Er wird mich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganze Seele zitterte in dem Gedanken.
Aber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntest mich nicht, nie war ich Dir fremder jemals als in dieser Sekunde, denn sonst – sonst hättest Du nie tun können, was Du wenige Minuten später tätest. Du hast mich geküsst, noch einmal leidenschaftlich geküsst. Ich musste mein Haar, das sich verwirrt hatte, wieder zurechtrichten, und während ich vor dem Spiegel stand, da sah ich durch den Spiegel – und ich glaubte hinsinken zu müssen vor Scham und Entsetzen – da sah ich, wie Du in diskreter Art ein paargrößere Banknoten in meinen Muff schobst. Wie habe ich vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht ins Gesicht zu schlagen in dieser Sekunde – mich, die ich Dich liebte von Kindheit an, die Mutter Deines Kindes, mich zahltest Du für diese Nacht! Eine Dirne aus dem Tabarin war ich Dir, nicht mehr – bezahlt, bezahlt hast Du mich! Es war nicht genug, von Dir vergessen zu werden, ich musste noch erniedrigt sein.
Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort, rasch fort. Es tat mir zu weh. Ich griff nach meinem Hut, er lag auf dem Schreibtisch neben der Vase mit den weißen Rosen, meinen Rosen. Da erfasste es mich mächtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich es versuchen, Dich zu erinnern. „Möchtest Du mir nicht von Deinen weißen Rosen eine geben?“ „Gern“, sagtest Du und nahmst sie sofort. „Aber sie sind Dir vielleicht von einer Frau gegeben, von einer Frau, die Dich liebt?“ sagte ich. „Vielleicht“, sagtest Du, „ich weiß es nicht. Sie sind mir gegeben, und ich weiß nicht von wem; darum liebe ich sie so.“ Ich sah Dich an. „Vielleicht sind sie auch von einer, die Du vergessen hast!“ Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. „Erkenne mich, erkenne mich endlich!“ schrie mein Blick. Aber Dein Auge lächelte freundlich und unwissend. Du küsstest mich noch einmal. Aber Du erkanntest mich nicht.
Ich ging rasch zur Tür, denn ich spürte, dass mir Tränen in die Augen schossen, und das solltest Du nicht sehen. Im Vorzimmer – so hastig war ich hinausgeeilt – stieß ich mit Johann, Deinem Diener, fast zusammen. Scheu und eilfertig[99] sprang er zur Seite, riss die Haustür auf, um mich hinauszulassen, und da – in dieser einen, hörst Du? in dieser einen Sekunde, da ich ihn ansah, mit tränenden Augen ansah, den gealterten Mann, da zuckte ihm plötzlich ein Licht in den Blick.
In dieser einen Sekunde, hörst Du? in dieser einen Sekunde, hat der alte Mann mich erkannt, der mich seit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich hätte hinknien können vor ihm für dieses Erkennen und ihm die Hände küssen. So riss ich nur die Banknoten, mit denen Du mich gegeißelt, rasch aus dem Muff und steckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mir auf – in dieser Sekunde hat er vielleicht mehr geahnt von mir als Du in Deinem ganzen Leben. Alle, alle Menschen haben mich verwöhnt, alle waren zu mir gütig – nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nur Du, nur Du hast mich nie erkannt!
Mein Kind ist gestorben, unser Kind – jetzt habe ich niemanden mehr in der Welt, ihn zu lieben, als Dich. Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich niemals, niemals erkennst, der an mir vorübergeht wie an einem Wasser, der auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht und mich lässt in ewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu halten, Dich, den Flüchtigen[100], in dem Kinde. Aber es war Dein Kind: über Nacht ist es grausam von mir gegangen, eine Reise zu tun, es hat mich vergessen und kehrt nie zurück. Ich bin wieder allein, mehr allein als jemals, nichts habe ich, nichts von Dir – kein Kind mehr, kein Wort, keine Zeile, kein Erinnern, und wenn jemand meinen Namen nennen würde vor Dir, Du hörtest an ihm fremd vorbei. Warum soll ich nicht gerne sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weitergehen, da Du von mir gegangen bist? Nein, Geliebter, ich klage nicht wider Dich, ich will Dir nicht meinen Jammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. Fürchte nicht, dass ich Dich weiter bedränge – verzeih mir, ich musste mir einmal die Seele ausschreien in dieser Stunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt. Nur dies eine Mal musste ich sprechen zu Dir – dann gehe ich wieder stumm in mein Dunkel zurück, wie ich immer stumm neben Dir gewesen. Aber du wirst diesen Schrei nicht hören, solange ich lebe – nur wenn ich tot bin, empfängst Du dies Vermächtnis von mir, von einer, die Dich mehr geliebt als alle und die Du nie erkannt, von einer, die immer auf Dich gewartet und die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Du mich dann rufen, und ich werde Dir ungetreu sein zum ersten Mal, ich werde Dich nicht mehr hören aus meinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein Zeichen, wie Du mir nichts gelassen; nie wirst Du mich erkennen, niemals. Es war mein Schicksal im Leben, es sei es auch in meinem Tod. Ich will Dich nicht rufen in meiner letzten Stunde, ich gehe fort, ohne dass Du meinen Namen weißt und mein Antlitz. Ich sterbe leicht, denn Du fühlst es nicht von ferne. Täte es Dir weh, dass ich sterbe, so könnte ich nicht sterben.
Ich kann nicht mehr weiter schreiben… mir ist so dumpf im Kopfe… die Glieder tun mir weh, ich habe Fieber… ich glaube, ich werde mich gleich hinlegen müssen. Vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht ist mir einmal das Schicksal gütig, und ich muss es nicht mehr sehen, wenn sie das Kind wegtragen… Ich kann nicht mehr schreiben. Leb wohl, Geliebter, leb wohl, ich danke Dir… Es war gut, wie es war, trotz alledem…ich will Dirs danken bis zum letzten Atemzug. Mir ist wohl: ich habe Dir alles gesagt, Du weißt nun, nein, Du ahnst nur, wie sehr ich Dich geliebt, und hast doch von dieser Liebe keine Last[101]. Ich werde Dir nicht fehlen – das tröstet mich. Nichts wird anders sein in Deinem schönen, hellen Leben… ich tue Dir nichts mit meinem Tod… das tröstet mich, Du Geliebter.
Aber wer… wer wird Dir jetzt immer die weißen Rosen senden zu Deinem Geburtstag? Geliebter, höre, ich bitte Dich… es ist meine erste und letzte Bitte an Dich… tu mir es zuliebe[102], nimm an jedem Geburtstag – es ist ja Tag, wo man an sich denkt – nimm da Rosen und tu sie in die Vase. Tu’s, Geliebter, tu es so, wie andere einmal im Jahre eine Messe lesen lassen für eine liebe Verstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott mehr und will keine Messe, ich glaube nur an Dich, ich liebe nur Dich und will nur in Dir noch weiterleben… ach, nur einen Tag im Jahr, ganz, ganz still nur, wie ich neben Dir gelebt… Ich bitte Dich, tu es, Geliebter… es ist meine erste Bitte an Dich und die letzte… ich danke Dir… ich liebe Dich, ich liebe Dich… lebe wohl…
Er legte den Brief aus den zitternden Händen. Dann sann er lange nach. Verworren[103] tauchte irgendein Erinnern auf an ein nachbarliches Kind, an ein Mädchen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern, undeutlich und verworren. Schatten strömten zu und fort, aber es wurde kein Bild. Er fühlte Erinnerungen des Gefühls und erinnerte sich doch nicht. Ihm war, als ob er von all diesen Gestalten geträumt hätte, oft und tief geträumt, aber doch nur geträumt.
Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf dem Schreibtisch. Sie war leer, zum ersten Mal leer seit Jahren an seinem Geburtstag. Er schrak zusammen[104]: ihm war, als sei plötzlich eine Tür unsichtbar aufgesprungen, und kalte Zugluft ströme aus anderer Welt in seinen ruhenden Raum. Er spürte einen Tod und spürte unsterbliche Liebe: innen brach etwas auf in seiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare körperlos und leidenschaftlich wie an eine ferne Musik.
Der Amokläufer
Im März des Jahres 1912 ereignete[105] sich im Hafen von Neapel bei dem Ausladen eines großen Überseedampfers ein merkwürdiger Unfall, über den die Zeitungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausgeschmückte[106] Berichte brachten. Obzwar Passagier der „Oceania“, war es mir ebenso wenig wie den anderen möglich, Zeuge[107] seltsamen Vorfalles zu sein. Es ereignete sich zur Nachtzeit während des Kohlenladens und der Löschung der Fracht[108], wir aber, um den Lärm zu entgehen, alle an Land gegangen waren und dort in Kaffeehäusern oder Theatern die Zeit verbrachten. Immerhin meine ich persönlich, dass manche Vermutungen, die wirkliche Aufklärung jener Szene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubt mir wohl, das Vertrauen eines Gespräches zu nutzen, das jener seltsamen Episode unmittelbar[109]