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Wo aber der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens


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Früchte initiierte einen natürlichen Selektionsprozess für die betreffenden Gruppen hinsichtlich Gesundheit, vielfältigerer und verbesserter Ernährung und insbesondere auch geistiger Kreativität. Auffallend, aber nicht erstaunlich ist in jedem Falle die Synchronizität zur Neolithischen Revolution vor rund 10.000 Jahren.

      Im Zusammenhang mit dieser Quantensprung-Hypothese und ausgehend von den neueren archäologischen Erkenntnissen kann man annehmen, dass bei den in den betreffenden Klimazonen siedelnden eurasischen Urgesellschaften die einfach zu bewerkstelligende Vergärung von wilden Weintrauben als Initialprozess für die früheste Herstellung unterschiedlicher alkoholischer Getränke diente. Diese wurde später, v.a. mit der beginnenden Getreidekultivierung, immer komplexer, wobei der »Jiahu-Cocktail« und in den folgenden Jahrtausenden nachgewiesene ähnliche Mischgetränke in China hervorragende Beispiele repräsentieren. Dazu zählen in der weiteren Entwicklung auch Prototypen des Biers. Auffallend sind dabei west-östliche Parallelen wie etwa der in China wie im Nahen Osten gleichermaßen nachgewiesene Anbau von Gerste zur Herstellung eines bierähnlichen Gebräus.

      Wie schon vor ihm der chinesische Archäologe und Historiker Wu Qichang in einem Artikel 1937 und der amerikanische Anthropologe und Ernährungsbiologe Solomon Katz (Katz/​Voigt 1986), vertritt der Münchner Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf (2008) die Hypothese »Bier vor Brot«, wonach Gerste und andere Getreidearten ursprünglich exklusiv für diesen Zweck kultiviert wurden und nicht von Anfang an schon für die aufwändige Verarbeitung zu Brot und anderen Lebensmitteln. Dies wird durch die Tatsache gestützt, dass Brot in Mesopotamien erst vor rund 6.500 Jahren auftauchte, also immerhin sechs Jahrtausende nach Beginn der Kultivierung der Gerste, die in China für die Lebensmittelherstellung so gut wie keine Rolle spielte und nur in neolithischen Mischgetränken nachgewiesen wurde. Dies erklärt auch, weshalb die Alkoholika-Produktion in den eurasischen Frühgesellschaften lange vor Sesshaftigkeit und Landwirtschaft und v.a. in Verbindung mit den ersten magisch-religiösen Praktiken aufblühte.

      Auch der Wissenschaftshistoriker und Altorientalist Peter Damerow (2012) leistet der »Bier-vor-Brot«-Hypothese in seinen posthum veröffentlichten Untersuchungen zu frühen Brautechniken des sumerischen Biers Vorschub. Diese stehen für ihn in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Errungenschaften der Neolithischen Revolution, d. h. den Ursprüngen von Landwirtschaft, urbaner Wirtschaft, Verwaltungs- und Handelsstrukturen, religiösem Leben sowie überhaupt aller zivilisatorischer Errungenschaften wie früher Formen der Schrift. In den sumerischen Quellen finden sich Hinweise, dass außer Gerste für die Initialisierung des Fermentationsprozesses Honig und Wein eingesetzt wurden. Eine ähnliche Zusammensetzung von »Wein-Bier-Cocktails« aus Weintrauben, Gerste und Honig mit Zusätzen von Baumharz und Kräutern fand sich im gleichen Zeitalter nicht nur in den ägyptischen, anatolischen, minoischen und mykenischen Kulturen (später ebenfalls im homerischen Trank kykeon), sondern auch in China, nämlich in Liangchengzhen in der Ostprovinz Shandong, einem wichtigen Ausgrabungsort der neolithischen Longshan-Kultur aus dem 3. Jt. v. Chr. Die Analysen von Spuren in dort entdeckten Keramikgefäßen weisen auf eine Mischung von Reis, Gerste, Honig, wilden Weintrauben, Baumharz und Kräuterzusätzen hin. Dass auch hier nachweislich die Hefegärung von Weintrauben genutzt wurde, lässt zweierlei Schlüsse zu: Einerseits wurde dieses Verfahren in den dazwischen liegenden vier Jahrtausenden seit dem »Jiahu-Cocktail« kontinuierlich weiterentwickelt und verfeinert. Andererseits spielte die Rezeptur des »Liangchengzhen-Cocktails« auch ab dem 2. Jt. v. Chr. mit dem Beginn der dynastischen Epochen seit der Xia- und Shang-Periode (21. – 11. Jh. v. Chr.) und eventuell noch bis in die Zhou-Dynastie (11. – 3. Jh. v. Chr.) eine, wenn auch zugunsten einer differenzierteren und ausgereifteren Fermentationstechnologie auf der Basis einer aufblühenden Getreidewirtschaft, abnehmende Rolle. Mit dem Blick auf diese ähnlichen Rezepturen von »Bier-Wein-Cocktails« in Mesopotamien, Ägypten, Anatolien, Griechenland und China und entlang der damals schon funktionierenden eurasischen Handelswege spricht also vieles dafür, dass die Weintraubengärung kulturübergreifend als die »Initialzündung« für spätere komplexere und sich regional zunehmend diversifizierende Fermentationsverfahren gelten kann.

      

      Unter diesen und den zuvor erwähnten Aspekten der weiten Verbreitung der eurasischen Weinrebe über nahezu alle frühen Kulturräume zwischen Europa und Ostasien sowie aus der Paläolithischen Hypothese erschließt sich folgerichtig die »Wein-vor-Bier«-Hypothese, womit eingeräumt wird, dass der Traubenwein am Anfang aller Braukunst steht und das älteste Kulturgetränk der Menschheit per se darstellt.

      Aus den bislang vorliegenden Argumenten und Indizien ergibt sich die Inspirationshypothese, die besagt, dass die Nutzbarmachung der Fermentation die anderen zivilisatorischen Errungenschaften direkt oder indirekt förderte, wozu die sich verbessernden materiellen Lebensbedingungen gehören, v.a. auch die Manufaktur von Keramik, Haushalts-, Jagd- und Ackergeräten, Waffen, Kleidung und Schmuck. Hinzu kommt, dass die allmählich verfeinerte Herstellung und der nach und nach ritualisierte wie gesellschaftlich konventionalisierte Genuss von geistigen Getränken, wie wir ihn bis heute v.a. in der georgischen ebenso wie in der chinesischen Kultur, also an beiden Enden der Seidenstraße, immer noch beobachten können, maßgebliche Wirkung auf schöpferische Leistungen in allen Bereichen des kulturellen Aufblühens zeigte. Diese Hypothese erklärt, wie sich unter dem Impetus des Weins und alkoholischer Getränke von magischen Riten bis hin zur Wissenschaft alle Faktoren des Entstehens von Kultur entwickelt haben.

      Alkohol als Kulturträger

      McGovern et al. (2000; 2003; 2009) und Reichholf/​Josef (2008) führen in stichhaltiger Weise aus, dass wahrscheinlich keine Kultur ohne die Nutzung von Drogen entstanden ist und dass darunter wiederum Alkohol nicht nur die älteste, sondern auch die am weitesten verbreitete Droge der Menschheit ist. Wie kein anderes Rauschmittel ist Ethanol überall in der Natur vorhanden und leicht verfügbar, in geringen Mengen sogar permanent im Blut enthalten und damit kein körperfremder Stoff. Für die Versorgung gewährt es die oben genannten evolutionären Vorteile und hat zudem sozial-kommunikative, bewusstseinserweiternde und kreativitätsfördernde Funktionen. Aus den bisherigen Erkenntnissen ergibt sich also in letzter Konsequenz, dass die Droge Alkohol – vorwiegend in der ästhetischen und symbolträchtigen Manifestation des vergorenen Rebensaftes – untrennbar mit der Entstehung von Kultur verknüpft ist. Nicht zufällig spielt der Wein in der ältesten monotheistischen Weltreligion, dem indo-iranischen Zoroastrismus, sowie im Judentum und Christentum mit den beiden ältesten christlichen Staaten der Welt, Georgien und Armenien – kontinuierlich bis heute die traditionsreichsten und bedeutendsten Weinregionen –, eine dominante Rolle. Bei genauerer Betrachtung war und ist der Genuss von Wein und Alkoholischem auch im Buddhismus und Islam verwurzelt (vgl. dazu den Beitrag in diesem Band S. 99-100). Die chinesische Mythologie und Literatur, Konfuzianismus und Daoismus sind ohnehin von der komplexesten und höchstentwickelten Alkoholkultur der Menschheit geprägt und in allen Lebensbereichen vom inspirativen Elixier geradezu durchtränkt. Die enge Korrelation von Zivilisation und Weinkultur thematisiert und begründet Patrick McGovern ausführlich und in eindrucksvoller Weise in seinen beiden Büchern zur Wein- und Alkoholgeschichte.

      Welch dominante Rolle Alkoholisches in Chinas Gesellschaft seit den Anfängen spielte, spiegelt v.a. auch die Literatur in allen Epochen wider. Bereits die ersten Überlieferungen und schriftlichen Zeugnisse machen deutlich, dass die Kunst der Fermentation und ihre hochkomplexe, weltweit einzigartige Technologie sowie der rituelle Alkoholgenuss eine dominante Rolle in Chinas religiösem, höfischem, literarisch-künstlerischem und alltäglichem Leben einnahmen.

      Im chinesischen Schriftsystem selbst verraten Hunderte zusammengesetzte Schriftzeichen mit der graphemischen Komponente für »Alkohol«, einem ursprünglichen Piktogramm einer Tonamphore, dass Alkohol bereits bei der Entstehung der Schrift und ihrer anfänglichen Verwendung für Orakelzwecke eine zentrale Bedeutung hatte. Dieses chinesische Graphem ist übrigens dem sumerischen Symbol verblüffend ähnlich.

      Bis in die Gegenwart ist in China keines der zahlreichen Feste, keine Tempel- oder Gedenkzeremonie, kein Staatsbankett, kein offizieller oder privater Gästeempfang vorstellbar ohne den Ausschank alkoholischer Getränke, meist beim üppigen Mahl und mit den uralten Trinkritualen. Aus den Anfängen der konfuzianischen