ihre gemeinsame Bahnfahrt und den Nachmittag in Altona hatten sie seitdem kein einziges Wort gesprochen. Sie hatte sich überhaupt nicht wieder mit ihm unterhalten, was sicherlich nicht nur an ihm lag. Wenn sie an ihren Ausflug zurückdachte, stellten sich Freude und Scham gleichzeitig ein, und die Scham kam deshalb, weil sie sich so leicht zu dieser Fahrt hatte überreden lassen, und sie war ein Teil der unsichtbaren Grenze zwischen ihnen. So oder so, sie konnte nicht mit Christian an das gemeinsame Erlebnis anschließen, und das lag nicht nur daran, dass es rund um sie so viele Augen und Ohren gab.
Sie ging den beiden Jungs nach, die auf der Rückseite von Christians Eiche zum Stehen kamen.
»Wir haben eine Jazzplatte zu Hause«, sagte Gregor ohne weitere Einleitung. »Ich habe sie gestern angestellt. Von Count Basie.«
Er sprach den Namen deutsch aus, er klang wie »Kont«. Christian korrigierte ihn und betonte den Namen englisch, »Kaunt«, nicht auftrumpfend, sondern in unaufgeregter Weise. Gregor verbesserte sich schnell. Fast hätte man denken können, er habe sich nur versprochen.
»Ich wollte dich fragen«, sagte er, »ob du Lust hast, sie zu hören.«
»Wo?«
»Bei mir zu Hause.«
Anstelle einer Antwort warf Christian Jette einen Blick zu, und sie verstand, was er wissen wollte. In der Bahn hatte er sie gefragt, ob man ihm trauen könne. Jetzt erbat er eine Bestätigung, vielleicht nur ein leises Kopfnicken. Sie kam nicht dazu, denn plötzlich stand Björn bei ihnen, umringt von seinen Freunden. Wie ein erwachsener Mann presste er seine beiden Daumen in den Koppelgürtel, eine Unteroffiziersgeste, in der eine Drohung lag.
»He, Tanzbubi, ich will von dir wissen, in welcher HJ-Gruppe du bist. Jetzt sofort.«
Christian sah ihn durch seine Brillengläser an, er wirkte erstaunt und machte den Eindruck, als müsse er die Aufforderung des anderen Jungen erst einmal verarbeiten. Seine Reaktion war, wie oft in der Klasse, unaufgeregt, eher nachdenklich. Björn war rot im Gesicht, sein Zorn wuchs mit jedem Moment, den Christian ihn warten ließ. Gewalt lag in der Luft. Fünf uniformierte Schüler standen Christian gegenüber, alle trainiert und bereit, ihre Kräfte einzusetzen. Ob sich Gregor auf Christians Seite schlagen würde, war nicht gewiss, erst recht nicht, ob andere Jungen dazukommen würden. Die meisten waren in einem anderen Abschnitt des Hofes.
Christian verzog den Mund. Nun lag die Andeutung eines Lächelns darauf. »Ich möchte auch vieles wissen und erfahre es nicht.«
Björn rückte näher an ihn heran. »Was zum Beispiel?«, zischte er.
»Zum Beispiel, was dir das Recht gibt, mir solche Fragen zu stellen.«
»Deutschland!«, rief Björn. »Also: welche Gruppe?«
Christian trat einen halben Schritt zurück, er versuchte, den Kreis des rotköpfigen Björn zu verlassen und in den Schutz der Eiche zu gelangen. Dabei pustete er Luft aus, als habe der andere Mundgeruch. Als er antwortete, tat er es in einem Ton, als mache er sich über Björn lustig. »Na, wenn’s um Deutschland geht – ich bin suspendiert.«
»Weshalb?«
Christian schüttelte den Kopf. »Darüber muss ich keine Auskunft geben.«
Björn rückte wieder an ihn heran. Seine Freunde folgten ihm und bildeten einen Halbkreis um ihn. »Oh doch. Das musst du.«
»Nein. Das weiß ich zufällig genau.«
Beide standen so nahe beieinander, dass sie auf den jeweils anderen hätten einschlagen können. Keiner von ihnen rührte sich, Christian wich nicht weiter zurück, Björn griff nicht an. Er hatte seine Daumen immer noch in dem breiten Gürtel eingehakt. Inzwischen hatten sich andere Schüler eingefunden, Mädchen genauso wie Jungen, die einen zweiten Kreis um die Streitenden bildeten. Es war nicht vorherzusagen, wer von ihnen im Falle einer Schlägerei wem helfen würde. Man verdarb es sich nach Möglichkeit nicht mit den HJ-lern, denn die vergaßen nie und konnten einen überfallen, besonders wenn man allein war. Zudem schützte sie ihre Uniform. Wenn ein Lehrer eingriff, bekamen sie nie die Schuld.
»Wenn er eine Krankheit hat«, mischte sich Gregor ein, »muss er einem Kameraden darüber nicht Auskunft geben, sondern nur einem Vorgesetzten.«
Es war nicht klar, ob er eine offizielle HJ-Vorschrift zitiert oder sich das gerade ausgedacht hatte.
»Das ist einfach so«, setzte er hinzu.
Björn schaute von Gregor zu Christian und wieder zu Gregor. Sein Mund stand halb offen, er zog die Daumen von seinem Gürtel und ballte die Fäuste. Nicht nur die Umstehenden, auch seine Freunde warteten auf seine Entscheidung. Kämpfen oder nicht kämpfen. Nichts bewegte sich. Es war ein Moment, in dem die Zeit eingefroren schien.
Schließlich sagte Björn: »Ich werde mich erkundigen. Diese Sache ist noch nicht zu Ende.« Mit einer energischen Kopfbewegung zur Seite zog er ab. Seine Freunde folgten augenblicklich. Auch der Kreis der anderen Schüler löste sich auf, wenn auch deutlich langsamer. Hier und da wurden Bemerkungen gemacht oder gelacht.
Jette blieb zurück, Elisabeth mit ihr. Christians Entscheidung stand noch aus, seine Antwort auf Gregors Frage. Gregor wartete sichtlich darauf, und als sich Christian nicht äußerte, sagte er: »Also, was ist?«
»Count Basie. Verlockend. Ja, warum nicht? Wo wohnst du?«
Gregor nannte ihm seine Adresse.
»Und wann?«
»Heute Abend?«
»Einverstanden. Vielleicht bringe ich auch zwei oder drei Platten mit.«
»Gute Idee«, sagte Gregor.
»Ich möchte auch kommen«, rief Elisabeth. »Darf ich?«
»Dann bin ich auch dabei«, sagte Jette.
Noch mehr als am Morgen beschäftigte Jette die Kleiderfrage. Es gab gute Gründe dafür, sich umzuziehen, und stichhaltige dagegen. Der graue Rock, den sie anhatte, war bequem, aber man sah ihm an, dass er abgetragen war, die Falten hielten nicht mehr richtig, die Farbe war ausgeblichen, der Bund ausgeleiert und deshalb zu weit. Sie besaß einen schickeren, er lag in ihrem Schrank. Bliebe sie in dem alten, würde sie sich darin wohlfühlen, käme sich aber ähnlich provinziell vor wie neulich bei Christians Freund in Altona. Wenn sie den neuen anzöge, würden es Elisabeth und Gregor und vielleicht auch Christian merken und sich ihren Teil denken, nämlich, dass sie auffallen wollte. Sie konnte sich nicht entscheiden. Erst als es schon dämmerte und sie sich auf den Weg machen musste, ging es schnell. Sie wusch sich gründlich mit dem Schwamm, kämmte sich, ließ die Seidenstrümpfe an, nahm den guten Rock und eine frische Bluse dazu. Ihr Vater war noch bei der Arbeit, ihre Mutter räumte die Küche auf.
»Oh«, machte sie. »Gehst du aus?«
Jette war auf die Frage vorbereitet, auch wenn sie einen so spitzen Ton nicht erwartet hatte. Sie gehe zu Gregor, sagte sie, der ihr etwas in Physik erklären wolle, das sie nicht verstanden habe. Es war eine halbe Lüge. Sie drehte sich weg, damit ihre Mutter ihr Gesicht nicht sah, falls es rot wurde. Zum Glück hatte sie sich wieder dem Geschirr zugewandt, das sie in den Schrank räumte. »Komm nicht so spät zurück.«
Gleichzeitig mit Elisabeth traf Jette bei Gregor ein. Neben dem Messingschild mit dem Namen »Jacoby« drückten sie auf die Klingel. Während sie warteten, nahm Jette wahr, dass ein süßlicher Duft von Elisabeth ausging, und als sie genauer roch, wurde ihr klar, dass ihre Freundin ein Parfum benutzt hatte. Elisabeth war weiter gegangen als sie selber, sie hatte sich mehr getraut, worüber Jette sich ärgerte. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Mutter überhaupt Parfum besaß.
Gregor führte sie ins Wohnzimmer. Jette war schon öfter in diesem Raum gewesen, sie kannte die Holzvertäfelung, die beiden braunen Ledersofas, die in Form eines großen L aneinandergestellt waren, das Bücherregal und auch das Hitler-Porträt an der Wand, das deutlich größer war als das bei ihr zu Hause und in einem verschnörkelten Rahmen hing. Auf dem Esstisch lag eine Platte in Papierhülle. Es war die, von der Gregor am Morgen gesprochen hatte. Ein schwarzer Mann am Klavier war auf dem Foto. Count Basie. Jette