Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts


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Schatten zum Pfand].“ Zwar fährt es dem Dichter „iiskoldt gjennem Marv og Been“ [eiskalt durch Mark und Bein]“, doch geht er den Handel ein, denn „hvad gjør ikke en Forfatter for sin Læsers Skyld [was tut ein Autor nicht alles für seine Leser]“ (Andersen 1986: 70). Obwohl Ahasverus also eigentlich sehr entgegenkommend ist und lediglich sicherstellen will, dass er seine Stiefel nicht noch einmal verliert, wird er nicht etwa mit Peter Schlemihl assoziiert, sondern vielmehr mit dem Teufel, dem Peter Schlemihl einst seinen Schatten verkauft hatte. Als „Antipode zu Christus“ (Körte 2006: 46) schillert in der Figur des Ahasverus das Böse, wenngleich Andersens ‚ewiger Jude‘ nichts Böses an sich hat.

      Zwar tritt die Figur des Ahasverus nur in einem Kapitel des Romans auf, stellt eine Begegnung unter vielen dar, doch soll dieses Kapitel „det interessanteste Capitel i hele min Fodreise [das interessanteste Kapitel meiner ganzen Fußreise]“ sein (AndersenAndersen, Hans Christian 1986: 69). Die Figur des Ahasverus eröffnet literarische Assoziationsräume, welche die Figur des Dichters durchschreitet – was ihm deutlich besser gelingt als seine halbstündige Europareise, während der er jeweils nur ein Bein aus Amager wegbewegt und mit dem anderen stets ungünstig irgendwo auftritt. So glückt zwar weder die Identifikation des Dichters mit Ahasverus noch mit „min store Forgjænger i Fodvandring [meinem großen Vorgänger im Wandern zu Fuße]“ (Andersen 1986: 70) Peter Schlemihl. Geglückt ist jedoch ein weiteres komisches Kapitel in einem Büchlein über die Bemühungen des Dichters auf der Suche nach neuem literarischem Stoff. Der Dichter nimmt die Inspiration in der Länge eines halben Kapitels auf und zieht weiter, zur nächsten Begegnung. Der Jude hingegen setzt seine ereignislose Wanderung fort. Auf die Frage des Dichters, ob sie einander wohl wiedersehen werden, antwortet Ahasverus: „[V]i mødes nok, om ikke før, saa naar De gjør den sidste store Reise med Dødens Extra-Post. Hver nat møde vi hinanden, thi hans Heste er raskere tilbeens end jeg [Wir treffen uns noch, wenn nicht früher, so doch wenn Sie die letzte große Reise mit des Todes Extra-Post machen. Jede Nacht treffen wir einander, denn seine Pferde sind schneller zu Fuß als ich]“ (Andersen 1986: 71). Der untote Wanderer, der selbst keine Aussicht auf den Tod hat, wird zum Vorboten des Todes, dem der Dichter im 13. und (fast) letzten Kapitel5 selbst begegnet, in dessen Wagen er jedoch einstweilen noch nicht einsteigt.

      Mona Körte stellt die Entwicklungslosigkeit der Figur heraus, wenn sie schreibt, Ahasverus „scheint Raum nur zu gewähren für ein unendliches Durchspielen einer endlichen Variation von Vergehen, Fluch und Wanderschaft.“ Daraus sei auch der Kunstgriff zu erklären, „dass Ahasver sich kurz nach Beginn seiner literarischen Karriere selbst mitunter als mehr oder weniger gelungenes Geschöpf seiner Dichter thematisiert“ (Körte 2006: 49). AndersensAndersen, Hans Christian Roman Fodreise steht exemplarisch für diesen Kunstgriff. 1847 taucht die Figur erneut in Andersens Dichtung auf, nämlich in seinem umfangreichen (und zunächst auf Deutsch erschienenen) Versdrama Ahasverus. Die Leichtigkeit und der Humor der ersten Begegnung mit der Figur des Ahasverus sind nun zwar verschwunden, aber Johan de Mylius versteht auch diesen Ahasverus als eine Allegorie auf den Dichter (vgl. de Mylius 2005a: 722). Doch ist dies nicht die einzig mögliche Lesart der Figur. Stefanie von Schnurbein zufolge stellt Andersen in seinem Versdrama „an der Figur des ‚wandernden Juden‘ eine allegorisierte Darstellung der Wahrheit des christlichen Glaubens auf ihrem Weg durch die Geschichte der Menschheit“ dar (Schnurbein 2007: 139). Dieser Wahrheit beugt sich schließlich auch IngemannsIngemann, Bernhard Severin Rabbiner Philip Moses, und so ist auch seine Enkelin vom Fluch des Ahasverus befreit.

      2.9 Jüdische Figuren als Türöffner und Alleskönner

      Mit diesem Arsenal an Figuren, Topoi, Assoziationen und literarischen Querverbindungen haben jüdische Figuren die dänische Erzählliteratur betreten: eine ‚schöne Jüdin‘ und ein ‚edler Jude‘, dazu ein christlicher Retter und künstlerischer Schöpfer; Ahasverus als literarischer Alleskönner und Allesverbinder, als unerschöpflicher Ideengeber für die Gestaltung literarischer Judenfiguren und als Bindeglied zwischen christlichem Heilsgeschehen und dem sich neu erfindenden Dichter als kunstreligiösem Erlöser; literarische Juden und Jüdinnen als Türöffner für unwahrscheinliche, bisweilen märchenhafte Erzählmöglichkeiten; jüdische Gegenfiguren zur Kontrastierung der „guten“ mit den „schlechten“ Juden aber auch christliche Gegenfiguren zur Kontrastierung des „wahren“ mit dem „falschen“ Christentum; nicht zuletzt ist die Verbindung zwischen Geschlecht und Religion augenfällig in diesem Fadenspiel aus Aktivität und Passivität, Sehen und Gesehenwerden, Erlösen und Erlöstwerden, Vergehen und Werden, Alt und Neu.

      In diesem ersten, einleitenden Analysekapitel habe ich gezeigt, auf welche Weise literarische Texte untereinander und mit anderen Kunstformen über Epochen, Genres und Landesgrenzen hinweg in Kontakt treten und welche Vielfalt an mitunter unerwarteten Verknüpfungen und Querverbindungen die jüdischen Figuren hierbei ermöglichen. Anhand von IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle Den gamle Rabbin wurden, ergänzt durch den Vergleich mit zwei sehr unterschiedlichen Texten von AndersenAndersen, Hans Christian, literarische Topoi und Motive vorgestellt, die in den untersuchten Texten der folgenden Kapitel immer wieder aufgenommen, variiert, modifiziert und teilweise gebrochen werden. Unwahrscheinliches und Phantastisches wird in den Romanen und Novellen erzählt, immer wieder geht es um die Suche nach Gott und der Wahrheit, aber auch um eine nationale Selbstfindung, um eine gesellschaftspolitische Positionierung, um Geschlechterbilder und nicht zuletzt immer wieder um die Kunst selbst. Wenngleich Ingemanns jüdische Figuren nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern sich bereits in eine literarische Tradition einschreiben, legt Den gamle Rabbin doch eine Grundlage für die Vielzahl der dänischen Erzähltexte, die in den folgenden Jahren erscheinen.

      Ein Spukschloss, zwei holländische Juden, drei geheimnisvolle Porträts. Ein altes Tagebuch, das von der Liebesgeschichte zwischen einer Jüdin und einem Christen erzählt, eingemauert im Keller des Schlosses, entdeckt und exklusiv präsentiert vom Autor der Novelle selbst. So lassen sich die Eckdaten der Novelle Jøderne paa Hald [Die Juden auf Hald; 1828] von Steen Steensen BlicherBlicher, Steen Steensen (1782–1848) umreißen. Der Text ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und verdient eine eingehende Betrachtung, die er in der Blicherforschung bisher nicht erhalten hat.1 Zum einen gehört er zu den ersten dänischen Erzähltexten, in denen jüdische Figuren überhaupt auftauchen, zum anderen erscheint er bisweilen irritierend unlogisch, was, wie ich zeigen möchte, weniger auf einen Mangel an Qualität zurückzuführen ist2 – Blicher gilt heute gerade aufgrund seiner literarischen Virtuosität und seines kunstvollen, bisweilen unzuverlässigen Erzählstils als herausragender Autor seiner Zeit (vgl. Müller-Wille 2016: 163–164).3 Vielmehr sind die vermeintlichen Schwächen in der Logik des Textes im Zusammenhang mit den jüdischen Figuren zu verstehen. Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie sich die Novelle mit dem zeitgenössischen Diskurs über Juden und Jüdinnen auseinandersetzt, Stereotype aufgreift und modifiziert und dadurch ihrerseits den Diskurs mitgestaltet. Zunächst jedoch soll der Entstehungskontext der Novelle skizziert werden.

      3.1 Blichers Juden in Jütland

      BlicherBlicher, Steen Steensen gilt als derjenige dänische Autor, der die Landschaften Jütlands und deren Bewohner auf die literarische Agenda des kulturellen Zentrums Kopenhagen gesetzt hat. Der Blick der Intellektuellen, Gebildeten und Kulturschaffenden der Hauptstadt richtete sich bis dato kaum auf Orte und Landschaften außerhalb Kopenhagens und dessen unmittelbarer Umgebung, und eine literarische Darstellung von dänischen Handlungsorten oder Figuren außerhalb Kopenhagens war äußerst selten (vgl. hierzu Behschnitt 2006). Insbesondere Jütland galt als wild und öde, unzivilisiert und sowohl kulturell als auch landschaftlich uninteressant. Blicher wurde in Jütland geboren und entschied sich als Sohn eines Pfarrers für das Theologiestudium in Kopenhagen. Nach dem Studium kehrte er nach Jütland zurück, wurde schließlich selbst Pfarrer, was ihm ein geregeltes Einkommen sicherte, und verbrachte dort sein gesamtes Leben. Er prägte durch seine Literatur die Vorstellung von Jütland als einem exotischen Ort, der vielfach symbolisch aufgeladen werden konnte und an dem imaginiertes Eigenes und Anderes, Dänisches und Fremdes zusammentreffen und changieren konnten. In seinem literarischen Schaffen verband Blicher, so formuliert es Wolfgang