Roland Lange

Harzkinder


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er ihr gegeben hatte, war nur für den äußersten Notfall gedacht. Er hatte es ihr erklärt, trotzdem war ihr seine Vorsicht völlig übertrieben vorgekommen.

      Unruhig lief Hanka durch ihre Wohnung, schon den ganzen Nachmittag. In immer kürzeren Abständen

      warf sie einen Blick auf die Displays von Smartphone und Haustelefon. Als könne sie seinen Anruf herbeizwingen. Und es gab nichts, womit sie es schaffte, sich abzulenken. Seit sie den Detektiv angeheuert hatte, geriet ihr Leben aus den Fugen. Nein, nicht erst seitdem. Es hatte schon im Supermarkt angefangen. Als sie Sascha gesehen

      hatte.

      Herrgott noch mal, es musste sich doch endlich etwas tun! Oder war sie einem Betrüger aufgesessen, waren die fünfhundert Euro Vorschuss verloren? Ihr war die ganze Sache ohnehin ziemlich suspekt gewesen. Dieses schäbige Stadtviertel, der heruntergekommene Laden mit dem ganzen Elektroschrott, die düstere Werkstatt hinter dem Vorhang, der kleine Tisch, an dem sie gesessen und ihm ihre Geschichte erzählt hatte. Was hatte das mit dem Büro einer seriösen Detektei zu tun gehabt? Wäre ihre Tochter nicht gewesen, sie wäre nicht noch einmal dorthin zurückgekehrt. Wenigstens hätte sie dann noch ihr Geld gehabt. Es war eine unsinnige Idee gewesen, einen Detektiv einzuspannen. Schon damals, als Kerstin das erste Mal diesen Blume ins Gespräch gebracht hatte. Was sollte so einer mehr ausrichten als all die Menschen bei der Polizei, dem Roten Kreuz, Politiker mit Einfluss und weiß der Kuckuck, wem sie noch alles bei ihrer Suche nach Sascha auf die Nerven gegangen war.

      Hätte sie wenigstens darauf bestanden, diesen Blume zu jeder Zeit von sich aus kontaktieren zu können. Aber dann wäre ihr Deal nicht zustande gekommen. Er allein bestimmte die Regeln und wäre nicht bereit gewesen, davon abzurücken. Also hatte sie seine Bedingungen akzeptiert. Wie dumm von ihr!

      „Kannst du dich nicht mal hinsetzen? Du machst mich noch ganz verrückt mit deinem ewigen Rumgerenne!“

      Hanka hatte nicht gemerkt, dass ihr Mann in die Küche gekommen war. Plötzlich stand er hinter ihr.

      „Ich ... ich dachte, du siehst fern“, stammelte sie erschrocken.

      „Ich hocke nicht den ganzen Tag vor der Glotze. Aber das scheint dir gar nicht mehr aufzufallen. Seit du diese Erscheinung hattest, bist du wie weggetreten, behandelst mich, als wäre ich Luft. Du merkst gar nicht mehr, was um dich herum passiert. Machst alles nur noch wie in Trance.“

      „Ich hatte keine Erscheinung“, wehrte sie sich. „Der Mann war real. Und es war Sascha!“

      „Komm mal her.“ Rudolf legte seine Arme um sie

      und drückte sie an sich. Sie spürte seine Wärme, seinen ruhigen Atem. Wie lange hatte er das nicht mehr getan – sie umarmt? Wie sehr hatte sie sich manchmal danach gesehnt. Wenn er so war wie jetzt, nicht abweisend oder aggressiv, sondern zugänglich und liebevoll, weil er

      keine Schmerzen verspürte, dann fühlte sie sich geborgen und verstanden. „Ich weiß ja, wie sehr dich der Verlust deines Sohnes schmerzt. Ich weiß, was du mitgemacht hast. Aber versteh doch, du darfst dich nicht wieder an eine Illusion klammern. Das macht dich fertig ... und mich auch. Du warst auf so einem guten Weg, hast nicht mehr an ihn gedacht und endlich wieder angefangen, das Leben zu genießen. Willst du das alles aufs Spiel setzen?“

      Wie sehr Rudolf sich doch täuschte, dachte Hanka. Natürlich hatte sie an Sascha gedacht! Jeden Tag, den Gott werden ließ. Und nie würde sie aufhören, an ihren Sohn zu denken. Aber darin wollte sie ihrem Mann nicht widersprechen. Nicht jetzt. Ihn bloß nicht vor den Kopf stoßen. Seine Nähe noch ein wenig genießen. Nur einen kleinen Moment. Seine Umarmung tat so gut. So standen sie da, schweigend, während im Hintergrund die Küchenuhr leise tickte.

      „Ich habe einen Detektiv engagiert“, sagte Hanka plötzlich. Sie wollte es ihm nicht verraten. Es war ihr einfach rausgerutscht. Vielleicht, weil mit Rudis tröstender Umarmung auch ihr Vertrauen zu ihm zurückgekehrt war.

      „Du hast was?“ Er löste sich von ihr, schob sie ein Stück von sich weg.

      „Der Detektiv, von dem Kerstin mal vor langer Zeit gesprochen hat. Ich hab mir von ihr seine Adresse geben lassen und bin zu ihm gefahren. Nach Hannover.“

      „Warum hast du mir das nicht gesagt?“ Rudolfs Blick verdüsterte sich, seine Stimme bekam einen bedrohlichen Unterton. Auf einen Schlag war die innige Atmosphäre wieder zerstört. „Warum machst du so was hinter meinem Rücken, redest nicht mit mir?“

      „Du hattest Schmerzen und warst ungenießbar“, entgegnete sie.

      „Ach! Heißt das, ich bin schuld daran, dass du dich nicht mit mir absprichst und Entscheidungen fällst, die auch mich betreffen?“

      „Ich wollte dich nicht damit belasten. Du hattest mit deinem Rheuma zu tun.“

      „Hör doch auf! Das ist Quatsch und du weißt es“, empörte sich Rudolf. „Außerdem kostet so ein Detektiv bestimmt ’ne ganze Stange. Da hättest du mich unbedingt fragen müssen, ehe du unser Geld für deine verrückten Ideen verpulverst!“

      „Mit dem Geld hast du gar nichts zu tun“, giftete

      Hanka zurück. „Es ist mein Erspartes. Das habe ich mir über Jahre zurückgelegt. Damit kann ich machen, was ich will.“

      Rudolf riss die Augen auf, starrte sie entgeistert an. Ein, zwei Sekunden hing bleierne Stille wie ein drohendes Schwert über ihnen. „So ist das also“, sagte er plötzlich mit hohler Stimme. Er sackte leicht in sich zusammen. „Und ich habe immer gedacht, wir können einander vertrauen, uns alles sagen. Und dann bunkerst du heimlich irgendwo Geld. Glaubst du, ich hätte dir dein Erspartes weggenommen, dass du es mir verheimlichen musstest? Denkst du, ich bin so ein schlechter Mensch? Schade ... wirklich schade.“

      Er drehte sich um, schlurfte gebeugt zur Küchentür. Jede Faser seines Körpers zeigte seine Enttäuschung.

      „Rudi, warte! Geh nicht weg!“ Sie machte zwei schnelle Schritte hinter ihm her, hielt ihn am Arm fest, zog ihn zu sich herum. „Entschuldige bitte“, bettelte sie. „Es tut mir leid.“ Sein Blick aus unendlich traurigen Augen tat ihr weh. „Natürlich vertraue ich dir. Aber Sascha ... er ist mein Sohn!“

      Rudolf seufzte. „Ich weiß“, sagte er. „Und ich habe dir auch immer zur Seite gestanden. Sogar gegen Kerstin und besonders gegen ihren Mann, als der alles daran gesetzt hat, dir eine Psychose anzudichten und dir deine Enkelin vorzuenthalten.“ Er holte tief Luft. „Aber irgendwann musste es doch mal gut sein. Mir ist es auch zu viel geworden. Ich hatte keine Kraft mehr.“

      Hanka nickte. Sie wusste nur zu genau, was sie ihrer Familie und besonders Rudolf zugemutet hatte. „Du hast ja recht“, sagte sie.

      „Ich war so froh, als du dann allmählich Ruhe gegeben hast. Ich habe gedacht, du würdest endlich akzeptieren, dass dein Sohn ... dass Sascha nicht mehr lebt und wir endlich nach vorn blicken können. Auf uns. Und dann kommst du plötzlich und behauptest, Sascha sei dir über den Weg gelaufen. Wie willst du ihn denn erkannt haben? Wen immer du gesehen hast, er war es bestimmt nicht! Du ... du bist doch ... ach!“ Er schluckte das Wort, das ihm auf der Zunge lag, herunter, machte eine wegwerfende Handbewegung.

      Hanka wusste auch so, was er sagen wollte. Er hielt sie für verrückt. Wie alle anderen auch. Sie hatte sich längst damit abgefunden.

      „Und doch war er es“, erwiderte sie trotzig. „Dieses Mal ganz sicher. Eine Mutter spürt das.“

      „Das heißt, du lässt dich nicht umstimmen. Du lässt dich nicht davon abbringen, diesen Mann zu finden.“ Es war mehr eine resignierte Feststellung als eine Frage.

      „Nein, davon bringt mich niemand ab.“ Entschlossen schüttelte sie den Kopf.

      Rudolf holte tief Luft. „Na schön“, sagte er nickend. Über sein Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. „Dann ist es wohl das Beste, ich unterstütze dich – soweit ich kann.“

      Hanka blickte ihn zweifelnd an. Sie wusste nicht, was sie von seinem plötzlichen Sinneswandel halten sollte. „Wirklich?“

      „Herrgott,