Liselotte Welskopf-Henrich

Stein mit Hörnern


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Patient. Er hatte sich als hintergründig, unverständig und aufsässig erwiesen und den Heilerfolg gefährdet, der das Ansehen der Ärzte und der Klinik heben sollte. Die lange Zeit seiner Geduld war vergessen, der letzte Eindruck haftete. Nach dem Zornesausbruch des Chefarztes war es notwendig, den Patienten streng zu beobachten und genaue Regeln aufzustellen. Die Nachtschwester, die wegen mangelnder Aufmerksamkeit getadelt worden war, wurde korrekt bis zum Unerträglichen. Die normale Vernunft schien nach allgemeiner Auffassung dem Patienten King nicht gegeben. Sein Experiment hatte bewiesen, dass er psychisch wie körperlich zum Unerwarteten, ja für unmöglich Gehaltenen fähig war. Man musste ihn eher wie einen Wilden behandeln. Von irgendwoher begann das Flüstern, dass dieser Patient schon zweimal polizeilich vernommen worden und krimineller Delikte verdächtig sei. Der Ton änderte sich.

      Die einzige, der das Geschehen weder Worte des Bedauerns noch der tadelnden Belehrung, noch der laufenden Bevormundung entlockte, war die rotblonde, naiv lächelnde Schwester Kay.

      Wie Joe erfuhr, war sie die Tochter eines Bibliothekars und auf eigenen Wunsch Krankenschwester geworden. Sie brachte ihrem indianischen Patienten jetzt hin und wieder ein Buch mit, das weder in der Klinik noch in der Stadtbibliothek zu haben war, und sie verstand es so einzurichten, dass Joe ohne Hilfe und ohne sich zu schaden, umblättern konnte. Er interessierte sich für Geschichte und Sagen, Geographie und Ökonomie, auch für Betriebswirtschaft, und es gelang ihm beim Lesen, zeitweise in eine andere Welt zu entrinnen und seine Gedanken, die Marys Tod und der Hoffnungslosigkeit des eigenen Lebens verhaftet gewesen waren, wieder auf andere Gegenstände zu richten.

      Da er sich keine Aufzeichnungen machen konnte, lernte er ganze Abschnitte aus Büchern, die ihm wichtig erschienen, auswendig. Er freute sich, wenn durch die offenstehende Tür Schwester Kay hereinkam; es ermutigte ihn, dass seine geistigen Leistungen einen anderen Menschen überraschten und beglückten. Hin und wieder kam Schwester Kay eine halbe Stunde, um sich mit Joe King und den anderen Patienten zu unterhalten. Es fiel nicht auf, und die Patienten durchschauten nicht, dass Kay ihre Freizeit darangab. Aus allen vier Betten schien ihr Freundlichkeit entgegen wie eine milde, verschwimmende, nichts aufdeckende Helle.

      Welche Bedeutung Joes Fragen und seine kurzgefassten Urteile über das Gelesene hatten, war nur ihm selbst und Kay bewusst; was er dazu sagte, spielte für die übrigen keine Rolle, es ging für sie im Geplätscher des Geplauders über Leiden, Unfälle, Ärzte, Frauen, Wagen unter. Joes Leidensgenossen respektierten, dass die wenigen Äußerungen des Indianers zu diesen Themen sich stets auf Wagen und Straßen bezogen und von zuverlässiger, ausgebreiteter Kenntnis darüber zeugten. Auf Grund dieser Kenntnisse und seiner entschiedenen Sprechweise begannen sie, ihn für einen Mann von einem gewissen Ansehen zu halten – mochte dieses legal oder illegal sein – und die Annahme schien sie zu beruhigen. Die allgemeine Stimmung im Zimmer neigte sich wieder zu Joes Gunsten.

      Eines Tages jedoch wurde die Atmosphäre der Unverbindlichkeit zerstört, der Kreis sozialen Zusammengehörigkeitsgefühls gesprengt. Joe hatte wieder Fragen gesammelt. Schwester Kay stand zwischen seinem und dem Nachbarbett.

      »In Ihren Büchern ist zu lesen, Schwester, dass auch die weißen Männer und Frauen einst eine Stammesverfassung hatten. Das haben wir in der Schule nicht gelernt.«

      »Wir auch nicht, Mr King. Es ist so lange her, dass es schon nicht mehr wahr ist.«

      »Gibt es das?«

      »Was meinen Sie?«

      »Dass Wahrheit schwindet – dass Wahrheit unwahr wird?«

      »Ich habe es dahingeredet. Wenn Sie mich fragen und mich dabei ansehen – nein, das gibt es nicht.«

      »Ich denke, dass die ältesten Wahrheiten die besten sind – am längsten erprobt.«

      »Wenn sie standgehalten haben, ja. Aber was bleibt schon? Alles um uns stürzt und wandelt sich. Wir schreiten fort und begreifen nicht mehr, wie die Menschen früher dachten. Es war primitiv und unglaubwürdig, was sie gedacht haben.«

      »Wirklich?«

      »Götter, Geister, Gespenster, Hexen, und nicht einmal Autos konnten sie herstellen. Pyramiden – ja, will ich gelten lassen.«

      »Die ägyptischen oder die amerikanischen?«

      »Amerikanische …?«

      »Indianische Bauten, indianische Skulpturen.«

      »Ind … ach so, ja, die Maya.«

      »Die Inka, die Olmeken, die Maya, die Tolteken, die Azteken.«

      »Sie wissen das alles, Mr King.«

      »Aus Ihren Büchern.«

      »Ja. Auch die Indianer hatten ihre Zivilisation.«

      »Hatten.«

      Schwester Kay wurde knallrot bis unter die Haarwurzeln; ihre helle Haut durchblutete sich leicht und sichtbar. Sie hob den Kopf; man konnte in ihre peinlich sauberen, spaßhaft wirkenden Nasenlöcher hinein- und durch die rötlich schimmernden Nasenflügel fast hindurchsehen.

      »Verzeihen Sie, Mr King. Es ist schwer, vor Ihren Ohren zu plappern, weil Sie jedes Wort wiegen. Was lesen Sie jetzt?«

      »Göttersagen.«

      »Das interessiert Sie?«

      »Es ist mir nicht so fremd wie Ihnen. Ich bin ja noch ein primitiver und unglaubwürdiger Mensch.«

      »Spotten Sie wieder über mich, Mr King?«

      »Macht Ihnen das keinen Spaß? Ich spiele.«

      »Wie ein schwarzer Kater mit einer Maus.«

      »Mit einer weißen Maus. Aber sagen Sie mir bitte, Schwester, was das ist, Kultur, Zivilisation, Bildung. Sie haben das, Sie müssen es wissen.«

      »Ich stecke zu tief drin. Es ist wie eine Binde um meine Augen.«

      »Ich sehe es mehr von außen her … Nein, ich spotte nicht. Ernst. Was gehört dazu? Früher dachte ich, aufrichtig zu sein und hilfsbereit, aber das ist zu primitiv. Das steht ja schon in Ihrer Bibel, ist zweitausend Jahre alt.«

      »Und wurde auch damals gepredigt, weil es das nicht gab«, bemerkte der Patient im Nachbarbett am Fenster.

      »Bei wem nicht gab?«

      »Bei wem? Nun, sagen wir, im Römischen Reich unter Kaiser Augustus.«

      »Vielleicht waren die weißen Männer damals noch nicht zivilisiert.«

      »Doch – in gewisser Weise, ja – sie hatten ein stehendes Heer, Fußbodenheizung, Beamte und Sklaven.«

      »Sklaven gehören zur Zivilisation?«

      »Allerdings. Wie wollen Sie Kultur entwickeln, wenn Sie die Dreckarbeiten nicht abschieben können? Sklaven oder Maschinen.«

      »Sie geben mir Stoff zum Nachdenken, Mr Hunt, das ist nützlich für einen Gelähmten. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfsbereitschaft.«

      »Bitte, war gar nicht so gut gemeint.«

      »Man kann auch unbewusst helfen«, sagte Schwester Kay.

      »Ein Glück, denn ich glaube nicht, dass es jemand bewusst oder – sagen wir – uneigennützig tut. Uneigennützig, das gibt es überhaupt nicht, ausgenommen natürlich bei Schwester Kay und bei den Indianern.«

      Kay wurde wieder rot.

      Joe lächelte. »Warum soll es das bei Indianern geben?«

      »Mr King, ich habe in meinen Werkstätten einmal einen Indianer angestellt. Mit Bedenken, das sage ich Ihnen offen, denn das Volk will nicht bei der Arbeit bleiben, handelt noch zu irrational, gefühlsbetont. Aber ich war in dem einen Fall angenehm überrascht, der Mann zeigte sich fleißig und äußerst geschickt. Resultat? Er wollte seiner Sippe helfen und ging dabei selbst zugrunde. Durch hilfsbereite Ausgaben und Überarbeit, Tuberkulose; aus.«

      »Das war also unzivilisiert.«

      »Genau.«

      Kay