Im Rückblick erzählt sie weiter: „Der zweite Teil begann mit meiner Hochzeit im Kriege und dauerte bis zur Hitlerei 1933 gleich nach Deiner Geburt. Damals war ich 39 Jahre alt, nur fünf Jahre älter als Du jetzt bist. Nach Papas Tod begann dann der dritte Teil, der in sausender Fahrt zum Abgrund für uns alle ging und dem für mich kein vierter Teil folgen wird.“
Für die älteste Enkelin Otto Fürst von Bismarcks, des Gründers und langjährigen Kanzlers des Deutschen Reichs, folgte bis zu ihrem Tod im Juni 1971 durchaus ein vierter Teil ihres Lebens, der allerdings weit unspektakulärer als die vorherigen drei war, besonders als derjenige in „der Hitlerei“.
Nur knapp einen Monat nachdem sie dem Sohn ihre Lebensphasen so skizziert hatte, vertraute Hannah von Bredow ihm im Juli 1967 an, dass sie ihre „vielerei Schreiberei“ sichten und ordnen wolle, da diese „für die Nachkommen informatorisch interessant sein“ könne. Hannah von Bredows unzählige, in gestochener Handschrift nahezu täglich an die engere und weitere Familie, an Freunde wie Bekannte verfassten Briefe sowie ihre seit dem frühen Jugendalter akribisch geführten Tagebücher füllen Regale; Gedichte und Essays kommen hinzu.
Präzise wiedergegebene Inhalte und weitsichtige Erkenntnisse aus Gesprächen, welche die Bismarck-Enkelin mit Prominenten der deutschen Gesellschaft der 1920er- und 1930er-Jahre führte, sollten nach ihren Vorstellungen nur das Interesse ihrer Nachkommen, also einer engeren Erinnerungsgemeinschaft, wecken. Tatsächlich aber kann der schriftliche Nachlass dieser scharfsinnigen politischen Denkerin Hannah von Bredow, die über exzellente Kontakte zu maßgeblichen Politikern der Weimarer Republik wie zu unterschiedlichen Gesellschaftskreisen im „Dritten Reich“ verfügte, der Nachwelt hoch interessante Einsichten in ein durch radikale Umbrüche und zwei Weltkriege geprägtes Jahrhundert bieten. Einsicht erhält die Nachwelt darüber hinaus in die konsequente Gegnerschaft einer mutigen und kämpferischen Frau zum Willkür- und Terrorregime des NS-Staates.
Tragende Säule ihres schriftlichen Gedankenaustausches war für Hannah von Bredow ihre Korrespondenz mit Sydney Jessen. Den Marineoffizier und promovierten Ökonomen hatte sie im Jahre 1924 als Privatsekretär ihres Bruders, des jungen Reichstagsabgeordneten Otto Christian Archibald Fürst von Bismarck, kennengelernt. Der Briefaustausch begann Anfang des Jahres 1925 und währte 40 Jahre bis zum Tod Jessens im Juni 1965. Ihr Briefpartner erhielt in unterschiedlichen Abständen und verschiedenem Umfang mehr als 2.000 Briefe von Hannah von Bredow, stets beginnend mit „Lieber Herr Jessen“. Mehrmals die Woche schrieb Hannah von Bredow bis zu 30 Briefseiten an Jessen; fast täglich auch in den Kriegsjahren, als er im Oberkommando der Marine in Berlin wirkte und für die Wochenenden ein Zimmer in ihrem Haus in Potsdam bewohnte.
Nahezu tägliche, wenn auch meist wesentlich kürzere Briefe schrieb Hannah von Bredow zudem bis zum Tod ihrer Mutter im Herbst 1945 nach Friedrichsruh; sie sind im dortigen Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung verwahrt. Einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Hinterlassenschaft bilden schließlich Briefe an ihren jüngsten Bruder Albrecht Edzard Heinrich Karl Graf von Bismarck-Schönhausen und an Helene Burckhardt-Schatzmann, die Mutter des Schweizer Historikers und Diplomaten Carl Jacob Burckhardt, durch den Hannah diese kennengelernt hatte.
Als überzeugtes Mitglied der vom NS-Regime verfolgten Bekennenden Kirche, als regelmäßige Teilnehmerin am regimekritischen Solf-Kreis, befreundet mit Angehörigen der Kriegsgegner und mit am Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 Beteiligten sowie als Helferin von Verfolgten war Hannah von Bredow seit Hitlers Machtübernahme nicht nur eine Kritikerin, sondern eine unbeirrte Opponentin des NS-Staates: Mit Recht darf man sie zum aktiven Kreis des Widerstands zählen.
Hannah von Bredow zeichneten geistige Unabhängigkeit, Lebensklugheit und Mut aus. Sie flüchtete nicht aus der Wirklichkeit. Unbeugsam, unkonventionell und allen Schicksalsschlägen zum Trotz verfolgte sie fühlend, beobachtend, urteilend und kämpfend ihren Weg. Ihre unbedingte Sorge für andere erstreckte sich auf einen tätigen Einsatz für durch das Regime Gefährdete und Verfolgte. In den dunklen NS-Jahren war sie weder ein Opfer, noch opferte sie sich auf – für beides war sie zu stark. Ihre nach einem aufreibenden Tagesablauf in nächtlicher Stunde geschriebenen Briefe verfasste sie nicht aus Lust an der puren Beschreibung oder der treffsicheren Benennung von Details, sondern zur Selbstvergewisserung, zur Reflexion und zur Erinnerung.
Besonders ihre Briefe an den Vertrauten Sydney Jessen verschafften Hannah von Bredow Halt, um die Kraft zurückzugewinnen, welche ihr der nationalsozialistische Terror und die Sorge um die Familie raubten. Bereits zu Beginn des NS-Regimes lastete nach dem Tod ihres Mannes Leopold von Bredow im Oktober 1933 die alleinige Verantwortung für die Erziehung der acht Kinder auf ihr. Jessen war ihr guter Geist, dem sie sich ohne Ängste und Vorbehalte anvertrauen konnte, der ihre Gedanken wie kein anderer verstand und der ihr beruhigend und stabilisierend ermöglichte, die Terrorjahre des „Dritten Reichs“ weitgehend unbeschadet zu überleben.
In ihrem zurückgezogenen Leben nach Ende der NS-Diktatur lag Hannah von Bredow wenig daran, ihre umfassenden Aufzeichnungen aus der NS-Zeit aufzuarbeiten und zu veröffentlichen. Nur ihre Nachkommen sollten Kenntnis davon erhalten. Ohnehin konzentrierten sich Veröffentlichungen über den Widerstand in der Bundesrepublik Deutschland in den ersten beiden Dekaden der Nachkriegszeit schwerpunktmäßig auf den militärischen Widerstand in Verbindung mit dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944.
Andere Formen des Widerstands sowie das Schicksal von Frauen im Widerstand waren damals noch kein Thema. Eine Ausnahme bildete im Jahre 1947 die Autobiografie von Lina Haag „Eine Hand voll Staub – Widerstand einer Frau 1933 bis 1945“. Das Buch erschien in einem kleinen Verlag und fand seinerzeit weit weniger Beachtung als das 1962 aufgelegte Buch von Annedore Leber und Freya von Moltke „Für und wider. Entscheidungen in Deutschland. 1918–1945“. Dieses Buch schildert das Leben der beiden Frauen, welches sie im Wissen um die Aktionen ihrer Männer, der von den NS-Henkern hingerichteten Widerstandskämpfer des Kreisauer Kreises Julius Leber und James Graf von Moltke, aufs Spiel gesetzt hatten.
Erst in den 1980er-Jahren zeichneten Marion Gräfin Yorck von Wartenburg und Maria von Maltzan ihre eigenen Widerstandsaktionen auf. Den Widerstand der Elisabeth von Thadden schilderte Irmgard von der Lühe. Der Name Hannah von Bredows findet sich bis heute indessen ohne gebührende Würdigung ihres Wirkens nur in wenigen Veröffentlichungen.1 Ungeachtet der schwachen öffentlichen Wahrnehmung des Widerstands in der frühen Bundesrepublik Deutschland und der Mühen, ihre unzähligen Dokumente aufzuarbeiten, erlaubten es Hannah von Bredows Selbstverständnis, Selbstzweifel und wohl auch Rücksicht auf die Familie nicht, ihren Widerstand publik zu machen.
Hannah von Bredow zeigte einen hartnäckigen und wirkungsvollen Widerstand gegen das NS-Regime in der Weise, dass sie sich zwölf Jahre lang unter großen Opfern dem Absolutheitsanspruch des Staates entzog und damit dessen Ziele unterlief. Dank der mühevollen Sichtung ihres Nachlasses durch Leopold Bill von Bredow und seiner Tochter Vendeline von Bredow-Jory sowie der zeitraubenden Digitalisierung der handschriftlichen Aufzeichnungen durch Frau Cornelia Jobst kann der Verfasser es nun unternehmen, den Nachkommen wie der Nachwelt das Denken, Leben und Wirken einer außergewöhnlichen Frau im vergangenen Jahrhundert anhand authentischer Selbstzeugnisse zu vermitteln.
Der Dank des Verfassers gilt Leopold Bill von Bredow für den umfassenden Einblick in dem Nachlass seiner Mutter und die wertvollen Erläuterungen, Michael K. Bahr und Dr. Romedio Graf von Thun-Hohenstein für hilfreiche Auskünfte, Dokumente und Fotos, sowie Dr. Gabriele von Halem, Cornelia Jobst, Dr. Wolf Preuss und Erich Riedler für die kritische Durchsicht des Manuskripts.
Reiner Möckelmann
Berlin, Dezember 2017
Herbert Fürst von Bismarck und Ehefrau Marguerite Gräfin Hoyos Freiin von Stichsenstein 1892
Hannah von Bredow zur Weihnachtsfeier 1915 in Friedrichsruh