Dienst und in die Öde einer Reservation zu gehen. Die Legende der Humanität und der Zivilisationsmüdigkeit schlang sich um Sligh wie die Legende einer Münze, die den ausgezeichneten Kopf umkreist.
Roger Sligh war sechs Fuß hoch und trug unauffällige Konfektionskleidung. Seine geringfügigen Extravaganzen, wie zum Beispiel seine Liebhaberei für Psychiatrie, waren typisch für ihn. In seinen Personalpapieren stand noch immer die Bezeichnung »ledig«. Die Familie Sligh war seit einem Jahrhundert vermögend. Die Einnahmen des Chirurgen in den letzten fünf Jahren gingen in die hunderttausende.
In seinem neuen Wirkungskreis, dem Indianerhospital, das auf einem Präriehügel stand, traf Sligh bei der Übernahme seiner Verpflichtungen auf keinerlei Schwierigkeiten. Sein Vorgänger hinterließ nicht nur einen gut organisierten Betrieb, sondern führte den Nachfolger auch bei dem Pflegepersonal, bei allen weißen und indianischen Angestellten in einer Weise ein, die weder Misstrauen noch Widerwillen aufkommen ließ.
Dr. Roger Sligh bezog in der Nähe des Hospitals das einstöckige Haus, das Piter Eivie bewohnt hatte und das Sligh nun als Dienstwohnung zur Verfügung stand. Er schlief in der ersten Nacht und in den folgenden Nächten ruhig und ungestört. Für seines Leibes Bedürfnisse sowie für Ordnung sorgte eine Angestellte, die schon den Junggesellen Eivie fünf Tage in der Woche von häuslichen Arbeiten entlastet hatte. Sie war eine Weiße, Frau eines Tischlers und Hausmeisters in der Verwaltungssiedlung. Roger Sligh, dessen gefahrlose und gefährliche Erlebnisse im allgemeinen von äußerlicher Natur und daher für einen gesunden, intelligenten und willenskräftigen Mann zu bewältigen gewesen waren – mochte es sich dabei um die Überwindung der Langeweile der ersten, der Krisensituation der zweiten handeln –, war wie meist mit sich zufrieden. Er hatte die Affäre hinter sich gelassen, auch in Gedanken, und vor ihm lag ein problemloses Aufgabengebiet. Er würde sich körperlich erholen, seine beruflichen Aufgaben ohne Fehl erfüllen und in keiner Weise auffallen. Ein leichter Dunst des Rufs als Sonderling, wie er Sligh jetzt umgab, konnte nicht schaden.
Okay.
Sowohl die indianischen Patienten als auch die weißen Verwaltungsbeamten sollten von dem neuen Chefarzt zufriedengestellt werden. Den Fehler seines Vorgängers, sich auf persönliche Beziehungen mit Wilden einzulassen, wollte Roger Sligh nicht wiederholen. In dieser Richtung empfand er keinerlei Versuchung. Sein Leben verlief im Schutze der Stempel »Leitender Arzt des Indian Hospital« und »Junggeselle ohne besondere Ambitionen« wieder glatt und geräuschlos.
So verhielt er sich bis zu jenem Tage, an dem der bewegungsunfähige Indianer eingeliefert wurde.
Später, als dieser Tag eine Bedeutung gewonnen hatte, die ihn aus der Kette anderer Tage heraushob und zum Merkzeichen gewisser Erinnerungen machte, musste sich Roger Sligh, M. D., eingestehen, dass er des Morgens beim Erwachen von den kommenden Ereignissen und Eindrücken noch nicht das geringste geahnt hatte.
Es war Ende Oktober. Der nachtklare Himmel bezog sich am Morgen. Regen nieselte über die endlose Einsamkeit des gelbgrauen Graslandes. Das Hospital hatte schon geheizt. In den Blockhütten und Holzhäusern der Indianer brannten die Öfen noch nicht, um zu wärmen, sondern nur wie immer als Ersatzherde. Auf den Ranches stand das Vieh unlustig beisammen. In den Bachbetten, die im Sommer ausgetrocknet waren, sammelte sich wieder Wasser.
Roger Sligh frühstückte ham and eggs. Den Tee liebte er sehr stark. Seine Haushälterin hatte sich daran gewöhnt, Dr. Sligh auch in dieser Beziehung stets zufriedenzustellen. Milch kam nicht auf den Tisch, auch kein Zucker. Nach dem Frühstück blieb Zeit, die »New York Times« und die »New City News« zu lesen, um sowohl an den Interessen der großen Welt als auch an denen der Provinzstadt, die für einen Autofahrer nicht allzu weit von der Reservation abgelegen war, teilzunehmen.
Es gab keine Neuigkeiten, die Roger Sligh hätten bewegen, geschweige denn seine Welt aus den Angeln heben können. Sligh begann, innerlich von der privaten in die dienstliche Atmosphäre umzuschalten, sobald er seinen Mantel angelegt hatte und am Steuer saß. Die Entfernung zum Hospital betrug etwa dreihundert Schritt. Es wäre befremdend gewesen, sie zu Fuß zurückzulegen. Sligh pflegte nichts zu tun, was dem stillschweigenden gesellschaftlichen Übereinkommen nicht entsprach. Er lenkte seinen neuen Pontiac zum Parkplatz hinter dem Krankenhaus, begab sich über den kiesbestreuten Vorplatz zum Hauptportal, trat ein, suchte sein Zimmer auf und begann seine Arbeit mit den ersten Visiten. Eine indianische Säuglings- und Fürsorgeschwester, die für diesen Zweck von einem Teil ihres Dienstes befreit war, begleitete ihn als Dolmetscherin.
Viele der indianischen Patienten, insbesondere die alten und die Kinder, sprachen überhaupt nicht oder nur sehr mangelhaft Englisch. Sligh hatte sich rasch an Mrs Crazy Eagle als Dolmetscherin gewöhnt. Sie war von angenehmem Äußeren, ohne ins Auge fallend hübsch zu wirken, hatte eine ruhige Stimme, lenkte die indianischen Patienten mit unauffälliger Sanftheit und kritisierte die Entscheidungen des Arztes nie. Sie war mit dem indianischen Richter Ed Crazy Eagle verheiratet, der am Stammesgericht wirkte, und sie wohnte mit ihrer Familie in der Siedlung für zu bevorzugende Indianer unmittelbar bei den Agentur-Verwaltungsgebäuden. Sie war somit familiär und sozial zufriedenstellend eingegliedert. Ihr Englisch war einwandfrei, wenn es auch an einem leichten Akzent nicht fehlte. Roger Sligh konnte sich auf sie verlassen. So hatte ihm der oberste Beamte der Reservation, Superintendent Hawley, versichert.
Es gab leicht zu erledigende Kontrollfälle, auch einige neue Diagnosen aufgrund von Röntgenaufnahmen und chemischen Untersuchungen. Doch hatte Sligh zurzeit keinen komplizierten oder interessanten Fall im Hospital.
Die Räume wirkten hell, selbst bei der trüben Witterung, die Betten waren schneeweiß, die Luft desinfiziert, ohne einen Geruch anzunehmen. Die Patienten blieben zurückhaltend, ernst, oder sie lächelten leicht, wenn der Chefarzt die baldige Entlassung zusagen konnte.
Kurz vor Mittag wurde ein »Unfall« eingeliefert. Da es kein zweites Hospital gab, galt das allgemeine Krankenhaus auch als Unfallkrankenhaus. Sligh hörte, dass keine unmittelbare Lebensgefahr bestehe und er die Blinddarmoperation, zu der soeben alles vorbereitet worden war, noch in Ruhe ausführen könne. Ein Assistenzarzt werde zunächst die erforderliche Röntgenaufnahme machen.
Sligh fühlte sich nach der Operation aber doch verpflichtet, sich des neuen Falles anzunehmen, ehe er zum Lunch ging. Er fand in dem Röntgenraum einen lang gewachsenen, noch jungen Indianer. Der Patient hatte die Augen geschlossen. Als der Assistenzarzt die Decke aufschlug, erkannte Sligh sofort, dass Beine und Arme schlaff, nicht bewegungsfähig waren, der Hals aber steif. Die linke Schulter hing.
»Wieso?«
Der Assistenzarzt gab dem Chef das Röntgenbild und berichtete. »Vor einigen Monaten Wirbelsäulenverletzungen und -verbiegungen, als er bei einer Adlerjagd in einen Sumpf geraten war und nur mit Mühe gerettet werden konnte. Von einem sogenannten Medizinmann unter Umgehung des dortigen Hospitals …«
»Welchen Hospitals?«
»In Kanada, Saskatchewan, Reservation einer Siksikaugruppe …«
»Weiter bitte.«
» … unter Umgehung des Hospitals von einem sogenannten Medizinmann kuriert. Scheinbar ganz wiederhergestellt, selbst zurückgefahren, gelebt wie immer, Rodeo geritten – Bronc sattellos –, tatsächlich, Doktor, ich habe selbst erst vor einigen Wochen diesen famosen Ritt gesehen …«
»Weiter bitte.«
»Mit dem Sportcabriolet vorgestern des Morgens von zu Hause mit unbekanntem Ziel weggefahren, heute früh zur vorausgesagten Stunde zurückgekommen, noch aus dem Wagen ausgestiegen – dann plötzlich zusammengebrochen.«
»Zeugen?«
»Die Frau und der älteste Pflegesohn.«
»Wieso älteste?«
»Zwei Pflegekinder im Haus.«
»Auch eigene Kinder?«
»Zwei. Ein drittes ist im vierten Monat.«
»Wie alt ist der Mann?«
»Fünfundzwanzig Jahre.«
Sligh hatte das Röntgenbild studiert und schüttelte den Kopf. »Unklare