Schritten, eine Hand lässig in der Hosentasche. Er wurde keinen Deut schneller, als man den Zug bereits hörte. Jette kannte es nicht anders, als dass die Leute, die knapp kamen, rannten. Nicht so Christian. Es schien ihm egal zu sein, ob er ihn verpasste und warten musste.
Jette schaute ihm entgegen.
Die Bahn hielt am Gleis. Wenn er die Treppen hinaufgespurtet wäre, hätte er sie vielleicht noch bekommen. Doch er blieb bei ihr stehen. »Was machst du denn hier?«
Sie war froh, dass sie das Einkaufsnetz bei sich hatte, und hob es hoch. »Besorgungen. Und du?«
»Ich fahre nach Altona. Willst du auch in die Stadt?«
Sie spürte, dass sie rot wurde, und wich seinem Blick aus. Sie wollte den Kopf schütteln, doch das gelang ihr nicht. »Ja«, sagte sie leise, überzeugt davon, dass er ihre Lüge durchschaute.
»Ich glaube auch, dass man dort leichter Lebensmittel bekommt«, entgegnete er. »Die Innenstadt versorgen sie einfach besser.«
»Und warum?«, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Keine Ahnung. Vielleicht weil dort mehr Leute wohnen oder weil es hier Bauern gibt und die Leute Hühner halten.«
»Wir haben Kaninchen.«
»Auch nicht schlecht. Wer schlachtet?«
»Mein Vater. Wir anderen bringen das nicht fertig. Meine Mutter nicht und ich auch nicht. Und meine Schwester ist zu klein.«
»Ich könnte so einem Viech auch nicht den Kopf abschlagen.«
Das war ein seltsamer Satz. Sie schaute in Christians Gesicht mit der Hornbrille und den langen Haaren. Alle Jungen machten bei der Hitlerjugend Schießübungen und sangen Kriegslieder. Die meisten in ihrer Klasse redeten davon, dass sie Soldaten sein wollten, und sie wären stolz darauf gewesen, wenigstens einem Karnickel den Kopf abzuschlagen. Christian war offenbar auch in dieser Hinsicht anders.
»Was machst du in Altona?«, fragte sie.
»Ich besuche Freunde. Wir quatschen ein bisschen und hören Musik.« Er zeigte auf den Bahnhof. »Gehen wir hoch?«
Sie wischte sich die Hände an ihrem Rock ab und wünschte sich, dass sie etwas weniger aufgeregt wäre. Beide kauften sie einen Fahrschein am Schalter und hockten sich auf eine der Holzbänke auf dem Bahnsteig. Die Sonne schien auf sie, es war spätsommerlich warm. Er erkundigte sich weiter nach ihrer Familie – wo sie wohnten, ob ihr Vater eingezogen war – und fragte auch nach Gregor. Sie erzählte von dem großen Haus, in dem er lebte, und dass er oft alleine war, weil sein Vater Generaldirektor einer Zigarettenfabrik war und die Mutter oft weg. Auch dass sie zwei Autos besaßen, erzählte sie. Er stieß einen Pfiff aus und wollte die Marken wissen, die sie ihm nicht nennen konnte. Er schlug einige Namen vor – Horch, Mercedes – aber ihr sagte das nicht viel, deshalb war sie froh, als der Zug eintraf und sie einstiegen. Jette überlegte, wo sie wieder aussteigen sollte. Sie und Christian setzten sich auf zwei nebeneinanderliegende Plätze. Es war eng, sein Arm drückte gegen ihren. Sein Bein war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt.
Sie hätte gerne gewusst, welche Musik seine Freunde und er hörten, ob sie von diesem Cole Porter stammte, wagte es aber nicht zu fragen, erst recht nicht mit so vielen Ohren ringsherum.
»Kann man ihm trauen?«, wollte er plötzlich wissen. Er redete leise, wie alle anderen Fahrgäste im Abteil.
»Wem?«
»Gregor.«
»Ja klar.« Sie schaute ihn an. »Wie meinst du das?«
»Wie ich’s sage. Ob man ihm trauen kann.«
»Ja, natürlich kann man das.«
Auch nach Elisabeth erkundigte er sich.
Jette zog ihren Arm zu sich, sodass er seinen nicht länger berührte, und legte ihn auf ihren Schoß. »Was ist mit ihr?«
»Die gleiche Frage: ob man ihr trauen kann.«
Sie pustete den zurückgehaltenen Atem aus. »Sie ist ganz in Ordnung.«
»Ehrlich?«
»Ja. Warum nicht?«
»Keine Ahnung, ich kenne sie ja nicht. Beide nicht.«
Jette ging der Gedanke durch den Kopf, dass er sie auch nicht kannte, und sie fragte sich, bei wem er sich wohl nach ihr erkundigte. Als sie in Blankenese umsteigen mussten, dachte sie nicht mehr daran. Die S-Bahn stand bereits auf dem gegenüberliegenden Gleis. Christian redete leise darüber, dass sein Vater fürchte, aus Frankreich an die Ostfront verlegt zu werden. Er schreibe das nicht so deutlich, trotzdem gehe es aus seinen Briefen hervor. Warum ihr Vater nicht eingezogen sei, wollte er von Jette wissen. Sie erzählte ihm, dass er bei der Kripo und deshalb unabkömmlich sei, zumindest vorerst.
»Er ist also uk – wie schön für ihn und für euch.«
Sie dachte daran, dass ihr Vater zwar oft erst spät am Abend nach Hause kam, aber sonntags war er da und während der Woche meistens zum Frühstück. Es wäre eindeutig leerer bei ihnen, wenn er fort wäre, um Tausende Kilometer entfernt an irgendeiner Front zu kämpfen. Und sie würde immerzu Angst haben.
»Alle Männer können doch nicht eingezogen werden«, meinte sie. »Irgendjemand muss doch auch hier Dienst tun.«
»Wahrscheinlich, ja. Mein Vater ist Angestellter bei einer Bank. Seitdem er weg ist, müssen die Kunden einfach länger warten, bis sie drankommen.«
Er tat ihr leid, obwohl er auf der anderen Seite so vieles kannte und wusste, von dem sie in Rissen noch nie gehört hatten. Ihre Arme berührten sich wieder. Am liebsten hätte sie seine Hand gehalten und gedrückt.
»Er wird schon wiederkommen«, sagte sie.
»Ja, glaube ich auch.«
Sie fasste einen Plan: Sie würde am Holstenbahnhof, eine Station nach Altona, aussteigen und dort den Zug zurück nehmen. Zwar würde sie sich eine neue Fahrkarte kaufen und noch einmal 15 Pfennig ausgeben müssen, aber das war in Ordnung. Dafür war sie mit Christian gefahren.
Als der Zug in den Altonaer Bahnhof einfuhr, stand Christian auf, viele andere Leute auch. Jette blieb sitzen. Er hielt eine Hand an die Haltestange. Sie wartete auf seinen Abschiedsgruß. Er sagte: »Wenn du es nicht eilig hast, komm doch mit. Meine Freunde sind nett. Und die Musik …«
Sie freute sich über die Aufforderung, und trotzdem schaffte sie es nicht, sie anzunehmen, erst recht nicht mit einem beiläufigen, nicht zu begeisterten Ja. Gedankenfetzen strichen ihr durch den Kopf. Dass sie ein 16-jähriges Mädchen war und auf keinen Fall mit einem quasi unbekannten Jungen mitgehen durfte. Dass sie überhaupt nicht in Altona sein sollte. Vor ihr stand eine Frau mit schwarzem Hut und Schleier, eine Kriegerwitwe wahrscheinlich, und Jette war sich ganz sicher, dass sie sie für unanständig hielt und schon dafür verurteilte, dass sie überhaupt überlegte.
Der Zug hielt. Christian machte ein fragendes Gesicht.
Jette nahm beide Hände zu Hilfe und drückte sie auf das Holz der Sitzbank, um aufzustehen. Dabei schaute sie auf die Armbanduhr, die sie zur Konfirmation bekommen hatte. »Zu lange darf es nicht dauern.«
»Ist versprochen.«
Die Gegend vor dem Bahnhof war ihr durchaus bekannt. Ihr Vater bezeichnete sich als Altonaer, obwohl er eigentlich aus dem benachbarten Bahrenfeld stammte. Er hatte seinen Töchtern einige Orte seiner Kindheit gezeigt. Was Jette in Altona aber fehlte, war diese blinde Sicherheit, die Christian hatte. Er musste sich nicht orientieren, und der viele Verkehr, all die Autos, Straßenbahnen und Pferdewagen waren für ihn selbstverständlich.
Sie gingen ein Stück, bevor sie in einer Gasse in ein Haus traten und die Treppen hinaufstiegen. Es war angenehm kühl. Christian klingelte an einer Wohnungstür. Ihnen öffnete ein Junge, der ebenfalls ein kariertes Jackett trug, dessen Ärmel ihm bis auf die Hände reichten. Auch seine Haare waren lang. Er grinste und begrüßte sie mit einem genuschelten Gruß.
Jette