er deshalb schuldig zu sprechen? Merana versuchte immer, aus solchen literarischen Stücken viel mitzunehmen. Auch für seine Arbeit. Die Parsifal-Handlung bestärkte einen in der Auffassung, dass man niemals zögern durfte, die richtigen Fragen zu stellen. Schon gar nicht als Polizist. Und zwar rechtzeitig, bevor es zu spät ist.
Es zu versäumen, konnte schwerwiegende Auswirkungen haben. Das zeigte sich auch bei diesem Bühnenspiel. Gurnemanz war von Parsifals Verhalten enttäuscht. Er verjagte ihn. Für Gurnemanz war Parsifal schuldig. Eindeutig. Merana war immer froh, dass er nicht über Schuld zu entscheiden hatte. Er war Ermittler. Er war kein Richter. Er hatte kein Urteil zu fällen. Wollte er auch nicht. Weder hier bei diesem fiktiven Spiel noch draußen in der Wirklichkeit.
5
Nach der Aufführung war er im Da Sandro eingekehrt. Er hatte sich zuvor einen Tisch reserviert. Das Nudelgericht, das ihm der Küchenchef und zugleich Lokalbesitzer kredenzte, war wie immer hervorragend.
»Ottimo, amico mio. Wunderbar. Bestens.«
Der kleine Sizilianer grinste übers ganze Gesicht.
»É così che deve essere, amico commissario. Wenn so ist, dann gut. Du musst … äh stentare, tormentare … wie man sagt in Deutsch?«
»Quälen?«
»Giusto. Du musst quälen dich, molte ore, für Stunden so viele, bei musica von diese sehr eigenwillige compositore tedesco, diese Maestro Wagner. Dann du verdienst zu bekommen immerhin jetzt eine gute Eindruck von bella cultura italiana.«
Er deutete mit der Hand auf den Teller.
»Pasta alla Norma. Das ist wie musica. Ganz anderes als bei Ricardo Wagner.«
Merana war klar, worauf Sandro hier anspielte. Das Nudelgericht galt als Hit der sizilianischen Küche, fein abgeschmeckt mit Ricotta salata, einen für Sizilien typischen Schafsfrischkäse. Und es ist benannt nach einer Oper, nach Norma, von Vincenzo Bellini, der aus Sizilien stammte.
»Grazie, maestro della cucina. Ja, die musica des compositore tedesco Ricardo Wagner hat wirklich lange gedauert, da gebe ich dir recht. Aber ich habe sie dennoch sehr genossen.« Er wies zum Teller. »Noch eine Frage: Von wo hast du denn dieses Mal diese köstliche Melanzane hergezaubert?«
»Quello, signor commissario ammirato, rimane un segreto, diese bleibt mein Geheimnis. Rifornitore giusto. Man muss kennen die richtige Lieferant.« Das Lachen des Sizilianers erfüllte den Raum, erwärmte Merana. Zusammen mit dem hervorragenden Nero d’Avola, der ihm zum Essen angeboten wurde.
Merana war am frühen Vormittag im Pinzgau aufgebrochen. Er hatte seinen Wagen auf dem Parkplatz der Polizeidirektion abgestellt und war dann zu Fuß in die Innenstadt geschlendert. Nachdem er im Da Sandro einen Espresso genossen hatte, machte er sich auf den Rückweg. Es war angenehm warm. In der Altstadt herrschte belebende Regsamkeit. Das gefiel Merana. In den Gassen, auf den Plätzen. Touristengruppen, Tagesausflügler, Gäste der Osterfestspiele, und dazwischen immer wieder viele Einheimische. Die im Freien stehenden Kaffeehaustische waren bestens gefüllt. Viele genossen die Ostermontag-Festtagsatmosphäre inmitten der barocken Pracht der Salzburger Altstadt. Auf dem Mozartplatz trat ihm eine junge Frau in den Weg, durchaus freundlich. Die Kappe, die sie schräg auf dem Kopf trug, wirkte pfiffig. Eine Art Baskenmütze in dunkler Farbe. Sie drückte ihm ein Flugblatt in die Hand. Sie war eine von mehreren jungen Leuten, die reihum Blätter verteilten.
»Bitte, mein Herr, wenn auch Ihnen unsere schützenswerte Umwelt ein Anliegen ist, dann können Sie gleich hier unterschreiben!« Sie wies zu einem hölzernen Stand am Rand des Platzes. Eine junge Frau mit auffallend roten Haaren winkte herüber. Auch sie verteilte Blätter. Mehrere Leute waren dort zu sehen. Zwei ältere Frauen beugten sich über einen Tisch. Sie waren dabei, ihre Unterschrift zu hinterlassen. »Stoppt Serena!« prangte auf einer großen Tafel über dem improvisierten kleinen Kiosk. Gemeint war dabei gewiss nicht die amerikanische Tennisspielerin Serena Williams, die ihre unnachahmliche Karriere noch nicht beendet hatte. Merana schmunzelte bei dem Gedanken. Es galt, ganz anderes zu stoppen. »Schluss mit Umweltsünden!« war einem weiteren Schild zu entnehmen. Merana vermutete zu wissen, worum es dabei ging. Wenn er sich recht erinnerte, plante eine Salzburger Firma, die Serena AG, eine Betriebserweiterung irgendwo im Norden der Stadt. Dagegen regte sich Widerstand.
»Danke, ich schaue es mir an.« Er steckte das Flugblatt ein.
»Sie können unsere Petition auch im Internet unterschreiben«, rief ihm die junge Frau nach, während er rasch seinen Weg fortsetzte.
Später erzählte er davon der Großmutter beim Telefonat am Abend. Er richtete ihr zudem schöne Grüße von Sandro aus. Auf ihren ausdrücklichen Wunsch schilderte er ein paar seiner Eindrücke von der Parsifal-Aufführung. Gegen 21.30 Uhr setzte er sich an den Schreibtisch und klinkte sich in den Bürocomputer ein. Er wollte noch ein wenig arbeiten, zumindest einen Teil der eingegangenen Nachrichten und dienstlichen Infos überfliegen. Er ging früh zu Bett, jedenfalls für seine Verhältnisse. Die Uhr zeigte erst kurz vor Mitternacht.
Am nächsten Morgen griff er sich Joggingschuhe und Sportdress. Er lief fast eine Stunde. Danach duschte er, gönnte sich zwei große Tassen Espresso und war um 8.50 Uhr in seinem Büro. Er überflog den Mailposteingang und kramte in den Unterlagen, die man ihm seit seiner Abwesenheit auf den Schreibtisch gelegt hatte. Gegen 9.30 Uhr griff er zum Telefon. Er wählte die Nummer der Salzburger Festspiele und ließ sich verbinden.
»Guten Morgen, Herr Kommissar. Wie geht es Ihnen? Wie hat Ihnen denn gestern die Parsifal-Aufführung gefallen? Die Frau Präsidentin hat mir von der Begegnung erzählt.«
»Guten Morgen, Frau Hertel. Alles in allem war ich sehr beeindruckt. Vor allem musikalisch. Szenisch hätte ich ein paar Anmerkungen zu machen.«
»So erging es mir auch. Ich habe die Premiere gesehen. Die Frau Präsidentin hat mich darüber informiert, dass Sie anrufen werden. Es geht um einen Termin, wie sie andeutete. Wie lange werden Sie mit der Frau Präsidentin brauchen, Herr Kommissar? Reicht für das Gespräch etwa eine halbe Stunde?«
»Aber natürlich, Frau Hertel. Das wäre fein.«
»Dann kann ich Ihnen für übermorgen etwas anbieten. Ich habe das Interview mit der Journalistin von der Süddeutschen etwas nach hinten geschoben und die geplante Besprechung mit dem Kaufmännischen Direktor verkürzt, dann geht sich das gut aus. Sagen wir, um 11.20 Uhr bei uns im Büro?«
»Sehr gerne. Das passt bestens. Vielen Dank, Frau Hertel.«
»Nichts zu danken, Herr Kommissar. Für Sie immer. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
»Gleichfalls, Frau Hertel.«
Er legte auf, widmete sich den Unterlagen und den Infos im PC.
Gegen Mittag klopfte es.
»Ja, bitte.«
In der geöffneten Tür erschien der Abteilungsinspektor.
»Hallo, Otmar.« Er deutete mit der Hand auf einen der freien Stühle.
Sein Freund und Kollege nahm Platz, legte eine dünne grüne Mappe auf Meranas ohnehin angefüllten Schreibtisch.
»Wie war es im Pinzgau bei der Großmutter?«
»Ich bin froh, dass sie immer noch in guter Verfassung ist. Das Miteinander hat uns beiden wohlgetan.«
»Warst du schon beim Chef, Martin?« Dem Kommissar entfuhr ein Schnauben. Nein, das stand ihm noch bevor. Aber das hatte Zeit.
»Ich schaue am Nachmittag zu ihm rüber. Aber den lieben Günther interessiert derzeit ohnehin nur eines: ob mir etwas Passendes eingefallen ist, damit er sich bei den Kollegen, die über Pfingsten zum Meeting kommen, glanzvoll präsentieren kann.«
Der Abteilungsinspektor grinste.
»Und ist dir etwas eingefallen, Herr Kommissar?«
Merana vollführte eine abschätzige Handbewegung. »Möglicherweise. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass du mit mir darüber reden willst. Also, was kann