wir jedoch zu einem ablehnenden Beschluss kommen, wollen wir Ihnen Gelegenheit geben, dazu Stellung zu nehmen.« Der stellvertretende Schulleiter, Direktor Hammer, zieht die linke Augenbraue hoch.
Ablehnender Beschluss? Aber alle Arbeiten waren doch okay, viele sogar sehr gut! Pia räuspert sich. »Ja, also die Fehlzeiten …«
»Etwas lauter bitte, wir alle möchten hören, was Sie vorzubringen haben«, lässt sich Direktor Hammer vernehmen. Er klingt gereizt.
Pia räuspert sich erneut. Ihr Blick begegnet dem von Schwester Grisaldis. Na los, scheint sie zu sagen. Mach schon, das ist deine Chance.
»Mit den Fehlzeiten, das ist tatsächlich der wunde Punkt«, sagt Pia nun wesentlich lauter.
Ein Schmunzeln geht durch die Runde.
»Wie kann ich Ihnen das erklären?« Pia seufzt. Schweigend sieht sie ihre Lehrer an. Einige kennt sie nicht.
»Fräulein Drews, wir haben leider nicht den ganzen Tag Zeit. Also, wenn Sie bitte so freundlich wären …« Direktor Hammer runzelt die Stirn.
»Im letzten Schuljahr hatte ich einige Probleme«, startet Pia den zweiten Versuch. Alle Lehrer sehen sie aufmerksam an. Pia fällt der Aufsatz ein, der in allen Fächern mit Eins bewertet wurde. Verantwortung für das eigene Handeln, denkt sie. Das wollen sie hören! Wenn ich das rüberbringe, kann ich das Blatt vielleicht noch wenden. »Im letzten Schuljahr habe ich irgendwie die Kontrolle über mein Leben verloren.«
Einige Lehrer nicken. Ihr Englischlehrer beugt sich vor und betrachtet sie aufmerksam. Möglicherweise mag er mich, denkt Pia plötzlich.
»Das lag daran, dass … dass ich versucht habe, wie die anderen Mädchen zu sein.«
Schwester Grisaldis lächelt zustimmend. Alle Lehrer lauschen erwartungsvoll. Die meisten sehen wirklich interessiert aus.
»Ich bin schon seit mehr als fünf Jahren hier. In meiner Familie konnte ich nicht weiterleben. Es war zu schwierig, wegen …« Pia schluckt. »Wegen meines Vaters.«
Einige Lehrer nicken erneut. Sie kennen die Geschichte.
»Die Mädchen aus meiner Gruppe haben das herausgefunden. Sie haben mich deswegen manchmal ziemlich … gequält«, erklärt sie zögerlich. »Die anderen Mädchen sind hier, weil die Eltern eine gute Ausbildung für sie wollen oder weil sie so viel arbeiten müssen, dass sie sich um ihre Töchter nicht kümmern können. Bei mir ist das anders. Das Jugendamt hat mich hier untergebracht. Das Anderssein war sehr schwer für mich. Ich habe versucht, Freundinnen in meiner Gruppe zu finden. Ich habe versucht, ihnen zu beweisen, dass ich genauso bin wie sie, dass ich auch mit Jungen …« Sie bricht ab. »Dass ich das mit meinem Vater nicht wollte.«
Im Konferenzraum ist es so still, dass Pia kaum zu atmen wagt. Sie hat plötzlich Angst, die Stille zu durchbrechen. Aber sie muss weiterreden. Sie will mit Andrea in einer Klasse bleiben.
»Ja, und eines Abends ist das Ganze dann eskaliert.«
»Na, Pia, kommst du heute Abend mit zur Rheinparty, oder treibst du es nur mit alten Männern?« Walburga sieht provozierend auf Pia hinab, die so sehr in ihre Matheaufgaben vertieft gewesen ist, dass sie die Mitschülerin gar nicht hat kommen hören.
Pia steht instinktiv auf. Sie hasst es, wenn jemand auf sie herabsieht. »Was?« Sie hofft, dass ihre Frage drohend klingt, obwohl sie den Sinn von Walburgas Worten überhaupt nicht kapiert hat. Nur, dass sie nichts Gutes im Schilde führt.
»Kommst du mit zur Rheinparty heute Abend, hab ich gefragt«, wiederholt Walburga.
»Nee«, will Pia das Gespräch schroff beenden.
»Wusst ich’s doch. Du stehst nur auf Männer, die dein Vater sein könnten.«
Pia spürt, wie sie blass wird. Aufspringen und die Mitschülerin zu Boden reißen ist eine Bewegung. »Du Ekelpaket«, zischt sie.
»Das wissen doch alle«, verkündet Walburga, während sie sich mühsam aufrappelt.
»Was, was wissen alle?« Ihr wird schwarz vor Augen. Sie kennt die Antwort schon. Walburga hat es herausgefunden. Alle wissen es. Ihr Schädel dröhnt, als würde ein ICE mitten hindurchfahren.
»Dass du es mit deinem Vater getrieben hast.« Walburga sieht sie triumphierend an. »Genau wie deine besten Freundinnen. Was das wohl für welche gewesen sind«, ergänzt sie höhnisch.
Als Pia das nächste Mal klar sieht, heult Walburga und blutet aus Mund und Nase. Pia registriert nur, dass ihr die Hand wehtut. Hat sie so zugeschlagen? Hoffentlich.
Da kommt schon Schwester Libora. Sie ist immer da, wo Pia ist. Und es vergeht kaum eine Woche, in der sie Pia nicht bestraft.
»Drews, sag mal, du hast wohl völlig den Verstand verloren.«
Walburga flüchtet zu Schwester Libora, die ihre Lieblingsschülerin sofort liebevoll in die Arme nimmt.
»Das wird ein Nachspiel haben!«
Da ist wieder dieser Hass in den Augen der Nonne, vor dem sich Pia fürchtet. Walburga schluchzt leise, aber immer wenn die Schwester nicht hinsieht, zieht sie hämische Grimassen.
»Das war Notwehr«, verteidigt sich Pia.
»Ach, du findest es wohl auch noch gut, deine Mitschülerin zusammenzuschlagen!«, schreit Schwester Libora. Sie vergisst Walburga in ihren Armen, holt aus und packt in Pias Haare. Ihr Griff fühlt sich an wie eine Kneifzange. Es tut höllisch weh.
»Küchendienst. Allein. In allen drei Küchen. Die ganze Woche. Hast du mich verstanden, du Satansbraten?«
Walburga, die unsanft weggerutscht ist, stellt sich neben die Nonne und feixt. Deren Griff tut so weh, dass Pia nicht sprechen kann. Später im Bad stellt sie fest, dass ihr Kopf blutet. Er pocht noch Stunden danach wie verrückt.
Die Mädchen aus ihrer Gruppe lassen es sich natürlich nicht nehmen, gemeinsam in der Küche aufzutauchen und ihr beim Schuften zuzusehen. Aber dabei bleibt es nicht.
»Mit Jungs in deinem Alter machst du es wohl nicht, wie? Eigentlich müsstest du in den Knast, nicht dein Vater.« Walburga geht es schon wieder richtig gut.
»Ja«, fällt eine andere ein. »Wahrscheinlich hat sie nur deshalb die guten Noten bei den Lehrern. Weil sie denen nach der Schule einen runterholt.«
Die anderen Mädchen lachen. Schweigend und verbissen putzt Pia weiter.
»Man darf den Schwanz von seinem Vater nicht anfassen, Pia. Das gehört sich nicht«, sagt Sigrid, die sich sonst eigentlich immer zurückhält.
Pia kocht vor Zorn. Auch darüber, dass sie sich so wahnsinnig schämt. Sie fühlt sich nackt und von oben bis unten bespuckt. Am liebsten möchte sie sterben. Einfach tot sein.
Sie stellt sich die Beerdigung vor. Die Mädchen mit betroffenen Gesichtern. »Oh nein, das haben wir nicht gewollt. Wir haben doch nur Spaß gemacht.« Ihr Selbstmord, natürlich mit dem entsprechenden Abschiedsbrief, lässt die anderen bis an ihr Lebensende nicht los. – Nein, es wäre ihnen scheißegal. Sie würden wahrscheinlich noch auf ihrer Beerdigung rumerzählen, sie sei eine Hure. Vor lauter Wut und Scham fühlt sich Pia so schwach, dass sie glaubt, jeden Moment tot umzufallen. Ein Selbstmord wird gar nicht mehr nötig sein.
»Aber vielleicht …« Lauernd sieht Martina sie an.
Martina ist genauso schlimm wie Walburga, wahrscheinlich schlimmer. Ein verlogenes Miststück, die es jedes Mal schafft, andere Mädchen in den Dreck zu ziehen und selbst als Musterschülerin dazustehen. Das hat sie schon mit Pia gemacht, aber auch mit Walburga und etlichen anderen. Sie hat immer die Nase vorn, wenn es um irgendwas Verbotenes geht, und alle Mädchen tun, was sie will. Wenn Martina eine Idee ausheckt, kann Pia todsicher davon ausgehen, dass es übel für sie enden wird. Deshalb dreht sie ihr den Rücken zu und beginnt das Geschirr vom Mittagessen in die Spülmaschine zu räumen.
»Du könntest uns natürlich beweisen, dass du doch auf Jungs in deinem Alter stehst. Zeig uns,