Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts


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[…] Sara vaagede, pleiede, arbeidede, mild og from, en Velsignelse i det fattige Huus. (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 125–126)

      Sie war die Hilfe in der Not und hielt das Ganze zusammen; sie arbeitete bis in die Nacht hinein, schaffte Brot ins Haus durch ihrer Hände Tat, Sara wachte, pflegte, arbeitete, mild und fromm, ein Segen in dem armen Haus.

      Als die alte Frau sie bittet, Sara möge ihr aus der Bibel vorlesen – womit sie das Neue Testament meint – gerät Sara, die sich all die Jahre an das Gelübde gehalten und niemals mehr in die christliche Bibel geschaut hat, in Gewissensnot, ist jedoch durch den Wunsch der Kranken moralisch legitimiert, im Dienste der Nächstenliebe wieder aus den Evangelien zu lesen. Innerlich zerrissen gelobt sie im Stillen ihrer Mutter:

      „Moder, dit Barn skal ikke tage de Christnes Daab, ikke nævnes i deres Samfund, det har Du forlangt, det skal jeg bevare Dig, derom ere vi enige paa denne Jord, men ovenover denne er – er Enigheden større i Gud, ‚han ledsager os over Døden‘ – ‚han besøger Jorden, og naar han har gjort den tørstig, gjør han den meget rig!‘ jeg forstaaer det! selv veed jeg ikke, hvorlunde det kom –! det er ved ham, i ham: Christus!“ (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 126)

      „Mutter, dein Kind soll nicht die Taufe der Christen erhalten, nicht zu ihrer Gemeinschaft zählen, das hast du verlangt, das verspreche ich dir, darüber sind wir uns einig auf dieser Welt, aber über diese hinaus ist – ist die Einigkeit in Gott größer, ‚er führt uns aus dem Tod‘ – ‚er besucht die Erde, und wenn er sie sehr dürstend gemacht hat, macht er sie sehr reich!‘ Ich verstehe das! Ich selbst weiß nicht, wie es kommt –! Es ist durch ihn, in ihm: Christus!“

      Als sie den heiligen Namen ausspricht, durchfährt sie – wie die Jünger zu Pfingsten (Apg 2, 1–4) – „en Daab af Ildslue [eine Taufe durch eine Feuerflamme]“ (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 126). Geschwächt von ihrer emotionalen Zerrissenheit bricht sie zusammen und wird ins Armenhaus gebracht, wo sie kurz darauf stirbt. Erlösung findet Sara – anders als Benjamine – nicht im Leben, sondern nur im Tod. Aber auch sie sitzt, wie Benjamine, am Bett einer kranken Person und liest aus dem Neuen Testament vor. Auch sie wird durch das gelesene Wort Gottes erfüllt vom Heiligen Geist. Doch bietet der Text durch das Gelübde, das sie nicht brechen kann, als Ausweg nur den Tod. Beigesetzt wird sie außerhalb der Friedhofsmauer, da sie als Jüdin nicht auf einem christlichen Friedhof ruhen darf. Sogar im Tod ist sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Als einziger Trost bleibt ihr nur dies:

      Og Guds Sol, der skinnede hen over de Christnes Grave, skinnede ogsaa hen over Jødepigens Grav derudenfor, og Psalmesangen, der lød paa de Christnes Kirkegaard, klang ud over hendes Grav; ogsaa ud til den naaede Forkyndelsen: „Der er Opstandelse i Christo!“ ham, Herren, som sagde til Disciplene: „Johannes døbte vel med Vand, men I skulle døbes med den Hellig-Aand!“ (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 126)

      Und Gottes Sonne, die über die Gräber der Christen hinwegschien, schien auch über das Grab des Judenmädchens draußen, und die Psalmen, die über den Friedhof der Christen schallten, klangen auch über ihr Grab hinweg; auch zu ihm gelangte die Verkündigung: „Die Auferstehung ist in Christus!“ er, der Herr, der zu den Jüngern sprach: „Johannes taufte mit Wasser, doch Ihr sollt getauft werden mit dem Heiligen Geist!“

      Mit seinem tragischen Ende steht das Märchen zwischen den Werken AndersensAndersen, Hans Christian nicht alleine da. Im Roman Kun en Spillemand, der 20 Jahre zuvor erschien, findet sich bereits das Motiv des jüdischen Grabes außerhalb der Friedhofsmauern, das am Ende des Romans noch einmal aufgenommen wird (vgl. Kapitel 7.8.3).2 Auch in seinem Roman At være eller ikke være, der zur selben Zeit wie Jødepigen entstand, wird am Ende eine junge Jüdin sterben, darauf beharrend, „dass es eine ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Tod gebe“ (Wennerscheid 2013: 71; vgl. auch Kapitel 8.2).

      Das Märchen Jødepigen hat in der Wissenschaft bisher kaum Beachtung gefunden. Das ist umso erstaunlicher, als AndersenAndersen, Hans Christian dieses Märchen selbst als eine seiner gelungensten Erzählungen beurteilt hat (vgl. Kirmmse 1991–1992: 62). Eine Ausnahme stellt der Historiker Bruce A. Kirmmse mit seinem Aufsatz Hans Christian og Jødepigen. En historisk undersøgelse af noget „underligt“ [Hans Christian und das Judenmädchen. Eine historische Untersuchung von etwas „Sonderbarem“] dar. Kirmmse fragt darin, warum Andersen trotz der „nedladende tolerance [herablassenden Toleranz]“ (1991–1992: 59), die in seinem Märchen zum Ausdruck kommt, in der dänisch-jüdischen Gemeinde so viele Freunde und Fürsprecher hatte. Die Funktion des jüdischen Mädchens in der Erzählung fasst er dabei ebenso knapp wie treffend zusammen:

      I den lille historie er jøden i alt væsentlig en tabula rasa, en ubeskreven side af „anderledeshed“, som bliver udfyldt og beskrevet af det herskende og omgivende samfunds fordomsfulle fantasi. Holdningen til jøder er således en slags projektionsteater, hvori samfundets frygt og forhåbninger om sig selv bliver afbildet. (Kirmmse 1991–1992: 60)

      In der kleinen Geschichte ist der Jude*die Jüdin3 im Wesentlichen eine tabula rasa, eine unbeschriebene Seite der „Andersheit“, die ausgefüllt und beschrieben wird von der vorurteilsvollen Fantasie der herrschenden und umgebenden Gesellschaft. Die Haltung gegenüber Juden ist somit eine Art Projektionstheater, in dem die Ängste und die Hoffnungen der Gesellschaft abgebildet werden.

      Kirmmses Befund gilt bei Weitem nicht nur für diese Erzählung, und eine der Fragen, die ich in meiner Arbeit untersuche, ist, womit und wie diese unbeschriebene Seite des Andersseins beschrieben wird. Bei der Lektüre von AndersensAndersen, Hans Christian Jødepigen stellt sich jedoch außerdem die Frage, was genau eigentlich das genuin Märchenhafte dieser Erzählung ist, denn der kleine Text wird in aller Regel als Märchen rezipiert.4 Was macht das Märchen zum Märchen oder auf Dänisch: das Eventyr zum Eventyr?5 Ist es möglicherweise allein die jüdische Figur, die mit ihren Assoziationsräumen wundersam genug erscheint, um das Genre zu rechtfertigen? Um diese Frage beantworten zu können, lohnt der Blick zurück zu Den gamle Rabbin. Denn bereits in dieser Novelle sind märchenhafte Züge angelegt, die hier skizzenhaft und in aller Kürze dargestellt werden sollen und die zum Teil auch in Andersens Jødepigen Eingang finden. Einige Beispiele aus verschiedenen Märchen sollen zur Klärung beitragen.

      2.6 Märchenhafte Novelle

      Die Märchenbeispiele, die im Folgenden herangezogen werden, stammen sowohl aus der Sammlung von Kinder- und Hausmärchen der Brüder GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm (2010) als auch aus anderen Märchensammlungen, die über Landes- und Sprachgrenzen hinweg bekannt waren und rezipiert wurden. Sie sind teilweise als Volksmärchen ausgewiesen, teilweise als Kunstmärchen. Aus der Sammlungsgeschichte der Grimm’schen Märchen geht hervor, dass die Trennung zwischen Volks- und Kunstmärchen weniger eindeutig ist, als ihre Einteilung suggeriert. So haben die Grimms nicht nur mündliche Überlieferungen, sondern auch schriftlich überlieferte Texte in ihre Sammlung aufgenommen und ihrerseits wiederum literarisch in die Märchen ihrer Sammlung eingegriffen. Andererseits enthielt die 5. Auflage von 1843 eine mündliche Überlieferung des AndersenAndersen, Hans Christian-Märchens Prinsessen på ærten [Die Prinzessin auf der Erbse; 1835] (1990a), hier unter dem Namen Die Erbsenprobe. Als die eindeutige Autorschaft Andersens bekannt wurde, wurde das Märchen in der nächsten Auflage aus der Sammlung entfernt. Entscheidend war jedoch nicht die Struktur des Märchens, sondern die eindeutige Autorschaft, die dem Ansinnen der Grimms, eine Sammlung von Volksmärchen herauszugeben, widersprach (vgl. Rölleke 2004: 94–102). Dieses Beispiel veranschaulicht exemplarisch die Zirkulation der im 19.Jahrhundert extrem populären Märchen und Märchenmotive zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit und über Landes- und Sprachgrenzen hinweg, so dass im Folgenden zum großen Teil auf deutschsprachige Märchen Bezug genommen wird. Aufgrund der uneindeutigen Grenzziehung zwischen den Gattungen, soll für diese skizzenhafte Zusammenstellung auf eine strenge Differenzierung zwischen Kunst- und Volksmärchen verzichtet werden.

      IngemannsIngemann, Bernhard Severin Benjamine ist – wie AndersensAndersen, Hans Christian