Wie ein edler Damastvorhang verbreitete die helle Wolkendecke ihr silbriges Schimmern hoch über den Häusern der Stadt. Bricht jetzt endlich die Sonne durch?, fragte sie sich und hob die Augen zum Himmel. Tatsächlich. Wie eine Lanze bahnte in diesem Moment der erste goldglänzende Strahl sich seinen Weg durch die dünner werdende Wolkenmatte. Sie senkte die Augen, warf einen schnellen Blick auf ihr Handgelenk, als müsste sie die exakte Zeit festhalten für diesen beglückenden Augenblick. Die Uhr zeigte 8.33 Uhr. Die Sonnenlanze über der Stadt verstärkte ihre Kraft, wurde breiter, vergrößerte den Riss im Wolkenvorhang. Weitere Lanzen fanden nun Platz und gossen ihr kräftig wachsendes Leuchten über die Fassaden der Barockstadt. Endlich. Was für eine Freude nach dem tagelangen Unwetter. Ein wunderschöner Tag würde das werden. Davon war sie überzeugt. Was sie zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht wusste: Eine grausige Entdeckung stand ihr heute bevor. Und das sehr bald. Ein widerlicher Fund. Aber davon hatte sie noch keine Ahnung, als sie den Hund von der Leine ließ.
»Lauf, Jacky.«
Der Boston Terrier bellte einmal hell. Die quäkende Stimme überschlug sich fast. Aber das Bellen klang freudig. Der schwarz-weiß gefleckte kleine Hund preschte los.
»Nicht zu schnell, Jacky. Sonst kann Frauchen dich nicht mehr einholen.«
Sie liebte es, mindestens zweimal in der Woche mit ihrem Jacky zu einer Tour über den Kapuzinerberg aufzubrechen. Marlene Stracker wohnte in der Neustadt, in der Auerspergstraße. Wenn sie sich ganz weit aus dem Wohnzimmerfenster beugte, konnte sie sogar einen kleinen Teil des Salzburger Hausberges ausmachen. Mehr davon zu erspähen, war ihr wegen der hohen Häuser ringsum nicht möglich. Aber sobald sie ihre Wohnung verließ und ein Stück der Straße folgte, lag die ganze Pracht des von ihr so geschätzten Stadtberges vor ihr. Meist wählte sie den Aufstieg über die Imbergstiege in der Steingasse. Doch heute hatte sie sich für die ausgedehnte Route entschieden und an der nordöstlichen Bergseite die Strecke über den Doblerweg gewählt. Der Anstieg war zwar steil, aber oben angekommen wurde man gleich durch den Anblick des großartigen Franziskischlössls entschädigt. Glockengeläut würde sie dieses Mal aus der Stadt unter ihr keines vernehmen. Das war ihr klar gewesen, als sie aufbrach. Sie bedauerte es dennoch. Sie liebte das Läuten. Es erschien ihr jedes Mal wie eine freudvolle Botschaft aus einer märchenhaften Spielzeughäuserlandschaft. Aber heute war Karfreitag. Da gab es keine Glocken. Die befanden sich ja alle in Rom. Sie schmunzelte, als sie bei dieser Vorstellung zur Legende an ihre Kindheit dachte. Damals hatte sie tatsächlich an diese gerne erzählte alte Geschichte geglaubt. Einmal hatte sie sogar eine Zeichnung angefertigt. Die Osterhasenfamilie saß in der Wiese und war fleißig beim Eierbemalen. Und hoch über ihnen flogen Glocken in allen Größen und Farben über den Himmel, unterwegs zur Ewigen Stadt.
»Jacky, langsam!«
Heute hatte sie sogar um 6 Uhr die Frühmesse besucht, in der Sebastianskirche in der Linzergasse. Eine regelmäßige Kirchgeherin war sie keine. Bei Weitem nicht. Aber zu den besonderen Festen wie Pfingsten, Ostern und Weihnachten streute sie gerne den einen oder anderen Messbesuch ein. So auch am heutigen Karfreitag.
»Wir sehen Jesus am Kreuz«, hatte der Priester in der Frühmesse gesagt. In gestochenem Hochdeutsch, mit gut vernehmbarem slawischen Akzent. »Gestorben für die Sünden der Welt.« Diese Vorstellung hatte ihr schon als Kind beängstigende Schwierigkeiten bereitet. Zu Gott im Himmel muss man ehrfurchtsvoll aufschauen. Denn er ist ein liebender Vater. Für alle. So hatte man es ihr oft und oft nahegebracht. Sie hatte immer ihre Zweifel an dieser Darstellung. Liebender Vater für alle? Warum ließ dieser Vater dann den eigenen Sohn umbringen? Um uns Menschen von unseren Sünden zu befreien, hatte man sie in der Religionsstunde gelehrt. Und dafür ließ er den eigenen Sohn geißeln, leiden, ans Kreuz nageln, umbringen? Ihre Kinderseele konnte und wollte das nie verstehen. Von so einem »liebenden« Vater war nicht viel zu erwarten. Davon war sie als Kind überzeugt. Daran hatte sich bis heute wenig geändert. Auch heute Früh hatte sie sich mehrmals während der Messe bei leichtem Kopfschütteln ertappt. Dennoch hatte ihr die ruhige, andächtige Stimmung in der Kirche gutgetan.
»Jacky, nein, heute nicht!« Sie wusste genau, wo der kleine Lauser hinwollte. Sie blickte sich rasch um. Keine Spaziergänger zu bemerken. »Jacky, komm sofort her zu mir!« Doch der Hund ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Ihre Blicke kreisten. Noch immer niemand zu sehen. »Also gut, mein Lieber. Dann mach. Aber ganz schnell. Hurtig.«
Der Terrier hastete mit seinen etwas pummligen Pfoten über die breiten Stufen, die auf der sanft ansteigenden Wiese nach oben führten. Sein Ziel war das auffällige, steinerne Gebilde am Ende des Treppenaufgangs. Er liebte es, am Fuß des Monuments sein Bein zu heben, um seine flüssige Markierung zu hinterlassen. Damit es auch wirklich allen klar wurde: Hier war er zur Stelle gewesen. Er, Jacky, Boston Terrier und Rassehund. Dort oben am Sockel mochte zwar der große Sohn der Stadt thronen, Wolfgang Amadeus Mozart, der berühmte Komponist. Doch wer den Platz tatsächlich beherrschte, war eindeutig er. Der Urin am Fuß des Denkmals stammte von ihm! Und von sonst niemandem.
»Jacky, beeil dich!« Der Hund bellte. Es klang stolz, in jedem Fall zufrieden. Marlene blickte sich um. Sie waren allein. Zu dieser frühen Stunde war am Karfreitag niemand heroben unterwegs. Gott sei Dank.
»Brav, mein kleiner Liebling! Und jetzt schnell zurück!« Das Tier stutzte. Dann drehte es den Kopf nach oben. Jacky begann zu bellen. Laut. Sehr laut. Doch der in die Ferne blickende versteinerte Genius am anderen Ende des Monuments verzog keine Miene. Was macht er denn da? Marlene irritierte Jackies Verhalten. Wollte er vom berühmten Sohn der Stadt beachtet werden? Der steinerne Mozart auf seinem Sockel hatte ihn doch noch nie interessiert. Erneut begann der Terrier zu bellen. Dann steckte er die kurze Schnauze nach unten, schnüffelte hektisch über den Boden.
»Was ist los, Jacky?« Warum gebärdete sich ihr Liebling plötzlich so?
»Komm, wir müssen zurück!«
Sie wandte sich nach rechts, fuchtelte mit der Hand. Sie würden den Stefan-Zweig-Weg nehmen, vorbei am Kapuzinerkloster hinunter in die Stadt. So wie immer. Doch der Terrier folgte ihr nicht. Im Gegenteil. Er hastete weiter kläffend durch das Gras. Schließlich hopste er von der Wiese auf den Asphalt des Basteiwegs, der an der Wehrmauer entlang in die entgegengesetzte Richtung führte.
»Nein, Jacky, nicht dorthin! Komm sofort zurück!«
Doch der kleine Hund gehorchte nicht. Marlene stöhnte laut. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie musste dem kläffenden Racker hinterhereilen. Sie hastete die Mauer entlang. Der Weg stieg leicht an. Der Hund war etwa 30, 40 Meter vor ihr. Er bellte hysterisch. Gleich darauf fiel die Mauer scharf nach rechts ab und gab den Wald frei. Jacky stoppte. Dann verschwand er zwischen den Bäumen.
»Nein, Jacky, bleib da!« Den breiten Ast am Wegrand sah sie zwar. Aber viel zu spät. Sie stolperte, landete hart auf dem Boden. Sie schrie auf, kämpfte mit der Orientierung und der schlagartig einsetzenden Übelkeit. Sie war mit Knien und Oberkörper auf den Asphalt gekracht, aber der Kopf landete zum Glück auf einem Gewirr aus Zweigen neben dem Weg. Jackies aufgeregtes Bellen war zu vernehmen. Und noch etwas hörte sie. Plötzlich war da eine Stimme, dicht neben ihr.
»Sind Sie verletzt?« Ein junger Mann beugte sich über sie. Er war in einen hellblauen Jogginganzug gekleidet. Sie hatte den Mann vorhin gar nicht bemerkt. Er war wohl den Weg aus der Linzergasse heraufgelaufen. »Vorsicht. Ich helfe Ihnen.« Er streckte die Hand aus, half ihr behutsam auf. Sie fühlte sich zittrig, klammerte sich an seinen Arm. »Vielleicht setzen Sie sich kurz auf den Boden«, meinte er. »Ich bleibe gerne bei Ihnen, bis Sie sich besser fühlen.«
Sie nickte, ließ sich langsam auf dem Asphalt nieder. Erst jetzt schien dem Mann das laute Bellen aufzufallen. Er wandte den Kopf, spähte durch die Bäume.
»Das ist mein Hund. Ich weiß nicht, was er hat. Er rennt sonst nie weg. Ich bin ihm vorhin nachgelaufen.«
Sie machte Anstalten, sich in die Höhe zu stemmen. Der junge Mann legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich schaue mal nach, was Ihren kleinen Freund so aufregt.«
Sie nickte. »Das ist sehr nett von Ihnen. Er heißt Jacky.« Sie griff in die mitgeführte Handtasche und reichte ihm eine Hundeleine. »Und ich bin sein Frauchen, Marlene Stracker.«