Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts


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Verständnis der Romantik ist Veit als Künstler mit göttlichem Genie begabt. Benjamines und Philip Moses’ Weg ins Christentum ist an die Figur des Künstlers Veit gekoppelt. Doch auch umgekehrt sind Veits religiöser Weg und seine literarische Darstellung von den beiden jüdischen Figuren bestimmt. Veits Genie drückt sich in seiner Gabe zu sehen und zu schaffen aus, und für die literarische Darstellung dieses Genies bedarf es in dieser Novelle der beiden jüdischen Figuren. Veit sieht (= erkennt) Benjamine und Philip Moses und er erschafft Bildnisse von beiden, verdoppelt und bestärkt ihr Dasein in der Welt und wird auf diese Weise ihr Schöpfer.

      2.4.2 Erschaffen

      Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hat in seiner bahnbrechenden Untersuchung Außenseiter die Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen Außenseiter, zu denen Juden ebenso wie Frauen gehören, herausgestellt. Mayer zufolge sind Juden und Frauen (und als dritte Gruppe [männliche!] Homosexuelle) gleichermaßen „existenzielle[…] Außenseiter“, die „immer wieder insgeheim miteinander verbunden werden“ (Mayer 1981: 21; vgl. auch Braun 1992; Schnurbein 2006; Schößler 2009). Der Erzähler der Novelle Den gamle Rabbin nimmt einen dezidiert christlichen (und männlichen) Standpunkt ein und richtet den Blick von außen auf „die Juden“. Dabei kontrastiert er das romantisch-religiöse Idealbild „des Juden“ mit verschiedenen anderen jüdischen Lebensentwürfen, in denen die jüdischen Figuren den Weg der Säkularisierung gehen und sich von der althebräischen Mythologie entfernt haben. Der Text entwirft mit Philip Moses ein Bild vom perfekten (oder wünschenswerten) Juden, ebenso wie mit Benjamine ein Bild von der perfekten (oder wünschenswerten) Frau. Diese ist zwar aufgrund ihres Geschlechts und ihres Judentums gleich doppelt als Außenseiterin markiert, jedoch wird sie im Moment ihres innerlichen Glaubensübertritts porträtiert, das heißt, dass sie ihr Jüdischsein im Moment des Gemaltwerdens überwindet. Die literarischen Bilder werden durch die Gemälde Veits verdoppelt, und die Novelle verweist so auf ihren eigenen Verfasser, der als Autor ebenfalls ein Künstler ist. Er entwirft das Bild eines ‚edlen Juden‘, einer ‚schönen Jüdin‘ und eines christlichen Künstlers, der wiederum das Bild dieses ‚edlen Juden‘ und dieser ‚schönen Jüdin‘ malt. Wie der Maler Gemälde herstellt, produziert auch der Text, beziehungsweise dessen Autor, literarische Bilder. Die Bilder des Malers bilden das Innerste der beiden jüdischen Figuren ab und stellen diese Bilder im Text zur selben Zeit erst her. Die fiktive Leinwand wird zur Projektionsfläche des Malers und zugleich des Autors.

      Als Veit nach der vorläufigen Trennung von Benjamine nach Rom abzureisen plant, legt er seinem Gepäck die beiden Porträts bei:

      To uforglemmelige Billeder vare fremtraadte i hans liv, som hans Skjæbnes underfulde dobbelte Herolder; de vare de kjæreste og kostbarste Klenoder, han havde pakket ind for at medtage, og de vare den skjønne Benjamines og den gamle Philip Moses’s Portraiter. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 121)

      Zwei unvergessliche Bilder waren in sein Leben getreten, als die wunderbaren doppelten Herolde seines Schicksals; sie waren die liebsten und kostbarsten Kleinode, die er zum Mitnehmen eingepackt hatte, und dies waren die Porträts der schönen Benjamine und des alten Philip Moses.

      Obwohl die Bilder also „unvergesslich“ sind, sind sie doch erst durch den Akt des Malens entstanden und unvergesslich geworden. In ihnen ist die Vergangenheit als Grundlage des eigenen, christlichen Glaubens archiviert: das Judentum in Gestalt des Philip Moses, dessen Glaubenskonzept als längst vergangen und überholt markiert wird. In Benjamines Porträt ist jedoch der Moment archiviert, in dem sie selbst ihre eigene religiöse Vergangenheit hinter sich lässt und sich innerlich dem Neuen zuwendet. Diese Bilder sind zugleich Projektionen des Künstlers, die zeigen, wie er Benjamine und Philip Moses sieht und deren Jüdischsein interpretiert. In der Thematisierung des Kunstschaffensprozesses selbst reflektiert der Text den Herstellungsprozess derjenigen Bilder und Projektionen, die er selbst verwendet und (re-) produziert.

      Der Künstler nimmt also nicht allein die Gemälde mit in sein Reisegepäck, sondern gewissermaßen einen Teil der Abgebildeten selbst. Der Kunstkritiker, Schriftsteller und Maler John Berger, der 1972 das englische Fernsehpublikum mit seiner BBC-Reihe Ways of Seeing das Sehen lehrte, schreibt in seinem kurz darauf erschienenen gleichnamigen Essay-Band Ways of Seeing [1972], der als Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt 1974 ins Deutsch übersetzt wurde, über die Ölmalerei zwischen 1500 und 1900:

      Auf Gemälden werden häufig Gegenstände dargestellt, die man erwerben kann. Hat man einen Gegenstand gemalt und auf eine Leinwand gebracht, ist das nicht anders, als habe man ihn gekauft und mit nach Haus genommen. Kauft man nämlich ein Gemälde, kauft man auch das Aussehen des Gegenstands, den es abbildet. (Berger 2016: 78)

      Nun sind Benjamine und Philip Moses keine Gegenstände, die Veit besitzen könnte, er muss sie auch nicht kaufen, sondern hat die Gemälde für sich selbst gemalt. Nichtsdestotrotz befinden sie sich in seinen Besitz. Berger hat radikal aufgezeigt, wie Frauen in der bildenden Kunst traditionell die Funktion eines Objekts zukommt, das durch die Darstellung auf dem Gemälde zum Besitz des Künstlers oder Kunstsammlers wird:

      Auf der einen Seite der Individualismus eines Künstlers, Philosophen, Gönners und Kunstbesitzers, auf der anderen das wie eine Sache oder eine Abstraktion behandelte Objekt ihrer Aktivitäten – die Frau. (Berger 2016: 59)

      Zwar bezieht sich Berger mit diesem Befund vornehmlich auf die Aktmalerei. Dennoch befinden sich die beiden Gemälde als „Kleinode“, also als Schmuckstücke, als schmückende Objekte, in Veits Besitz. Veit eignet sich durch das Malen und das Besitzen der beiden Porträts nicht nur Benjamine, sondern auch Philip Moses an. Zeigt die Tatsache, dass er nicht nur die von ihm geliebte Benjamine porträtiert hat, sondern auch Philip Moses, auf der einen Seite den Respekt und die Achtung an, die Veit dem alten Juden entgegenbringt, so macht dessen Porträt in Veits Besitz auch deutlich, dass nicht nur Benjamine als Frau und ‚schöne Jüdin‘ Objektcharakter hat, sondern auch Philip Moses als Jude. Dagegen mag sich einwenden lassen, dass das Bild eines geliebten Menschen mehr darstellt als ein Objekt, das einfach nur besessen wird. Es ist vielmehr ein kostbares Erinnerungsstück, ein Trost für das sich sehnende Herz. Trotzdem ist der Blick auf das Machtverhältnis zwischen Sehendem (christlicher Mann/Künstler) und Gesehenen (Frau/Jüdin und Jude), zwischen Aktivität und Passivität, zwischen dem Schaffendem und den beiden Abgebildeten aus dieser Perspektive fruchtbar. Denn mit ihrer Hilfe lässt sich aufzeigen, dass die Blickrichtung, mit der der Text auf die Frau sieht, derjenigen ähnlich ist, mit der er auf den Juden sieht, nämlich durch die Augen des christlichen Mannes, der sich sowohl von der Frau und Jüdin als auch vom Juden ein Bild macht und dieses Bild über seine Kunst weiterverbreitet. Als christlicher Mann hat Veit die Deutungsmacht sowohl über die Frau als auch über den Juden. Als Jüdin und Frau, also als zweifache Außenseiterin im Sinne Mayers (vgl. 1981: 33–41), bietet Benjamine eine doppelte Projektionsfläche für Zuschreibungen durch den christlichen Mann. Als gottbegnadeter Künstler stellt aber auch Veit einen Außenseiter der Gesellschaft dar, der sich durch seine äußere Erscheinung ebenso wie durch sein inneres Wesen von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. So vermag er als Einziger die Liebe der schönen Benjamine zu gewinnen und schließlich sogar den strengen Philipp Moses für sich einzunehmen und beide als ihr Retter auf eine höhere Glaubensstufe zu führen.

      Anders als beispielsweise in der Zauberflöte (1791) von Wolfgang Amadeus MozartMozart, Wolfgang Amadeus (und Emanuel Schikaneder, der das Libretto zur Oper schrieb), um das vielleicht prominenteste Beispiel zu wählen, oder in LessingsLessing, Gotthold Ephraim (2001) bürgerlichem Trauerspiel Emilia Galotti (1772), um ein Beispiel mit fatalen Folgen für die Porträtierte zu nennen,1 verliebt sich hier der junge Mann nicht in das bereits vorhandene Porträt einer schönen Frau, sondern fertigt das Bildnis im Handlungsverlauf selber erst an. Es wird auch folgerichtig gar nicht beschrieben, da Erscheinung und Aussehen Benjamines bereits zuvor aus der Perspektive des Künstlers (Malers/Autors) geschildert werden. Gleichzeitig ermöglicht das Auge des fiktiven Malers zu beschreiben, was nur ein Künstler zu sehen und zu begreifen in der Lage ist – nämlich den Moment, in dem Benjamine vom Heiligen Geist ergriffen wird und auch Philip Moses ihn in seiner Seele schon spürt, obwohl sein Verstand ihn noch nicht begriffen hat.

      Einmal