liege auf dem Bett und schaue aus dem Krankenhausfenster. Das Wetter ist wunderschön. Ich kann sogar bis zu den Alpen sehen, die von sanftem Dunst umgeben sind. Das Morgenrot ist überwältigend. Doch was nützt mir der wunderbare Ausblick?
Gerade habe ich unser zweites Kind verloren. Bisher habe ich immer gedacht, dass mir so etwas nicht passieren kann. Meine Mutter hat vier Kinder zur Welt gebracht, hatte nie Probleme während der Schwangerschaft. Nie eine Fehlgeburt. Wieso sollte mir dann so etwas geschehen?
Was eine Frau durchmachen kann, die ein Kind verliert, war mir bisher fremd, nicht nachvollziehbar. Nun weiß ich selbst, was es bedeutet. »Kind, wo bist du?« Und dann kommen die Selbstvorwürfe: Vielleicht bin ich selbst schuld, dass sich das Kind gelöst hat. Vielleicht hätte ich meinen Sohn nicht mit dem Fahrrad in die Spielgruppe bringen sollen. Vielleicht hätte ich letzte Woche nicht zum Zug rennen sollen, den ich sowieso verpasst habe. Dann waren da die zwei Grippen. Vielleicht sind die der Grund für die Fehlgeburt.
Während ich so in Schuldgefühlen versunken bin, kommt mein Mann. Er hat sich freigenommen, und ich bin sehr dankbar dafür, dass er da ist. Sobald die Ärztin noch einmal vorbeigeschaut und mir weitere Anweisungen und Medikamente gegeben hat, werde ich entlassen. Die Ärztin wünscht mir noch alles Gute. Alles Gute? Was soll das heißen? Was ist jetzt gut für mich?
Zu Hause muss ich immer wieder weinen. Der innere Schmerz überrollt mich unangemeldet, heftig, tief. Doch jedes Mal versuche ich, ihn zu unterdrücken und mich zusammenzureißen, »stark« und »tapfer« zu sein. Ich fühle mich wie in einer anderen Welt, wie neben mir. Alles scheint so surreal zu sein. Vieles ist auf einmal belanglos, und ich merke, was im Leben wirklich wichtig ist.
Was wirklich hilft
Seltsamerweise höre ich in dieser Zeit von mehreren anderen Frauen, dass sie auch eine oder sogar mehrere Fehlgeburten hatten. Diese Frauen können mich am besten verstehen und helfen mir durch ihr Zuhören, ihr eigenes Erzählen, ihre Worte. Ich merke, dass diese Frauen wissen und am eigenen Leib erlebt haben, wovon sie reden. Von ihnen kommen keine Pauschalantworten wie: »Du bist doch noch so jung! Du hast ja schon ein Kind! Sei dankbar dafür! Dein Sohn braucht dich jetzt. Du kannst ja wieder schwanger werden. Das geht vielen so. Du bist halt keine robuste Person …« Derartige Antworten bekomme ich auch zu hören. Ich versuche zu verstehen, dass viele nicht wissen, was sie sagen und wie sie reagieren sollen, und dass wohl die meisten ihre Worte gut meinen. Ich fühle mich von ihnen aber nicht wirklich verstanden.
Was mich vielmehr ermutigt, sind Sätze wie: »Jede Frau erlebt und verarbeitet eine Fehlgeburt anders. Gib und nimm dir jetzt Zeit, um zu realisieren, was alles in dir vor sich geht, um deine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Weine, wenn dir danach zumute ist. Lass dir Zeit, von deinem Kind Abschied zu nehmen. Versuche das zu sehen, was du hast, und freue dich daran, zum Beispiel an deinem Mann und an deinem Kind. Akzeptiere nach und nach, dass das zum Leben gehört. Das ist die Realität. Wenn deine Gefühle in der nächsten Zeit sehr schwanken, dann hängt das auch mit dem Hormonwechsel zusammen, den du durchmachst. Suche jetzt viel Nähe zu lieben Menschen und Freundinnen, die dich verstehen. Sprich über das, was in dir vorgeht. Meide Menschen, die dich mit fertigen Antworten abspeisen, die dich stressen und dir die Kraft rauben.« Ja, und ich meide derartige Menschen. Ich überlege mir sehr gut, wem ich von meinem Erleben erzähle und wem nicht, welche Antworten ich vertragen kann und welche nicht.
Die nächsten Tage werden nicht leicht. Ich versuche, den Schmerz zuzulassen, aber es ist jedes Mal ein Kampf. Von zwei Freundinnen bekomme ich Blumen. Einen Strauß Rosen und einen großen Strauß mit riesigen Sonnenblumen. Die Blumengeschenke freuen mich sehr. Ich erinnere mich auch an eine Karte von einer selbst betroffenen Frau, die mich ermutigt. Auch von meiner Mutter bekomme ich einen Brief, in dem steht, dass sich meine Eltern und Geschwister sehr auf das Baby gefreut hätten. Noch jemand, der unser Kind ins Herz geschlossen hat. Mitten in meinem Dunkel gibt es doch immer wieder Lichtblicke – sei es durch ein liebes Wort, eine mitfühlende Geste, eine Umarmung, Zuhören …
Verarbeitung in der Stille
Mein Rucksack ist schwer, zieht mich nach unten, fordert meine letzte Kraft. Ich trage Schmerz, Erschöpfung, Schuldgefühle und Angst mit mir herum. Meine Reise geht ins Tessin, wo eine Woche Stille auf mich wartet, »Geistliche Übungen« genannt. Das Thema lautet: »Zur Ruhe kommen bei Gott«– das, wonach ich mich im Innersten sehne.
Ich bin äußerlich still, aber umso mehr wird mir meine Unruhe bewusst. Ich kämpfe zuerst gegen meine Gefühle, gegen die Tränen und die Trauer. Ich habe Angst, dass mich der Schmerz überrollt. Es fällt mir schwer, »schwach« zu sein und mich gehen zu lassen. Aber jedes Mal, wenn es doch möglich ist, spüre ich Erleichterung.
In meinem Tagebuch halte ich den Trauerprozess täglich fest. Schreiben hilft mir. Es hilft, meine Gedanken und Gefühle und den Schmerz in Worte zu fassen, sie auszudrücken und bewusst zu machen.
Wo bist du, Kind?
Ich suche dich –
doch du bist nicht mehr da;
gegangen, aus mir, weg.
Nichts bleibt –
nur der Schmerz,
ungeweinte Tränen,
Verlust und Trauer.
Ich fühle mich leer,
einsam, verlassen –
unendlich müde.
Wo bist du, Gott?
Ich kann dich nicht finden.
Fremd bist du mir geworden.
Mein Kind hast du mir genommen.
Warum?
Für was?
Erst gibst du, dann nimmst du.
Dein Schweigen quält.
Sprich doch ein Wort –
dein Wort für mich!
Ich bitte Gott um die »Gabe der Tränen«, denn ich merke, dass ich das Weinen nicht erzwingen kann, dass aber trotzdem eine Sehnsucht in mir ist, zu weinen und zu trauern, weil die Tränen innerlich brennen und geweint werden wollen. Mir wird auch bewusst, dass ich Zeit brauche und dass das Erlebte nicht von heute auf morgen »gelöst«, betrauert und abgeschlossen ist. Ich könnte es wegschließen, unterdrücken, verdrängen, aber dann würde es im Unterbewusstsein weiterquälen. Ich bitte Gott, dass er mit mir in meinem Tempo durch den Schmerz geht.
Mir wird klar, dass ich meine Tochter nicht innerhalb von ein paar Tagen loslassen muss, aber dass ich mich mit meinem Kind zusammen Jesus überlassen darf – seiner Liebe, Obhut, seinem Blick und seiner Nähe.
Wenn ich Musik höre und sie in mir klingen lasse, dann wird auch meine Seele berührt, und ein Ventil öffnet sich.
Ich gebe meiner Tochter einen Namen. Sie soll nicht namenlos bleiben. Salome. Friede. Im Namen drückt sich meine Sehnsucht nach innerem Frieden aus, die Sehnsucht, bald auch über diesem Verlust zur Ruhe zu kommen. Noch einmal schreibe ich meiner Tochter, diesmal spreche ich sie mit ihrem Namen an:
Salome, ich sehne mich nach dir. Ich wüsste gerne, wie du ausgesehen hättest – deine Augen, dein Gesicht. Ich möchte dich in meinen Armen halten und liebkosen, möchte dich schützen und versorgen. Ich hätte so gerne erlebt, wie mein Bauch mit dir wächst, doch das wird ein Wunsch bleiben. Ich vermisse es, keine Kindsbewegungen von dir in mir spüren zu dürfen – nachts, wenn ich wach liege, oder auch am Tag. Ich wäre so froh gewesen, dich lebend zur Welt zu bringen, doch tot bist du geboren – als Abort verloren gegangen, ausgeschabt, ein Häuflein Gewebe, zur Unkenntlichkeit entstellt. Ich muss an all die Kinder