unter dem Grölen der anderen.
»Na, wer will sie zuerst haben?«
»Harro, verdammt, das ist kein Spaß mehr. Das könnt ihr doch nicht machen«, kreischt Martina.
Pia ist starr vor Schreck. Selbst als sie niemand mehr festhält, kann sie nicht aufstehen.
»Guck mal, sie wartet schon«, hört sie wieder Harros Stimme. »Nee, Martina, wer’s mit dem eigenen Alten treibt, der treibt’s auch mit ’ner ganzen Gruppe.«
Pia versucht verzweifelt, sich aus der Starre zu befreien. Sie muss abhauen. Weg hier.
Doch da drückt sie schon wieder jemand zu Boden. Legt sich schwer auf sie. Pia spürt einen gleißenden Schmerz, dann versinkt sie in loderndem Schwarz.
Hat sie überhaupt irgendwas gesagt? Verunsichert schaut Pia auf. Erschrockene Augenpaare begegnen ihr. Schwester Grisaldis sieht aus, als hätte sie geweint. Pia schluckt. Wieder so ein Sprung in der Zeit, in die Vergangenheit, in der sich nichts verändert hat. Alles noch genauso ist wie damals. Genauso schrecklich, erniedrigend, verwirrend. Zitternd kauert sie auf ihrem Stuhl. Sie wagt keinen zweiten Blick in die Runde.
»Pia«, sagt der Englischlehrer nach einem Räuspern, »danke für Ihre Offenheit. Es ist entsetzlich, was dort am Rhein geschehen ist. Es tut mir sehr, sehr Leid, dass Sie das durchmachen mussten.«
Die anderen Lehrer nicken zustimmend.
»Und das konntest du uns in der Nacht oder am nächsten Tag nicht sagen?« Schwester Grisaldis’ Stimme klingt brüchig. Das Siezen hat sie völlig vergessen.
Pia schüttelt den Kopf. »Nein, es … es war unmöglich. Schwester Libora, die Mädchen – die Jungen, sie alle haben mich doch für eine Hure gehalten.«
Schwester Grisaldis zuckt zusammen.
»Aber ich wollte das mit meinem Vater nicht und auch nicht das mit den Jungs«, flüstert sie.
»Nein, natürlich nicht«, sagt die Direktorin schnell. »Das wissen wir, Pia. Ich werde mit Schwester Libora reden. Mir ist klar, dass du bei ihr keinen leichten Stand hattest.« Ganz blass ist die sonst so gesund aussehende Nonne, und ihre Hände zittern.
»Die Schule war danach nur noch ein Spießrutenlauf«, fährt Pia fort, als hätte sie die Worte der Schwester gar nicht gehört. »Sie haben ja die Kommentare der Mädchen nicht gehört, und schon gar nicht die von den Jungen.«
»Was für ein Alptraum«, fährt die Psychologielehrerin dazwischen. »Die besagten Jungen müssen der Schule verwiesen werden.«
Diesmal nickt niemand.
»Ich wollte nicht mehr reden, nicht mehr leben. Niemand hat mich gefragt, was los war.« Pia fühlt plötzlich eine Menge Wut. »Auch Sie nicht, Schwester Grisaldis. Sie wollten auch lieber glauben, dass ich gestört bin, als dass an Ihrer Schule so etwas vorkommt. Sie wollten lieber glauben, dass ich eine Hure bin, so wie Schwester Libora, nachdem die Mädchen ihre Version der Geschichte erzählt hatten.«
»Wie bitte?«, fragt die Nonne tonlos.
»Ja, dass ich es mit allen Jungen getrieben hätte, das haben die Mädchen erzählt. Und sie zum Alkohol verführt hätte. Und das hat Schwester Libora nur allzu gern geglaubt. Und Sie auch.«
»Nein, Pia, das ist nicht wahr. Schwester Libora hielt dich für gefährdet. Du hast ja nicht mehr mit ihr gesprochen. Mit niemandem mehr. Und nichts mehr gegessen. Ich habe dich schon immer für sehr klug gehalten, Pia. Und für ausgesprochen verantwortungsbewusst.«
»Und warum haben Sie mich dann nie dazu befragt? Sondern mich lieber in die Klapse überwiesen? Gut, Sie haben mich über das Thema Verantwortung schreiben lassen. Sie alle« – Pia sieht die Deutsch-, die Psychologie- und die Philosophielehrerin an – »haben mir eine Eins gegeben. Aber niemand von Ihnen hat mich zu dieser Nacht befragt. Niemand. Warum?«
Betretenes Schweigen macht sich im Konferenzzimmer breit. Wie abgesprochen starren die Lehrer auf den Tisch, als läge dort eine Antwort auf Pias Frage.
»Ich möchte«, sagt Pia langsam, »noch einmal beantragen, in die dreizehnte Klasse versetzt zu werden. Trotz meiner hohen Fehlquote, weil ich … in Notwehr gehandelt habe.« Der letzte Satz legt sich wie eine Glasglocke über die knisternde Stille des Konferenzzimmers.
»Würden Sie bitte einen Moment draußen Platz nehmen? Ich rufe Sie in wenigen Minuten wieder herein«, durchbricht der Englischlehrer die Wand aus Schweigen, und fast erleichtert verlässt Pia den Raum.
Sie setzt sich auf die Bank, wo sie vor Jahrhunderten, scheint ihr, den Roman in die Ecke gefeuert hat. Wenn doch ihre Freundinnen hier wären, dann würde sie sich sicher nicht so elend fühlen.
Mit Phil hat sich doch noch alles zum Guten gewendet. Fast alles, korrigiert sich Pia. Sie ist nämlich nach wie vor schwer begeistert von Phil. Und muss immer noch ständig gegen die Schmetterlinge im Bauch ankämpfen, wenn sie sie ansieht. Und wenn sie mit ihr allein ist. Und wenn Phil Musik macht. Sie spielt Klavier und hat sogar schon Preise gewonnen, den ersten mit sechs Jahren! Seit zwei Wochen gibt es nicht einmal mehr einen Rainer in ihrem Leben. »Der wollte immer nur Sex«, hat sie Pia gestanden und sich sogar bei ihr entschuldigt für den verpatzten Nachmittag. Wie das kam, ist Pia schleierhaft – sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als mit ihr darüber zu reden. Genauso wenig spricht sie mit Phil über das, was sie für sie empfindet. Lieber nicht. Im Sportunterricht duscht Pia nie mit ihr zusammen. Und auch sonst versucht sie, immer einen Tisch oder etwas Ähnliches zwischen sich und Phil zu bringen. Auch Andrea und Nesè haben sich mit Phil angefreundet, weil sie ja wirklich toll ist. Und jetzt gehört sie zur Clique dazu. Hundert Pro.
»Sie können nun hereinkommen.« Mitten in ihre Grübeleien hinein hat der Englischlehrer die Tür geöffnet. Ihm ist überhaupt nicht anzusehen, was beschlossen wurde.
Pia atmet einmal tief durch, dann erhebt sie sich und folgt dem Lehrer zurück ins Konferenzzimmer.
»Unsere Entscheidung ist uns nach dem, was wir heute von Ihnen erfahren haben, nicht schwer gefallen.« Schwester Grisaldis hat offenbar ihre Fassung zurückgewonnen und sieht wieder die junge Erwachsene mit dem schwierigen Antrag vor sich. Sie schiebt irgendwelche Papiere von einer Tischecke zur anderen.
Nervös rutscht Pia auf ihrem Stuhl herum. Dass Erwachsene es immer so spannend machen müssen!
»Sie sind Ihren Noten nach in der Lage, die Klasse dreizehn zu schaffen. Ihre Fehlzeiten haben nicht Sie allein zu verantworten. Im Gegenteil. Ihre Flucht hatte schwer wiegende Gründe, die wir alle hier nachvollziehen können. Seit Sie wieder bei uns sind, haben Sie großen Einsatz und sehr viel Bereitschaft gezeigt, sich in unseren Alltag zu integrieren. Ihre Schulleistungen sind mehr als befriedigend. Sie haben so viel Stoff nachgeholt, dass wir Ihrer Versetzung in die Klasse dreizehn bedenkenlos zustimmen können. Und noch etwas, Pia. Ich bin sehr froh, dass Sie an unserer Schule sind. Und über Ihr Vertrauen in diese Lehrerkonferenz. Wir werden das Gehörte selbstverständlich in diesem Raum lassen. Über die Konsequenzen für …«, sie stockt kurz, »einige Schüler an dieser Schule werden wir nachdenken, aber das soll Sie nicht belasten. So, das ist für den Moment alles. Gehen Sie mit Ihren Freundinnen feiern.« Schwester Grisaldis nickt ihr aufmunternd zu.
»Danke«, sagt Pia.
»Hey, wie war’s?« Mit großen Fragezeichen in den Augen sitzen Nesè, Phil und Andrea auf der Bank.
»O Gott«. Nesè schluckt. »Sie haben deine Bitte abgelehnt!«
Pia atmet tief aus. »Nein, haben sie nicht.«
»Na, und warum jubelst du dann nicht?« Phil schüttelt fassungslos den Kopf. »Lieber Himmel, Pia, die haben dir gerade ein komplettes Jahr geschenkt. Und du guckst, als hätten sie dich drei Jahre zurückgestuft.« Sie umarmt Pia stürmisch.
»Nein, Phil … Tu das nicht.« Pia stößt Phil heftig zurück. Und bevor jemand etwas tun oder sagen kann, hat sie sich umgedreht und rennt. Nur weg hier, weg.
Ihre jagenden Schritte hallen an den Wänden der langen