Alice Frontzek

Die Pfaffenhure


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freien Künste sind höherrangig als die praktischen. Schon Seneca schrieb 65 nach Christus in seinem 88. Brief: ›Du siehst, warum die freien Künste so genannt werden: Weil sie eines freien Menschen würdig sind.‹ Frei ist, wer für sein Brot nicht arbeiten muss. Aber denken!«, leitete ihr Dozent Georg Spalatin, der zwei Jahre zuvor seinen Bakkalartitel erhalten hatte, seine erste Vorlesung ein und erhob mahnend seinen Finger.

      Ludher war begeistert: »Alle übrigen Universitäten sind gegenüber unserer Erfurter kleine Schützenschulen«, flüsterte er seinem Sitznachbarn Crotus zu und fühlte sich privilegiert. Adelige, namhafte Professoren bildeten den Lehrkörper, der zukunftweisend die Organisation der Welt analysierte. Antike Autoren wurden gelesen, um die Universität mit den Strahlen der politischen Kunst zu erleuchten.

      Trutvetter vertrat die Grundauffassung des Nominalismus: »Es gibt keine allgemeine Entität. Es sind nur zwei Kategorien anzunehmen, nämlich Substanz und Qualität. Es entspricht also eher der Philosophie, nach dem principium universalisationis zu fragen als nach dem principium individuationis. Zuerst muss man die Sprachanalyse und die Sprachkritik üben, um dann kritisch die metaphysischen und philosophischen Sachthemen zu behandeln. Dieser Vorgang kann nur mithilfe der Dialektik bewältigt werden. Der Weg zu einer kritischen Wissenschaft führt nur über eine präzise Sprachanalyse, die jedoch nicht etwa die Metaphysik und die Theologie ersetzen kann.«

      Martin nickte zustimmend und schaute begeistert zu Alexis, der verzweifelt den Kopf schüttelte: »Ich verstehe kein Wort!«

      »Ich erkläre es dir gleich«, raunte Martin und erläuterte seinem Kommilitonen nach der Vorlesung auf dem Flur die Universalienfrage: »Universalien sind Allgemeinbegriffe wie ›Mensch‹ oder ›Menschheit‹, auch mathematische Entitäten wie ›Zahl‹ oder ›Relation‹. Ein Allgemeinbegriff bezieht sich also auf Merkmale, die mehrere Gegenstände gemeinsam haben. Die Frage ist nun, ob diese Begriffe real existieren – wie in der Theorie des Realismus – oder ob es sich um rein künstliche Begriffsbildungen handelt – wie im Nominalismus.«

      »Ah, die Ideenlehre Platons: die These, dass Ideen eine eigene Existenz haben.«

      »Genau. Doch der Nominalismus sagt, dass es sich leidlich um gedankliche Abstraktionen handelt und die Realität nur den Einzeldingen zukommt. Den Nominalismus bezeichnet man als Via Moderna, den Realismus als Via Antiqua. Verstehst du?«

      »Und wozu braucht man das?«

      »Es geht um Macht und Legitimierung. Nimm beispielsweise die Einheit der Dreifaltigkeit. Ist sie real oder handelt es sich um eine Umschreibung? Du musst Thomas von Aquin lesen. Er steht für den Realismus. Wilhelm von Ockham für den Nominalismus. Ich habe mir die Bücher geliehen. Du kannst sie gerne lesen.«

      Alexis konnte in dieser Nacht schlecht schlafen und zerbrach sich darüber den Kopf, ob in Wirklichkeit nur Einzelseiendes oder auch Allgemeines eine eigene Existenz hatte. Er wusste von seinem Vater, dass es ihm als Schmied nichts ausmachte, Gitter für eine Kirche zu schmieden, deren Fertigstellung er nicht erleben würde. Er sah sich als Teil der Entität der Menschheit an, die die Kirche über Generationen nutzen würde. War Menschheit nun real oder nominal? Er verstand es immer noch nicht.

      Am nächsten Tag lehrte sie Nikolaus Marschalk: »Das studium trilingue gibt Euch sprachwissenenschaftliche Impulse von fürs Leben grundlegender Bedeutung. Wir werden in diesem Jahr darüber diskutieren, ob Glaube und Wissen vereinbar sind. Ob sich im Zweifel das Wissen dem Glauben unterordnen muss. Ich bin gespannt auf Eure Gedanken!«

      Obwohl das Studium schon in vollem Gange war, erfolgten mit der Vereidigung des Rektors am 1. Mai und der der neuen Studenten am 2. Mai noch die formvollen Zeremonien.

      Diese fanden wie immer in der Michaeliskirche statt. Am 1. Mai musste der neue Rektor vor dem Altar seinen Eid ablegen, damit er am nächsten Tag schon den seiner neuen Studenten abnehmen konnte. Martin freute sich immer wieder, dass der Zufall ihm seinen Lateinlehrer als Rektor in Erfurt beschert hatte, und er verfolgte die Zeremonie mit großer Aufmerksamkeit.

      Jodokus Trutvetter sprach mit sicherer Stimme feierlich: »Ich schwöre bei Gott und den Evangelien, die Rechte und Freiheit der Universität zu wahren, ihren Nutzen und ihre Ehre zu fördern, für die Eintracht der Fakultäten und aller Angehörigen zu arbeiten sowie die das Rektorenamt betreffenden Statuten nach Kräften zu wahren. Auch verspreche ich, die Statuten und Bestimmungen über das schickliche Auftreten, die Bescheidenheit und Gemäßheit der Kleidung und die sittliche Zucht der Angehörigen, über das für die Universitätsangehörigen geltende Verbot, sich Leistungen in Ware bezahlen zu lassen, insbesondere in Naumburger Bier und anderen Getränken und Speisen, über die mengen- und wertmäßige Wahrung des Buchbestandes der Universität in der Bibliothek des Universitätshauses, der Bücher des Kollegs zur Himmelspforte und der Bibliothek des Collegium Marianum auszuführen. Ich versichere weiterhin, nicht mehr als acht Gäste zur Feier meiner Wahl einzuladen, andernfalls bei der nächsten Sitzung des geheimen Consiliums an dieses einen viertel Rheinischen Gulden zu entrichten.«

      Hier dachte sich Martin: welch sonderbarer Zusatz. So lädt er wohl doch mehr als acht Personen ein. Er musste schmunzeln. Die strengsten Regeln schienen aufweichbar zu sein.

      Nach dem Eid folgte die offizielle Zepterübergabe des alten Rektors an seinen Nachfolger. Jede Fakultät verfügte über Insignien und Kleinodien als Zeichen ihrer Eigenständigkeit, Hoheit und Würde. Das Ornat des Rektors war aus kostbarem Stoff. Ein Magister übergab ihm seine Petschaft, eine Art Siegel, das die Rektoren und Dekane führten. Solch ein eigenes Zeichen, gleichsam wie ein Wappen, wollte Martin auch einmal besitzen. Als Jurist vielleicht mit der Justitia, dem Symbol der Gerechtigkeit, wenigstens aber mit einer Waage darauf. Er träumte vor sich hin und verpasste fast, sich zum Gebet zu erheben, hätte Alexis ihm nicht derbe seinen Ellenbogen in die Seite gestoßen.

      Am nächsten Tag, am 2. Mai, erfolgte die feierliche Einschreibung in der Michaeliskirche. Um zehn Uhr in Verbindung mit dem Gottesdienst wurden die angehenden Studenten einer nach dem anderen einzeln nach vorne zum Altar aufgerufen, wo sie vor dem Rektor stehend ihre Eidesformel sprechen mussten. Als Martin Jodokus Trutvetter gegenüberstand, lächelte er ihn väterlich an und nahm ihm damit die letzte Unsicherheit. Nach dem Eid trat er zum Schreiber, der ihn als »Martinus Ludher ex Mansfeld« mit geschwungenen Lettern in die Universitätsmatrikel, ein dickes, schweres ledergebundenes Buch, eintrug.

      Das Lernen bereitete Martin Freude. Er versäumte nie eine Vorlesung, befragte gerne seine Lehrer und besprach sich in Ehrerbietung mit ihnen. Alexis fiel das Studium schwerer.

      »Komm, fleißig gebetet ist über die Hälfte studiert! Das eine kannst du bereits, das andere erkläre ich dir noch mal. Danach machen wir Übungen, die unseren Körper gesund halten. In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist!« Martin wusste immer einen klugen Spruch. Er hatte kürzlich den kleinen Weg zwischen der Burse und dem Frauenkloster entlang des Flusses für sich entdeckt und ermunterte seine Zimmergenossen, vor der Schließzeit der Burse bis zu den Inseln zu rennen und dort Liegestütze, Kniebeugen und Klimmzüge an einigen großen starken Ästen zu machen. Am Ende des Weges verzweigte sich die Gera und bildete kleine Inseln. Der Breitstrom ging hier in die Wilde Gera über, und die Schmale Gera trennte sich von ihr ab. Sieben Wassermühlen gab es hier. Martin hatte den Platz gleich zu seinem Lieblingsort auserkoren.

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