Claudius Crönert

Letzter Tanz auf Sankt Pauli


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stimmte das nicht, irgendwann gab es immer einen Zeugen, in diesem Fall einen Nachbarn mit Schlafstörungen, der aus dem Fenster schaute, die Einbrecher sah und den Notruf wählte. Vier Tote hatte es bis dahin gegeben, darunter zwei Frauen, und eine Serie von elf Einbrüchen. Von den Tätern starb einer auf der Flucht, als ihr Auto frontal mit einem Peterwagen zusammenstieß. Die anderen beiden wanderten ins Zuchthaus.

      Es war die Zeit, als Krells zweite Tochter, Mareike, auf die Welt kam. Abends beim Bier fragte er Euler, ob er ihr Taufpate werden wolle. Euler fühlte sich geehrt und sagte zu, und ihre Verbindung erhielt auf diese Weise ihre Stetigkeit.

      Sankt Pauli spielte gegen Kiel – kein Renner, aber doch eine Begegnung, die einige Spannung versprach. Euler und er suchten sich stets einen Stehplatz an der Gegengeraden. Der Weg dorthin war zwar etwas weiter, aber er lohnte sich, denn man hatte einen guten Blick aufs Spielfeld. Es war wichtig, rechtzeitig zu kommen, damit nicht zu viele Zuschauer vor einem standen. Den langen Krell störte das nicht, aber Euler war deutlich kleiner, und er hasste es, sich recken zu müssen, um etwas zu erkennen.

      Rund um sie füllten sich die Plätze. Ein Westwind wehte, er kam direkt von der See, nicht stark, aber doch so, dass die Luft frisch und sauber schien. Es war immer noch sonnig, nur morgens und abends spürte man die Frische des nahenden Herbstes. Im Radio kamen Erfolgsmeldungen der Wehrmacht aus Russland. Der Vormarsch ging zügig voran. Doch der Winter nahte.

      Während sie auf den Anpfiff warteten, erzählte Euler von einer neuen Masche der Einbrecher, die kamen, wenn es Alarm gegeben hatte und die Bewohner im Luftschutzkeller waren. Eine dieser Schlaumeierbanden hatten sie hochgenommen, die drei Beteiligten hatten sie bereits in ihr Hehlerlager geführt. Nun saßen sie in U-Haft, aber es gab andere mit der gleichen Methode.

      »Keine schönen Aussichten«, bemerkte Krell. »Entweder fällt eine Bombe und deine Sachen sind verbrannt, wenn du zurückkommst, oder jemand hat die Wohnung ausgeraubt.«

      »Wir tun, was wir können.«

      »Ich weiß. So war das nicht gemeint.«

      Es wurde enger um sie, die Fußballer von Sankt Pauli hatten treue Anhänger. Die beiden Polizisten unterhielten sich leiser miteinander, sie wollten nicht, dass Umstehende sie verstanden, allein schon wegen möglicher Nachahmereffekte. Außerdem war die Polizei in dieser Gegend nicht besonders gut gelitten.

      »Und bei dir?«, fragte Euler.

      Das war die Frage, mit der Krell gerechnet und die er auch gefürchtet hatte. Er war nicht sicher, ob er Euler einweihen sollte oder nicht. Für beides gab es gute Gründe. Auf der einen Seite gefiel es ihm nicht, dem Freund zu verschweigen, was ihn seit gestern beschäftigte, auf der anderen mochte er ihn nicht belästigen. Jeden Tag gab es in ihrem Beruf Widrigkeiten, nicht nur durch den Krieg, sondern durch die gesamte Neuorientierung seit 1933. Krell wollte nicht, dass Euler, wie es seine Art war, eine Lösung suchte, die man womöglich gar nicht fand.

      In der Hamburger Polizei gab es niemanden, der gegen die nationale Erhebung war, zumindest zeigte es keiner. Die gesamte Mordkommission war gleich nach der Machtergreifung per Sammelantrag in die NSDAP eingetreten, lange bevor das neue Beamtengesetz herausgekommen war. Sie alle hatten Stellung beziehen, hatten zeigen wollen, dass sie zum neuen Deutschland gehörten und die Veränderungen befürworteten. So, wie es vorher war, hatte es nicht bleiben können, auch nach Krells Ansicht nicht. Abertausende von Schauerleuten und Werftarbeitern waren arbeitslos gewesen, das Elend allerorten ließ sich mit Händen greifen. Mit der Hitler-Regierung wurde es bald besser, es gab neue Arbeit im Hafen. Als Beamte hatten sie damals ihre Ariernachweise zusammengestellt, für sich selbst, die Ehefrauen, Eltern und Großeltern. In der Mordkommission hatte es keine Juden gegeben, in anderen Dezernaten aber verloren sie ihre Stellung. Was die Kollegen befremdete, war, dass auch diejenigen entlassen wurden, die nur einen einzigen jüdischen Ahnen hatten. Wer mit einer Jüdin verheiratet war, wurde zur Scheidung aufgefordert oder verlor ebenfalls seine Arbeit. Diese Dinge rissen auf der einen Seite Lücken in den Dienstplan, und auf der anderen standen Schicksale, Familien hingen an all dem, die nun sehen mussten, wie sie über die Runden kamen.

      »Gibt’s nichts Neues bei euch?«, wiederholte Euler. »Ermittelt ihr nicht?«

      »Doch, sicher.«

      Die Spieler und der Schiedsrichter liefen bereits ein. Das Publikum klatschte. Während der Partie konnte man schlecht reden, aber noch machten sich die Fußballer warm, deshalb hieß es für Krell, jetzt zu reden oder mindestens bis zur Halbzeit zu schweigen. Er entschied sich für Ersteres und erzählte in Kurzform vom Fall Limba und vor allem von dem seltsamen Satz, den Kriminalrat Tessow gesprochen hatte und der ihm seit gestern im Kopf umherschwirrte.

      Euler legte die Stirn in Falten. »Die wichtigen Fälle – was soll das heißen?«

      »Ich weiß es nicht.«

      »Hast du nachgefragt?«

      »Nein.«

      »Warum nicht?«

      »Dazu war keine Gelegenheit. Er ist gleich wieder gegangen.«

      Euler drehte den Kopf und schaute Richtung Spielfeld. Die Fußballer liefen immer noch übers Feld, dehnten die Muskeln oder spielten sich den Ball zu. Der Schiedsrichter ging Richtung Mittelkreis. Er würde gleich anpfeifen.

      »Ein toter Zuhälter ist kein wichtiger Fall?«, fragte Euler.

      »Er war kein Zuhälter. Davon abgesehen weiß ich es nicht. So deutlich hat Tessow das nicht gesagt.«

      »Ab wie viel Einkommen bist du denn ein wichtiger Fall?«

      »Hör auf«, wehrte sich Krell. »Du verwechselst etwas. Die Anweisung kam nicht von mir. Ich habe sie bekommen.«

      »Verzeih«, erwiderte Euler. »Was treibt den Kriminalrat?«

      »Ich denke, es geht darum, dass mittlerweile vier von unseren Leuten bei der Wehrmacht sind.«

      »Mmmh«, machte Euler.

      Während die Mannschaften Aufstellung nahmen, wurde es lauter im Stadionrund. Man hörte vereinzelte Rufe, die den Spielern galten: »Reißt euch am Riemen, Jungs!« oder »Lasst euch nicht wieder überlaufen, sonst stelle ich meinen Opa auf!« oder auch, ein wenig unpassend »Ein deutscher Junge weint nicht!«. Andere lachten oder stimmten zu. Krell nahm wahr, wie alle Augenpaare aufs Feld gerichtet waren. Einige Zuschauer hatten ihre Hüte abgenommen und hielten sie in der Hand, bereit, sie gleich beim ersten Tor in die Luft zu werfen. Die Kieler hatten Anstoß, der Schiedsrichter pfiff an. Im Gegenzug gab es gleich eine Chance für Sankt Pauli, ein mächtiger Schuss aufs Tor. Das Publikum ging mit und feuerte seine Mannschaft an. Nur Hannes Krell war nicht recht bei der Sache.

      In den acht Jahren seit 1933 hatte sich viel verändert. Krell hatte zunehmend Zweifel und konnte nichts dagegen tun. Im Radio kamen immer nur Siegesmeldungen, Zeitungen las er schon lange nicht mehr, auch den Völkischen Beobachter nicht, den sie nur deshalb bezogen, weil es Nachfragen vom Blockwart oder von Nachbarn, die sich allzu gern einmischten, verhinderte. Sie nutzten das Papier, um Feuer im Herd anzuzünden. Unter der Hand hörte man von Grausamkeiten der SS in Polen, Griechenland und auf dem Balkan, und die vielen Juden, die abgeholt worden waren, wurden offenbar in riesigen Lagern festgehalten. Ihre Lebensbedingungen konnte man sich unschwer ausmalen. Trotzdem war Krell nicht bereit, den Gedanken zuzulassen, dass alles falsch gewesen war, was er vor wenigen Jahren noch richtig gefunden hatte. Und womöglich stimmte es ja auch nicht, vielleicht waren das nur böse Gerüchte, letztlich würde man es erst in der Zukunft entscheiden können. Inzwischen trieb er in einem Gewässer mit unterschiedlichen Strömungen und wusste nicht mehr, was er glauben sollte. In den Momenten, in denen er sich das eingestand, kam er sich verloren vor.

      Wiebke war in dieser Hinsicht viel eindeutiger. Sie hielt es mit ihrem Vater, der schon kurz nach Kriegsbeginn, als er sich mit seinem Schwiegersohn nach einem sonntäglichen Kaffeetrinken eine Zigarre angezündet hatte, eine Weltkarte aus der Schublade gezogen und auf die Länder gezeigt hatte, mit denen Deutschland im Krieg war. Sein Fazit war klar – das konnte nicht gut gehen, die Nazis waren verrückt. Die Erinnerung war für Hannes Krell jederzeit abrufbar, als Vater Kraus die Nickelbrille