Adriana Stern

Pias Labyrinth


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uns finden.«

      »Ja klar, und jede Neue muss dann eine gefährliche Mutprobe um Mitternacht bestehen«, sagt Andrea spöttisch.

      »Au ja, cool.« Nesè strahlt. »Wir schreiben einen Geheimvertrag, den jede mit ihrem Blut unterzeichnet.«

      »Das ist was fürs Fernsehen, nicht fürs wirkliche Leben«, sagt Pia.

      »Da habe ich dir aber mehr Phantasie zugetraut. Wirklichkeit ist schließlich das, was wir zur Wirklichkeit erklären.«

      »Du solltest Philosophie studieren«, wirft Andrea ein.

      »Genau das habe ich auch vor. Frau Jensch hat es mir bereits empfohlen. Und überhaupt«, Nesè beugt sich vor, um neue Erdnüsse zu nehmen, »warum reden wir nicht ernsthaft über meine Idee?«

      Pia zwinkert Andrea zu. »Okay, dann erzähl mal, was du an uns so clubwürdig findest.«

      »Wir sind eben anders als die anderen Mädchen hier. Das reicht doch wohl, oder?«

      »Nee, so reicht mir das nicht«, widerspricht Andrea. »Anderssein und deshalb eine geschlossene Gruppe werden, finde ich superblöde.«

      »Dass wir anders sind als die meisten Mädchen hier, finde ich schon auch.« Pia runzelt die Stirn. »Aber wie anders, darüber habe ich noch nicht richtig nachgedacht.« Sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück, den sie letzte Woche erst auf einem Sperrmüllhaufen ergattert und mühselig in ihren Keller geschleppt hat.

      »Na ja, Andrea und ich zum Beispiel haben keine deutsche Staatsbürgerschaft«, schlägt Nesè vor.

      »Aber ich«, sagt Pia.

      »Dann kann es das nicht sein.«

      »Wir wollen eben etwas völlig anderes als die meisten Mädchen und deshalb sind wir anders«, versucht Andrea die Sache auf den Punkt zu bringen. Sie lächelt ein bisschen schief.

      Der Gedanke, dass ihr Außenseitertum sie verbindet, hakt sich plötzlich in Pia fest. »Wir sind anders, weil wir Außenseiter sind.«

      »Da ist was Wahres dran«, stimmt Andrea zu. Sie sieht Pia an. »Aber was macht dich zur Außenseiterin?«, fragt sie plötzlich, und Pia schießt die Röte ins Gesicht.

      »Ich, na ja …« Ihr bricht der Schweiß aus.

      Andrea sieht sie nachdenklich an.

      »Na ja, ich bin zum Beispiel nicht reich und würde normalerweise in einem ganz gewöhnlichen Heim leben. Das ist wahrscheinlich, was mich anders macht.« Pia lässt sich ihren Gedanken noch einmal durch den Kopf gehen. »Ja genau, bei allen anderen Mädchen zahlen die Eltern den Aufenthalt ihrer Töchter selbst. Bei mir bezahlt das Jugendamt.« Pia schweigt erschrocken. Das wollte sie nicht sagen.

      »Das könnte hinkommen«, sinniert Andrea. »Und warum bist du dann hier und nicht im Heim?«

      »Stimmt«, ereifert sich Nesè. »Von dir wissen wir fast gar nichts. Ich habe euch meine halbe Lebensgeschichte erzählt, und von Andrea weiß ich auch schon eine Menge. Aber du hast ein unnachahmliches Geschick darin, allen Fragen über dich auszuweichen. Ich weiß, dass du eine Ewigkeit hier bist, dass die Nonnen dich in die Psychiatrie gesteckt haben«, Nesè schüttelt sich, »und dass du auf Trebe warst. Aber warum, wieso, weshalb, darüber weiß ich nichts. Tja, Pia Drews, du bist definitiv total verschwiegen.«

      Andrea nickt. »Nesè hat Recht, Pia. Vielleicht sollten wir einen Club für Mädchen gründen, die außergewöhnliche Geschichten haben.«

      Pia grinst schwach.

      »Genau, und die Bedingung für die Aufnahme ist, dass ein Mädchen ihre Geschichte erzählen muss«, nimmt Nesè den Faden auf. Beide sehen Pia triumphierend an.

      »Okay, wenn das so ist, dann verzichte ich auf die Clubzugehörigkeit«, flüstert Pia und springt auf. Ohne sich noch einmal umzudrehen flieht sie aus dem Keller.

      »Pia, hey, bleib stehen.«

      Pia läuft schneller. Sie ist ein Ass in Sport, im Gegensatz zu Andrea, der es bestimmt verdammt schwer fällt, sie einzuholen. Und das soll es auch. Pia will nicht reden. Ihre Geschichte geht niemanden etwas an. Niemanden, wiederholt sie mit jedem Schritt. Plötzlich fühlt sie eine Hand an ihrem Pulloverärmel.

      »Pia, bitte, bleib jetzt stehen.« Andrea ist völlig außer Atem.

      Pia stoppt abrupt und dreht sich um. Sie funkelt die Freundin an.

      »Es tut mir Leid, total Leid. Es war doch gar nicht ernst gemeint.«

      »Hey, Scheiße, du weinst ja.« Erschrocken nimmt Pia Andreas Hand.

      »Ich dachte, du redest nie wieder mit uns. Das klang absolut ernst. Richtig endgültig.« Umständlich wischt Andrea die Tränen mit ihrem Pulloverärmel ab. »Kommst du jetzt bitte zu uns zurück?«

      Pia nickt verwirrt. Hat sie wirklich so endgültig geklungen?

      »Noch ’ne Cola da?«, fragt sie, als sie sich wieder in »ihren« Sessel fallen lässt.

      »Da biste ja wieder.« Nesè versucht lässig zu wirken, aber Pia merkt, dass ihr überhaupt nicht so zumute ist.

      »Tut mir Leid«, sagt sie. »Ich wollte euch nicht erschrecken. Manchmal bin ich wohl ein bisschen zu empfindlich.«

      Eine Weile sagt keine etwas.

      »Also, ich hab mir überlegt«, setzt Pia an, »wenn ihr wirklich wissen wollt, wie das war, bevor ich in die Klapse kam, erzähle ich es euch. Nach dem Abendessen.«

      »Nur wenn du willst«, erwidert Nesè vorsichtig.

      Pia grinst. »Und bekommt unser Club jetzt einen Namen?«

      Alle sehen sich an. Andrea nickt unmerklich. Nesè ist sowieso Feuer und Flamme. Ist schließlich ihre Idee.

      »Also, er muss damit zu tun haben, dass wir alle nicht so richtig hierher gehören«, denkt Andrea laut.

      »Und damit, dass wir immer ehrlich zueinander sind, auf alle Fälle zusammenhalten und uns gegenseitig helfen«, führt Nesè den Gedanken weiter.

      »Nennen wir uns doch die ›Independence Girls‹«, schlägt Pia vor.

      »Zu kompliziert«, wehrt Nesè ab.

      »Die ›No-Names?‹« Andrea sieht aber selbst schon so zweifelnd aus, dass es überflüssig ist, etwas dazu zu sagen.

      »Wir nennen uns die ›Pinas‹.« Nesè wirft einen kühnen Blick in die Runde. »Da sind alle unsere Namen drin. Die ersten beiden Buchstaben von Pia, das N von mir und das A von Andrea. Was sagt ihr?«

      »Und was machen wir, wenn wir eine Neue aufnehmen wollen?« Pia ist noch nicht überzeugt, obwohl Nesès Idee eindeutig die beste ist.

      »Wir sind die Gründerinnen, also beschließen wir den Namen. Die, die später kommen, müssen sich eben damit einverstanden erklären.«

      »Okay, vielleicht lassen wir es erst mal dabei«, zögert Pia.

      Der Keller sieht im Kerzenlicht wirklich aus, als fände hier ein ultrageheimes Treffen statt. Die Mädchen blinzeln sich verschwörerisch zu.

      »Auf uns Pinas.« Nesè senkt verschwörerisch die Stimme und sie stoßen mit Bananenkirschsaft auf ihren Club an.

      »Das neue Mädchen finde ich echt interessant«, eröffnet Pia das Gespräch. Ihr Herz rast.

      Komisch ist das mit Phil. So heißt die Neue. Philomena eigentlich, aber das ist wirklich ein blöder Name. Phil dagegen klingt richtig gut. Manchmal sind Eltern schon merkwürdig, denkt Pia. Phil ist nach einer Jugendromanfigur benannt. Viel mehr hat sie ihr noch nicht erzählt.

      Leider sitzt sie am Nebentisch. Jedes Mal, wenn sie beim Abendessen zu Pia herübergeschielt hat, ist Pia schlagartig heiß geworden und ihr Bauch hat wie verrückt gekribbelt. Hat sie sich so