Sabine Herold

Bin kaum da, muss schon fort


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      Am Abend des ersten Advents ging dann ein etwa mandarinengroßer Klumpen weg – weg in die Kanalisation. Jetzt war es doch passiert. Ich hatte dieses bereits geliebte Kind in der neunten Schwangerschaftswoche verloren. Ich war todunglücklich und untröstlich.

      Die Tage darauf waren sehr schlimm. Ich lag meistens im Bett. Meine Buben wurden von meiner Mutter umsorgt. Sie konnten mich in diesen Tagen wohl nicht verstehen und wussten nicht, weshalb ihre Mami im Bett lag und so viel weinte. Ich nahm mich ihnen gegenüber so gut wie möglich zusammen. Wir klärten sie nicht über die wahren Gründe auf. Das kam erst viel später. Im Nachhinein würde ich unseren älteren Sohn sofort informieren. Es wäre für ihn wahrscheinlich einfacher gewesen, und er hätte meinen Seelenschmerz schon verstanden. Nachher ist man sowieso meistens klüger.

      Die ersten Tage nach der Fehlgeburt war ich sehr müde und fühlte mich leer. Ich wurde immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt und schrie den Schmerz ins Kissen. Wo war da Gott? Weshalb hatte er mir dies angetan? Ich verstand ihn nicht. Ich fühlte mich von ihm betrogen: So, als hätte er mir den Speck durch den Mund gezogen. Ich nahm es Gott ziemlich übel und machte ihn lange für mein Unglück verantwortlich.

      Am nächsten Tag stellte der Arzt bei einer Ultraschalluntersuchung fest, dass das Kind wirklich weg war. Das tat sehr weh. Wieder ein paar Tage später musste ich dann ins Krankenhaus zur »Auskratzung«. Das war am 6. Dezember 2003. Auch dort konnte ich meinen seelischen Schmerz nicht unterdrücken. Ich weiß noch gut, wie mir die Tränen ununterbrochen über die Wangen liefen und ich unterwegs in den Operationssaal von zwei Krankenschwestern betreut wurde, die mir sachte übers Haar strichen und mit mir über den Verlust dieses Kindes sprachen.

      Ganz lieb war an diesem Tag meine Schwiegermutter. Sie saß beim Aufwachen aus der Narkose schon an meinem Krankenbett und weinte mit mir. Sie hatte selbst ein paar Kinder verloren und konnte richtig mit mir mitfühlen. Sie konnte mir mit ihrer Gegenwart etwas geben, was nicht einmal meine Mutter gekonnt hätte. Heute kann ich sagen, dass diese Fehlgeburt meine Schwiegermutter und mich näher zueinander gebracht hat – und das ist sehr wertvoll! Meine Freundin war auch gleich zur Stelle. Sie war eine der wenigen, die von meiner Schwangerschaft überhaupt wussten. Sie hatte sich zusammen mit ihrem Mann so fest auf das Kind gefreut. Nun brachte sie mir ein ganz schönes und besonderes Geschenk mit ins Krankenhaus. Es war eine Tonfigur zum Aufstellen: ein Engel (ein Kind) mit einem kleinen Engel (einem Baby) im Arm. Heute steht diese Figur in unserem Schlafzimmer und erinnert mich immer wieder an unseren kleinen Engel im Himmel. Am meisten Trost, Kraft und neuen Lebensmut haben mir in dieser Zeit aber meine beiden Buben gegeben. An ihnen konnte ich mich freuen! Ich hatte ja bereits zwei gesunde Kinder, die mich brauchten und für die ich da sein wollte. Sie waren im ganzen Leid mein allergrößter Trost.

      Auch mein Mann versuchte, mich in diesen schweren Stunden zu verstehen und zu trösten. Er fühlte sich aber selbst so hilflos und war in gewisser Weise überfordert. Überfordert mit mir und der ganzen Situation. So widmete er sich bald wieder seiner Arbeit und schaute positiv nach vorne. So schnell konnte ich das nicht. Ich musste zuerst noch mit dem Erlebten fertig werden. In diesem Punkt war ich allein, da musste ich selbst durch.

      Doch es war erstaunlich, wie offen und mitfühlend sich die meisten Leute um mich herum verhielten. Viele Frauen berichteten mir von gleichen oder ähnlichen Erlebnissen. Ich war also nicht allein. Ich war überrascht, wie viele Frauen eine oder mehrere Fehlgeburten erlebt hatten. So etwas kann auch verbinden. Das berührte mich sehr und half mir über den Verlust hinweg. Während ich noch krankgeschrieben war, begann ich, unsere Fotoalben mit Fotos anzufüllen. Seit zwei Jahren hatte ich sie nicht mehr weitergeführt. Diese Arbeit war auch Balsam für meine Seele. Auf den Fotos konnte ich so viel Schönes noch einmal durchleben. Wie reich beschenkt war ich doch mit meiner Familie!

      Trotzdem war es eine sehr traurige Weihnachtszeit. Stets wurde ich wieder an das Erlebte erinnert, und oft fühlte ich mich allein. Klar trauerte auch mein Mann. Für ihn war es aber trotzdem nicht das Gleiche. Er war diesem Kind noch nicht sehr nahe gewesen, hatte es weder gesehen noch gespürt. Er hatte sich auch kaum Gedanken über die Zukunft gemacht. Da sind wir Frauen einfach viel näher am Kind. Für ihn war jedoch nach der Fehlgeburt sofort klar, dass er weiterhin ein drittes Kind wollte – unbedingt, oder jetzt erst recht. Er war auch sehr zuversichtlich und optimistisch. Das half mir manchmal; manchmal machte es mir Angst. Was, wenn es nicht mehr klappen sollte?

      Trotz meiner Fehlgeburt wollte ich sofort wieder schwanger werden. Es gab da für mich kein Warten. Ich stürzte mich in meine Arbeit als Lehrerin, Mutter und Hausfrau. Zwischendurch ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf, weinte und trauerte still für mich. Die Umwelt vergaß die Fehlgeburt schnell. Das tat manchmal weh! Ein Gedanke tröstete mich aber stets: Ich wusste, dass unser verlorenes Kind jetzt bei Gott war. Dort ging es ihm gut – es war glücklich und dem himmlischen Vater nahe. Es würde im Himmel auf mich warten, und eines Tages würde ich es sehen und in meine Arme nehmen können. Dieser schöne Gedanke gab mir auch eine andere Sicht auf den Tod. Bisher hatte ich mit etwas Angst an den Tod gedacht. Nun aber bekam er einen anderen Geschmack. Mein Kind wartet im Himmel auf mich. Darauf freue ich mich heute.

      Im Februar wurde ich noch einmal heftig mit meiner Fehlgeburt konfrontiert. Bei drei Frauen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis wurde nämlich langsam ein Bäuchlein sichtbar. Irgendwie war es schon gemein. Diese Frauen hatten das, was ich mir auch so fest gewünscht hatte. So gerne hätte ich jetzt auch mein wachsendes Bäuchlein gezeigt. Eine dieser Frauen hatte den gleichen Geburtstermin, den ich mit meinem Baby gehabt hätte – den 8. Juli 2004. So sehr ich mich für diese Frauen freute, so groß war auch mein Schmerz. Doch dieser Schmerz ging wieder vorbei – es war nur eine kurze Attacke.

      Dann im März, nach nur drei Monaten, war auch ich wieder schwanger. Der errechnete Geburtstermin war der 19. November. Also würde ich noch in diesem Jahr ein Kindlein in den Armen halten können, und dies, noch bevor die Fehlgeburt sich jähren sollte. Im ersten Moment war ich außer mir vor Freude, doch sehr bald stellte sich Angst ein. Heute denke ich, dass ich die Fehlgeburt noch zu wenig verarbeitet hatte. Die Wunde war noch zu wenig verheilt.

      Viele Gedanken kreisten in den ersten Tagen und Wochen in meinem Kopf. Was, wenn sich meine Erfahrung einer Fehlgeburt wiederholen würde? Wieso sollte ich gerade dieses Kind behalten können? Es gibt schließlich Frauen, die haben mehrere Fehlgeburten nacheinander. Zu meinem eigenen Schutz wollte ich mich noch nicht zu früh freuen. Bald ging ich zum Frauenarzt. Dieser nahm mich ernst und untersuchte mich in den darauf folgenden Wochen häufiger, als es üblich ist. Er wollte mir dadurch Sicherheit vermitteln und mir die Ängste nehmen. Er meinte auch, dass meine Ängste berechtigt wären. Eine Fehlgeburt hinterlasse immer Spuren. Ich solle aber zuversichtlich sein, denn es bestehe kein Grund zur Besorgnis. Ich war ihm dankbar für sein Verständnis. Es verlief dann auch alles sehr gut, und das Baby entwickelte sich prima.

      Etwa in der zwölften Schwangerschaftswoche versicherte mir der Arzt, dass ich dieses Kind behalten würde und mir wirklich keine Sorgen zu machen bräuchte. Bei mir wollte sich aber trotzdem noch keine Freude breit machen. Ich kannte Frauen, die hatten ihr Kind auch später noch verloren. So sagte ich mir, dass ich es erst in der 15., 16. Woche glauben würde. Und so schob ich diesen Termin hinaus und weiter hinaus. In der 17. Schwangerschaftswoche spürte ich dann die ersten Kindsbewegungen. Das war genau am 5. Juni. Wir waren unterwegs zu einer Hochzeitsfeier. Es waren ganz feine Bewegungen, fast wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Jetzt wollte ich glauben, dass es gut gehen würde mit dieser Schwangerschaft.

      Ich wurde jedoch weiterhin von Ängsten und Sorgen geplagt. Irgendetwas würde noch passieren, so sagte ich mir. Zudem hatte ich ständig das Gefühl, es würde bluten. Wie oft habe ich ein WC aufgesucht und nachgesehen, ob ich Blut entdecken würde. Zu Hause, bei Freunden, in der Stadt oder wo auch immer. Täglich!

      Inzwischen war ich in der 22. Schwangerschaftswoche, und zusammen mit meinem Mann und den Buben waren wir beim Arzt. Bei der Ultraschalluntersuchung sahen wir das kleine Menschlein. Alles war in bester Ordnung. Doch vor dieser – und auch jeder anderen Untersuchung – hatte ich große Angst. Bereits auf dem Weg zum Arzt hatte ich weinen müssen und war ganz verkrampft und angespannt gewesen. Nach der Untersuchung – dem Baby ging es gut – war die Erleichterung so groß, dass ich wieder nur weinen konnte. Ich war