Dann hörten sie Schritte, das Zurückschieben eines Riegels – die Magd öffnete. Es war Marie, die Martin bei seiner Abreise noch eine Extraportion Wurst zugesteckt hatte. Sie war sichtlich erfreut. Man hatte die beiden schon erwartet, denn nun erschien Frau Cotta in der Tür, gefolgt von ihrem Mann Conrad und einer Kinderschar. »Kommen Sie herein, Herr Ludher, was für eine Freude, dich so schnell wiederzusehen, Martin. Herein, herein!« Frau Cotta machte eine einladende Geste.
»Guten Tag, Hans. Grüß dich, Martin!«, meldete sich nun auch Conrad Cotta zu Wort, der Hans bei dessen Besuch vor einem Jahr das Du angeboten hatte.
Martin begrüßte die Mädchen, die ihm fast wie Schwestern ans Herz gewachsen waren. Die Älteste, fast vierzehn, zog ihn etwas schüchtern in Richtung guter Stube. Sie hieß Clara und trug ihre langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr hübsches Gesicht umspielten. Martin und sie hatten sich fast ein wenig ineinander verliebt. Das glaubte er jedenfalls, und ihre Zaghaftigkeit heute bestätigte ihm seinen Verdacht. Gesprochen hatten sie darüber nie, und natürlich konnte daraus nichts werden, denn damit hätte er Frau Cottas Vertrauen missbraucht, der er nichts als Dankbarkeit schuldete.
Sie gingen in die große Stube. Der Boden dort hatte breite, gewachste Holzdielen, und die Wände wiesen bis zur Hälfte eine Holzvertäfelung auf, die mit einer umlaufenden, durch Schnitzereien verzierten Leiste abschloss. Es gab einen Kachelofen, sowie einen hohen schmalen Holzschrank neben der Tür, der optisch jenen Teil des Raumes abtrennte, in dem ein großes Himmelbett stand. Sein grüner, schwerer Samtvorhang war bis auf einen Spalt zugezogen, durch den man kostbaren Bettstoff, ebenfalls in Grün mit Mustern, erkennen konnte.
Der Esstisch stand in der Mitte des Zimmers. Die Magd Marie stellte gerade eine große Zinnschüssel mit einer silbernen Kelle darauf. Es roch nach warmer, würziger Suppe. Neun Zinnteller waren eingedeckt.
Die drei Kleinsten setzten sich auf eine mit einer bunten Decke belegte Bank an das eine Ende des Tisches, Frau Cotta, ihre Tochter Clara und die Großmutter, die gerade hinzugekommen war, an eine der Längsseiten, ihnen gegenüber Martin und Hans, an den Kopf des Tisches Conrad, der Hausherr.
»Bitte nehmt Euch von dem Wein!«, forderte Frau Cotta die Gäste auf.
Sie reichten die Weinkanne herum, den Kindern schenkte die Magd ein leichtes Bier ein.
»Ich möchte mich noch mal sehr herzlich bei Euch bedanken. Martin hat sich bei Euch so wunderbar entwickelt. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden wäre, hätte er nicht Eure freundliche Aufnahme erfahren. Er weiß sich zu benehmen wie ein feiner Herr«, wandte Hans sich an die Gastgeberin.
»Ja, er hat sich sehr gemacht. Ich sehe ihn noch vor mir stehen, ganz schüchtern, meist die Augen gesenkt, nervös mit den Fingern spielend. Aber sein ehrlicher Blick, die klare Stimme, seine ernsten Gebete und seine schnelle Auffassungsgabe sind mir gleich positiv aufgefallen. Auch sein Flötenspiel zeigte Hingabe und Musikalität. Es hätte mir leidgetan, so ein Potenzial ungefördert verloren gehen zu lassen. Seid ganz unbesorgt und fühlt Euch nicht verpflichtet. Er war eine Bereicherung, ein Quell der Freude und auch hier und da eine große Hilfe im Haus.« Frau Cotta nickte Martin lächelnd zu.
Hans öffnete seinen Säckel, den er neben seinen Stuhl gestellt hatte. »Meine Frau schickt ein paar gute Dinge zum Dank: selbst gemachten Honig, eine Flasche unseres Weins – wir haben seit einem Jahr einen kleinen Weinberg – und geräucherte Wurst der letzten Schlachtung, eine Spezialität.«
»Vielen Dank! Wir werden uns alles schmecken lassen. Marie, bring diese Köstlichkeiten bitte in die Vorratskammer. Aber nun lasst uns ein Tischgebet sprechen. Martin, gib uns die Ehre!«
Martin faltete die Hände, schloss die Augen und sprach: »Speis uns, Vater, Deine Kinder, tröste die betrübten Sünder, sprich den Segen zu den Gaben, die wir jetzt hier vor uns haben, dass sie uns zu diesem Leben, Stärke, Kraft und Nahrung geben, bis wir endlich mit den Frommen zu der Himmelsmahlzeit kommen. Amen.«
»Danke, das war sehr schön. Greift zu!«, bat Frau Cotta.
Sie ließen sich die Suppe schmecken, die gefolgt wurde von einem Zanderbraten mit Gemüse und Brot. Zum Nachtisch gab es Grießbrei mit geschmolzenem Zucker und etwas Zimt. Das Schweigegebot während des Essens wurde heute nicht so streng genommen. Nur mit vollem Mund durfte nicht gesprochen werden. Bei den Jüngeren gab es viel zu kichern, was mit einem bösen Blick des Vaters quittiert wurde. Die Erwachsenen, zu denen Martin nun gezählt wurde, unterhielten sich noch lange am Tisch über das anstehende Studium, über Erfurt, über den Transport ihrer Briefe mit Boten und dem Postdienst einiger Zünfte, über das kleine Eisenach mit seinen dreitausend Einwohnern, über Magdeburg mit den fast fünfzehntausend Einwohnern und darüber, was Martin besser gefiele.
»Nun, eine große Stadt ist natürlich sehr aufregend, es gibt viel zu entdecken, viel Neues und Merkwürdiges. In einer Stadt wie Eisenach fühlt man sich sicher, alles ist schnell vertraut. In Magdeburg hatte ich einst ein Erlebnis, das ich bis heute nicht vergesse: Ich habe mit diesen meinen Augen einen Fürsten von Anhalt gesehen, der in der Breiten Straße zu Magdeburg in einer Barfüßerkutte umherging und um Brot bettelte. Auf seinem fast bis zum Boden gekrümmten Rücken trug er einen Sack wie ein Esel. Er sah aus wie ein Totenbild, nur Haut und Knochen. Ich weiß, wie ich vor Andacht erstarrte und mich meines eigenen Standes, der ja weiß Gott nicht hoch ist, schämte. Ich hatte Angst, dass diese Frömmigkeit womöglich die einzig Richtige ist. Seitdem ist mir Magdeburg unheimlich.«
Alle lachten und schenkten sich erneut ein.
»Nein, die zehn Gebote muss man einhalten, die Kirche besuchen und aufrichtig beten. Meint das Schicksal es gut mit einem, dann soll man den Armen geben und mit Ablässen die Kirche unterstützen. Wem nützt es, wenn man sich selber zu Tode darbt? Hat jemand Hände zum Arbeiten oder einen Kopf zum Denken, so soll er sie auch nutzen. Nicht umsonst hat Gott einen jeden von uns mit speziellen Gaben gesegnet!«
Alle stimmten Conrad zu. Er war ein großer, kräftiger Mann mit kantigem Gesicht und einem Schnurrbart. Seine Kleidung war aus feinem Stoff in Tannengrün. Er war Obervierherr von Eisenach, niemand bezweifelte seine Autorität und die Unumstößlichkeit seiner Aussagen.
Ursula Cotta ergänzte: »Ja, diese Unsicherheit habe ich bei dir bemerkt, aber nun gehst du aufrecht, kannst einem in die Augen sehen, hältst deine Finger still«, hier zwinkerte sie Martin lächelnd zu, »und du weißt, dass rechte Frömmigkeit Aufrichtigkeit, Fleiß und regelmäßiges Beten bedeutet. Nichts, wovor man sich fürchten muss.«
Ursula war jünger als Martins Mutter, vielleicht Mitte dreißig. Sie war schlank, etwa einen Meter fünfundsechzig groß, hatte feine Gesichtszüge, eine kleine, sehr gerade Nase, blaue Augen, wohlgeformte Lippen und eine helle, glatte Haut. Ihr Gesicht war umrahmt von einem weißen Schleier mit einem breiten Spitzensaum. Sie trug ein langes, glatt herunterfallendes weinrotes Samtkleid mit weinrot-wollweiß gemusterten langen Ärmeln. Um die Hüfte hatte sie einen dünnen Gürtel gebunden, an dem ein Samtsäckchen hing, in welchem sie ihr Taschentuch und ihren Rosenkranz, Haarnadeln und immer ein paar Münzen aufbewahrte.
Hans war still geworden. Sein Bauch krampfte ein wenig, denn bruchstückhaft fiel ihm ein, wie er in Eisleben einmal seinen Knecht so übel zugerichtet hatte, dass dieser nicht mehr aufgestanden war. Der Schurke hatte geklaut und es nicht zugeben wollen. Trotzdem war Hans’ Ruf danach angeschlagen gewesen. Er hatte die abfälligen Blicke der Leute nicht länger ertragen und mehrere Ablässe gekauft. Irgendwann musste es auch mal gut sein, fand er, es war immerhin ein Unfall gewesen! Auf den Vorschlag seines Onkels waren sie schließlich nach Mansleben umgezogen. Ein Jahr, nachdem Martin geboren worden war. Am 10. November des Nachts war der Kleine zur Welt gekommen und gleich am nächsten Tag auf den Namen des Heiligen Martin getauft worden. Ja, er, Hans, war nicht ganz unschuldig daran, dass Martin Frömmigkeit mit Angst verband. Wie oft hatte er sich nicht anders zu helfen gewusst, als seinen Sohn damit einzuschüchtern, dass Gott ihn bestrafen würde, wäre er nicht gehorsam! Wie sollte er ihn sonst erziehen? Vielleicht hätte er ihm stattdessen öfter sagen sollen, welche Dinge Gott mit Wohlwollen sah … einfach von der anderen Seite betrachtet. Doch tatsächlich war der Teufel überall. Als seine Frau eine neugeborene Tochter verlor, waren sie sich sicher gewesen, die Nachbarin habe sie verflucht, und