weißen Kragen]“, wie es in Rom „almindelig blandt Konstnerne [üblich unter den Künstlern“] ist (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 112). Veit, dessen Berufung das Malen ist, ist derjenige, der sehen und das Gesehene in ein Kunstwerk umsetzen kann. Diese Fähigkeit zu sehen zeigt sich bereits, als er als einziger der Hausgäste im Hause Isaaks den alten Juden in seiner Ecke wahrnimmt und sich ihm gegenüber angemessen respektvoll zeigt. Es drückt sich aus, indem er Benjamines Gefühlsregungen erkennt und körpersemiotisch liest, ohne dass sie sie formulieren muss (oder darf oder kann). Am deutlichsten zeigt es sich aber, als Benjamine am Krankenbett ihres Großvaters sitzt und Veit sie und ihren Großvater malt:

      Tidt, naar Benjamine havde læst den Gamle til Ro og sad stille med den hellige Bog i sin Haand ved hans Leie, medens han slumrede, og det herlige Oldingsaasyn smilede beroliget til hende i Drømme – sad Veit med sin Pensel ligefor dem og afbildede dem begge. For Benjamines Sjæl gik et underfuldt Lys op ved hvad hun læste for den Gamle og hvad hun talede med den fromme Maler om den hellige Bog, som indeholdt Kilderne baade til hendes og til hans forskjellige Troesbekjendelse. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 116)

      Oft, wenn Benjamine den Alten durch ihr Lesen zur Ruhe gebracht hatte und still mit dem heiligen Buch in der Hand an seinem Lager saß, während er schlummerte und das herrliche Greisengesicht ihr im Traum beruhigt zulächelte – saß Veit mit seinem Pinsel gleich vor ihnen und bildete sie beide ab. Vor Benjamines Seele ging ein wundervolles Licht auf durch das, was sie dem Alten vorlas und was sie mit dem frommen Maler über das heilige Buch sprach, das die Quellen ihrer beider unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse enthielt.

      Die Quellen ihres eigenen Glaubensbekenntnisses liegen gedruckt auf vielen Seiten in ihrer Hand und stellen seine Grundlage dar. Jedoch liest sie aus dem Neuen Testament vor. Die Worte durchdringen ihre Seele, und dies ist just der Moment, in dem Veit das Porträt von ihr anfertigt. Diese Szene ist der Schlüsselmoment, in dem Sehen und Gesehenwerden, Erkennen und Erkanntwerden kulminieren. Der an sich unfassbare und unkörperliche Moment der religiösen Erleuchtung wird durch den Künstler auf Leinwand festgehalten, sichtbar gemacht, in Materie gefasst. So wiederum lässt sich die Szene literarisch fassen und erzählen, indem erzählt wird, was der Maler sieht. Doppelt festgehalten, in Öl auf Leinwand und in Druckerschwärze auf Papier, gefasst in den Holzrahmen der Leinwand und in den Einband der Novelle, gelingt es dem Künstler – dem Maler Veit ebenso wie dem Autor IngemannIngemann, Bernhard Severin –, den Moment göttlicher Erweckung festzuhalten und nachvollziehbar zu machen. Gemeinsam mit Veit und dem Erzähler betrachtet der Leser Benjamines Erweckung. Benjamine selbst wiederum zeigt kein Bewusstsein gegenüber diesem Gesehenwerden, reagiert nicht aufs Gemaltwerden. Sie ist ganz erfüllt von Gottes Wort und dem Heiligen Geist, der sie in diesem Moment durchdringt. Es ist eine intime Situation, die bei aller räumlichen Distanz, die zwischen dem Malenden und der Gemalten besteht, auch erotisch konnotiert ist. Benjamine gibt sich Veits Blick hin, sie empfängt, was Veit ihr anbietet: erst die Zeichenstunden, nun den geschützten Raum und die christliche Bibel – und gibt sich vertrauensvoll in seine Hände. So treibt Veit ihre Entwicklung voran und kann sie dabei in Ruhe betrachten und seinen Blick in Benjamines Seele für immer auf Leinwand festhalten.

      Gänzlich außerhalb dieses Moments des Sehens und Erkennens, den Veit auf seinem Porträt archiviert, befindet sich der alte Rabbiner, der im Fieberschlaf weder die entflammende Liebe zwischen Veit und Benjamine wahrnehmen noch die Worte, die Benjamine ihm aus dem Neuen Testament vorliest, verstehen kann. Auch ihn porträtiert Veit, und auch Philip Moses ist sich des Porträtiertwerdens nicht bewusst, doch liegt das nicht am Zustand der seelischen Entrückung, sondern am Fieberschlaf, in dem sich bereits sein naher Tod ankündigt. Veit jedoch ist in der Lage, auch Philip Moses in die Seele zu blicken. Denn dies ist, so legt es der Text nahe, die vornehmste Fähigkeit des Künstlers: das wahre Wesen der Welt zu erkennen und darzustellen. Veit sieht, dass die Worte des Evangeliums auch auf den schlafenden Juden beruhigende Wirkung haben, sieht, wie sie aus dem verzweifelten Hiob einen aufgerichteten Simeon1 machen. Er erkennt damit mehr, als es Philip Moses selbst in diesem Moment vermag, und so nimmt der Pinsel des Künstlers den Ausgang der Novelle und die Hinwendung des Juden zum Christentum prophetisch vorweg. Die jüdischen Figuren dienen als poetischer Nährboden für die literarische Darstellung des Künstlers und die literarische Reflexion über Kunst. Die Novelle schreibt sich damit deutlich in den kunstreligiösen Diskurs der deutschen Romantik ein, den Hartwich folgendermaßen beschreibt:

      Die romantische Weltanschauung baut einen polemischen Gegensatz zwischen dem göttlich begabten Künstler und den das Weltliche vergötzenden Philistern und Juden auf. Die kunstreligiöse Frontstellung wird aber immer wieder in Bildern