schwarz. Sie thront dahinter auf einem erhöhten Sessel und starrt von oben auf die Schülerinnen herab, die zu ihr müssen, wenn sie etwas angestellt haben. Ausbruch aus der Psychiatrie und vier Monate Trebe reichen dicke, um dahin zitiert zu werden.
»Ich möchte wissen, wie du dir dein Leben hier vorstellst. Zeit genug, dir darüber Gedanken zu machen, hattest du ja wohl.«
»Schwester Grisaldis, ich …« Krampfhaft versucht Pia, einen klugen Gedanken auszusprechen. Klug in ihren Augen auf jeden Fall. Aber allein schon, wie sie Pia ansieht, macht logisches Denken unmöglich.
»Ich höre, und ich habe weiß Gott nicht den ganzen Tag Zeit.« Ungeduldig trommelt die Direktorin mit ihren Fingern auf die Schreibtischplatte.
»Ja, ich habe mir Gedanken gemacht, ich meine, wo ich doch entschieden habe zurückzukommen.«
»Weiter, Fräulein Drews. Ich warte.« Die Schwester beugt sich vor.
»Ich halte es in der Gruppe von Schwester Libora einfach nicht aus. Wirklich, sie hasst mich, und das war von Anfang an so. Immer, wenn etwas passiert ist, hat sie mich dafür verantwortlich gemacht. Und die anderen Mädchen waren immer die Engel.«
»Pia, mir scheint, du hast nicht allzu viel begriffen. Meinst du vielleicht, uns ist es leicht gefallen, dich in die Psychiatrie überweisen zu lassen? Was immer die anderen Mädchen gemacht haben, du warst es, die sich hat voll laufen lassen und die sich mit Jungen herumgetrieben hat.«
Pia will schreien, aber in diesem Augenblick erhebt sich die Direktorin.
»Und es ist vollkommen gleichgültig, was die anderen Mädchen dazu beigetragen haben, denn du allein trägst die Verantwortung für dein Handeln. Du allein, hast du das verstanden?«
Absolut hoffnungslos, denkt Pia. Es hat einfach keinen Sinn. Auch sie glaubt nur den anderen.
»Sieh mich bitte an, wenn wir miteinander sprechen. Und hör mir jetzt ganz genau zu.« Die Schwester klingt fast freundlich und Pia horcht auf. Sie nickt vorsichtig. »Ich kenne dich seit mehr als fünf Jahren. Anfangs haben wir uns alle sehr große Sorgen um dich gemacht. Dann habe ich festgestellt, was für ein außergewöhnliches Mädchen du bist. Lange dachte ich, dass ein Mädchen wie du nicht in dieses Internat gehört.«
Pia sieht sie schnell an. Was meint die Direktorin damit? Ihre Stimme klingt so positiv, aber was sie sagt, ist wohl alles andere als das!
»Du bist außergewöhnlich intelligent und hast einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Bei allen möglichen Aktionen hast du viel für die Mädchen riskiert. Du hast in Kauf genommen, dich damit nicht nur bei Schwester Libora unbeliebt zu machen. Ist es nicht so, dass du dir mit deinem Einsatz für die Mädchen ihre Zuwendung erkaufen willst, uns Erwachsenen sowieso nicht traust und dir – in deiner Sprache ausgedrückt – scheißegal ist, was wir von dir denken? Ich möchte, dass du mir ehrlich antwortest, denn ich bin auch ehrlich zu dir gewesen.«
Pias Herz rast. »Könnte schon stimmen«, murmelt sie.
»Ich hatte von Anfang an hohe Erwartungen an dich. Und auch das war falsch. Auch wenn ich weiß, wie intelligent du bist. Ich habe mich in den letzten Monaten sehr dafür eingesetzt, dass du zu uns zurückkommst. Ich werde dich in eine andere Gruppe geben.«
Pia hält den Atem an. Eine andere Gruppe, vielleicht, vielleicht bedeutet das …
»Nein, Pia, ich weiß, dass du am liebsten in die Regenstraße 7 umziehen willst, aber das halte ich für viel zu früh.«
Pias Hoffnungen stürzen wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
»Ich will, dass du in die Gruppe von Schwester Arnoldis wechselst. Du bist dort die Jüngste, wie du weißt. Für dich gelten die Regeln einer 16-Jährigen selbstverständlich weiter. Solltest du dich bewähren, können wir in einem halben Jahr über einen möglichen Umzug in die Regenstraße sprechen. Hast du das verstanden?«
Pia nickt.
»Gut, dann gibt es nur noch zwei Dinge zu sagen. Erstens ziehst du noch heute in die neue Gruppe um. Zweitens möchte ich bis zum Ende dieser Woche einen Aufsatz von mindestens zehn maschinengeschriebenen Seiten von dir sehen mit dem Thema: Was bedeutet verantwortliches Handeln? Und was bedeutet dies für mich selbst, bezogen auf mein bisheriges Leben, und für meine Zukunft? Dieser Aufsatz wird sowohl in den Fächern Deutsch und Philosophie als auch im Fach Psychologie bewertet. Herzlich willkommen zurück, Pia Drews.«
Das Gespräch mit Schwester Grisaldis war wirklich verwirrend. Aber alles, was sich seitdem verändert hat, ist einfach nur gut.
Pia seufzt. Sie sieht noch einmal die Treppen hinunter, aber Walburga ist längst nicht mehr zu sehen. Na ja, wenn Walburga die Neue bescheuert findet, ist das ein gutes Zeichen. Die beiden Mädchen, die aufgenommen wurden, als Pia weg war, findet Walburga total schrecklich, und sie sind richtig gute Freundinnen geworden. Andrea, ein Mädchen aus Kolumbien, wohnt sogar mit ihr in einem Zimmer. Nesè, die andere, ist leider nicht alt genug, sie wird noch fast ein Jahr warten müssen, bis sie in Schwester Arnoldis’ Gruppe kann.
Ein Segen, dass mittlerweile nicht mehr nur verwöhnte katholische Mädchen aus reichen Familien ins Internat aufgenommen werden. Andreas Eltern verstehen sich als jüdische Atheisten. Sie sind nicht gläubig, aber trotzdem Juden. »Das ist eine Volkszugehörigkeit«, hat Andrea auf Pias verwunderte Nachfrage lachend erklärt. Nesè ist Muslimin, ihre Eltern sind in die Türkei zurückgegangen, Nesè soll nur noch die Ausbildung in Deutschland abschließen und dann nachkommen. Sie hatten wohl das Gefühl, nur in einem Mädcheninternat sei sie genügend beaufsichtigt. Wenn die wüssten, grinst Pia auf dem Weg zu ihrem Zimmer. Mädchen unter sich können die Hölle sein.
Nein, sie sind die Hölle! Zum Glück trifft das auf Nesè und Andrea überhaupt nicht zu. Sie würde gerne viel mehr Zeit mit den beiden verbringen, aber zuerst muss sie was für die Schule tun, wenn sie dieses Jahr nicht hängen bleiben will. Ein halbes Jahr Unterrichtsstoff nachholen, um die Aufnahmeprüfung für die dreizehnte Klasse zu schaffen, ist fast unmöglich. Und um die wird sie nicht herumkommen, nicht bei ihren Fehlzeiten! Wenigstens hat sie der verordnete Aufsatz in allen drei Fächern so gut wie gerettet. Sie muss es einfach schaffen, sie will mit achtzehn studieren.
Entschlossen zerrt Pia ihr Mathematikbuch aus der Schultasche und schlägt es seufzend auf.
Eine Hand haut ihr auf die Schulter und Pia fährt herum. Atemlos steht Andrea vor ihr. »Hast du eigentlich Nesè heute schon gesehen?«
»Du kannst einen wirklich zu Tode erschrecken. Guck dir das mal an, verdammt!« Pia hält Andrea ihr Heft entgegen. »Einmal quer über die ganze Seite, das habe ich dir zu verdanken.«
»Treffen wir uns mit Nesè im Keller?«
»Sorry, aber ich muss wirklich lernen.« Pia hält noch immer ihr Heft in der Hand.
»Ich helfe dir heute Abend. Du brauchst bestimmt mal eine Pause. Bis zum Abendessen ist es sowieso nur noch eine Stunde.«
Nachdenklich betrachtet Pia ihre Aufgaben. »Hast gewonnen«, grinst sie dann und wirft das Heft auf den Schreibtisch zurück.
Der den Nonnen abgetrotzte Keller ist richtig geil geworden. Es ist der einzige Raum, in dem die Mädchen wirklich ohne Aufsicht sind. Ab und zu rauchen sie hier sogar heimlich. Tja, ein Mädcheninternat ist nicht immer der Ort, den Eltern sich für ihre Kinder erträumen. Aber die Eltern von Andrea und Nesè sollen ruhig glauben, dass Nonneninternate die sicherste Sache der Welt sind, damit beide bleiben.
»Wir sollten darüber nachdenken, ob wir die Neue nicht in unseren Club aufnehmen«, fällt Nesè sofort mit der Tür ins Haus. »Die ist echt genial, glaube ich.«
»Ja, so was in der Art hat Walburga mir auch schon erzählt.« Pia lacht, als sie die verdutzten Gesichter ihrer Freundinnen sieht. »Sie meint, die Neue würde sehr gut zu mir passen. Hast du gerade was anderes gesagt, Nesè?«
Statt einer Antwort stopft sich Nesè eine Hand voll Erdnüsse in den Mund.
»Wieso