Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts


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Leidenschaft zwischen den Ruinen des alten Rom begraben]“ (Ingemann 2007: 121). Nur aus der Verbindung zwischen dem christlichen Künstler und der jüdischen Frau kann ein neues religiöses Ideal erwachsen. Was einer der reichen Freunde des Juwelenhändlers Samuel als pragmatische Lösung gegen die Ausgrenzung der Juden vorgeschlagen hat, dass nämlich die Frauen und Töchter der Juden sich zugeneigt und willig gegenüber den Söhnen der Christen zeigen sollen, wird hier in der veredelten Form vollzogen: mit Achtung vor der alten Religion und innerlicher Hingabe an die neue Religion, mit Liebe zur Vergangenheit, aber unbedingtem Verlangen nach der Zukunft. Die imaginierte Szene im Hause Samuels stellt das säkulare Zerrbild der Vereinigung zwischen Judentum und Christentum dar. Die Szene am Grabe des alten Rabbiners ist ihr religiöses Idealbild.

      Die idealisierte Vereinigung zwischen Judentum und Christentum ist bereits in den Namen Philip Moses selbst eingeschrieben. Moses lässt sich selbstredend als Name erkennen, der den Ursprung des Judentums und dessen ersten Propheten repräsentiert. Philip – oder Philippus – jedoch ist der Name eines der Jünger Jesu, der Gott in Jesus zunächst nicht zu erkennen vermag und daher um einen Beweis bittet:

      Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns. Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater. Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater? Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? (Joh. 14,8–11)2

      Der Name des alten Rabbiners ist also selbst Prophezeiung und nimmt seine späte Erkenntnis des christlichen und somit „richtigen“ Glaubens vorweg. Zugleich macht bereits der Name der Figur deutlich, dass es sich nicht um die realistische Darstellung eines jüdischen Rabbiners und um die Auseinandersetzung mit dem Judentum handelt, sondern dass die Figur von vornherein einzig darauf angelegt ist, im Christentum die Wahrheit zu erkennen. Dass die Namen der Figuren keineswegs zufällig sind, sondern im Gegenteil besondere Beachtung verdienen, darauf macht der Text selbst aufmerksam, wenn Benjamine ihrem Großvater in Aussicht stellt, er könne den kleinen Kindern von Isaak die Geschichten erzählen „om Joseph og hans Brødre og om den lille Benjamin, min Navne, ligesom du lærte mig hos Moder Rachel, da jeg var lille [von Joseph und seinen Brüdern und von dem kleinen Benjamin, meinem Namensvetter, wie du es mich bei Mutter Rachel gelehrt hast, als ich klein war]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 107). Benjamin war der liebste Sohn Jakobs, der jüngste Nachkomme des letzten Patriarchen. Die Figur der Benjamine gibt also selbst eine Anleitung zum Textverständnis. Sie ist die letzte Nachfahrin des Rabbiners. Zwar hat er jüngere Enkelkinder, doch haben die sich bereits von der jüdischen Tradition entfernt. Sein geistiges Erbe tritt allein Benjamine an. Sie nun überführt dieses Erbe direkt ins Christentum. Und sie ist eben kein Benjamin, sondern eine Benjamine und kann sich als jüdische Frau mit einem Christen vermählen und das Judentum überwinden. Auch der Christ trägt einen sprechenden Namen. Zwar sind Herkunft und Bedeutung des Namens Veit sprachwissenschaftlich nicht eindeutig geklärt, doch lässt sich ‚Veit‘ unter anderem als Ableitung des lateinischen Vitus von Vita – Leben – lesen (vgl. Torsy/Kracht 2002: 184).3

      Der Text belässt es nicht bei der Szene am frischen Grab des alten Rabbiners, sondern besiegelt das Ideal der religiösen Transformation mit einem Schlussbild. Ein Jahr später steht das junge Paar frisch verheiratet wieder auf dem Friedhof und reicht sich die Hände über den Grabstein des Rabbiners hinweg, „hvorunder den gamle Philip Moses stod opreist, med det blege ærværdige Aasyn imod Østen [unter welchem der alte Philip Moses aufgerichtet stand, das blasse ehrwürdige Angesicht gen Osten gerichtet]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122). Das Perlmuttkreuz an ihr Herz gedrückt spricht Benjamine, die im ersten Teil der Novelle, als Jüdin, noch so oft sprachlos war, nun, als Christin, die abschließenden Worte:

      „Nu har han seet det store Østens Lys“ – sagde hun glad – „det lyste alt her med den sidste Morgenrøde i hans bristende Øie, og han stirrer nu ikke forgieves efter det i Graven. Det lyser over Gruset af Guds hellige Stad – og i dets Herligheds Glands skulle alle Slægter paa Jørden velsignes.“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122)

      „Nun hat er das große Licht des Ostens gesehen“ – sagte sie glücklich – „es leuchtete mit der letzten Morgenröte bis hierher in seine brechenden Augen, und er muss nun nicht vergeblich im Grabe danach starren. Es leuchtet über den Erdboden von Gottes heiliger Stätte – und im Glanz seiner Herrlichkeit sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.“

      Der Rabbiner in seiner Frömmigkeit und seiner überformt althebräischen Figurengestaltung ist sowohl die Grundlage für diese Ehe als auch das Hindernis, das überwunden werden musste. Seine Glaubenstransformation wiederum ist erst durch die Eheschließung seiner Enkelin mit dem jungen Christen abgeschlossen. Mit Benjamines nunmehr hörbarer Stimme wird dieser Wandel bezeugt. Erst mit der Ehe seiner Enkelin erhebt sich der Körper des alten Rabbiners zur Auferstehung in Jesus Christus. Dieses Schlussbild verdeutlicht gerade in seiner – nach heutigen Maßstäben – skurril anmutenden Überzogenheit, dass die bürgerliche Ehe integraler Bestandteil des romantischen, philosemitischen Bekehrungsdiskurses ist. Als Alternative zur Ehe scheint allein der Tod vorstellbar, das gilt für Benjamine, und das gilt ebenso für die Jüdin, um die es im folgenden Exkurs geht.

      2.5 Exkurs I: Hans Christian Andersen: Jødepigen (1855)

      IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle Den gamle Rabbin lässt sich in ihrer Funktionsweise weiter erhellen, wenn man sie mit einem deutlich später verfassten Text des eine Generation jüngeren Hans Christian AndersenAndersen, Hans Christian in Beziehung setzt, dem Märchen Jødepigen [Das Judenmädchen], das 1855 veröffentlicht wurde. Die inhaltlichen Parallelen zwischen den beiden Erzählungen sind frappierend. In Andersens Jødepigen wird das jüdische Mädchen Sara bereits im Schulkindalter mit den Schriften des Neuen Testaments vertraut gemacht. Als einziges jüdisches Kind an seiner Schule folgt es aufmerksam dem christlichen Religionsunterricht, an dem es jedoch gar nicht teilnehmen darf, sondern stattdessen seine Schulaufgaben erledigen sollte. Doch bemerkt der Lehrer bald das ungewöhnliche Interesse des Mädchens, das „med sine sorte straalende Øine [mit seinen schwarzen leuchtenden Augen]“ dem Unterricht lauscht, „og da han spurgte ogsaa hende, vidste hun bedre Besked end Alle de Andre. Hun havde hørt, forstaaet og gjemt [und als er auch sie fragte, wusste sie besser Bescheid als all die anderen. Sie hatte gehört, verstanden und es behalten]“ (Andersen 2007a: 123). Der Lehrer stellt ihren Vater vor die Wahl, Sara entweder von der Schule zu nehmen oder taufen zu lassen und sagt zur Begründung: „Jeg kan ikke udholde at see disse brændende Øine, den Inderlighed og ligesom Sjæletørst efter Evangeliets Ord! [Ich kann es nicht ertragen, diese brennenden Augen zu sehen, diese Innigkeit und gleichsam diesen Seelendurst nach den Worten des Evangeliums!]“ (Andersen 2007a: 123). So entscheidet Saras Vater, sie von der Schule zu nehmen, denn er hat einst ihrer sterbenden Mutter am Totenbett das Versprechen gegeben, dafür Sorge zu tragen, dass Sara niemals den Glauben ihrer Väter verlassen werde. Dieses Versprechen sei ihm „som en Pagt med Gud [wie ein Pakt mit Gott]“ (Andersen 2007a: 123). Im Gegensatz zu Philip Moses und vielen weiteren jüdischen Männerfiguren, die in dieser Arbeit untersucht werden, stellt er selbst keinen Patriarchen dar, sondern steht der religiösen Entwicklung seiner Tochter vielmehr mit einer gewissen toleranten Indifferenz gegenüber, sieht sich jedoch durch sein Gelübde verpflichtet, die weitere Auseinandersetzung seiner Tochter mit dem Christentum zu verhindern. Die verstorbene Mutter nimmt hier die Funktion gegenüber Sara ein, die der alte Großvater gegenüber Benjamine hat. Doch im Gegensatz zum Rabbiner, der auf dem Sterbebett den Heiligen Geist empfängt und so seiner Enkelin gewissermaßen posthum den Segen zur Taufe und zur Ehe mit einem Christen geben kann, ist diese jüdische Mutter schon lange tot, ihre Rolle als religiöse Kontinuitätsgarantin damit unveränderlich festgeschrieben.1 Wo die Begegnung des alten Patriarchen Philip Moses mit dem Heiligen Geist die Erlösung für seine Enkelin Benjamine bringt, bleibt dieses Ereignis in der Mutter-Tochter-Konstellation dieser Erzählung unmöglich, und auch der Vater ist durch die Dominanz der toten Mutter und der Unwiderrufbarkeit ihrer letzten Wunsches handlungsunfähig. So findet diese Erzählung kein glückliches Ende. Sara wird ein Dienstmädchen im Haus einer christlichen Familie. Fleißig, still und fromm verrichtet sie ihren Dienst über Jahre, und auch als der Hausherr stirbt und die Hausdame