Stanley Deschle

Das Lachen des Pimmel-Gottes


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Zig, rauchte und rief an.

      Armut kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben; sie ist die Hakenkreuzbinde der Gesellschaft.

      Ich hatte mich mit ihr verabredet: Interview. Vielleicht würde sich ja irgendwas ergeben, womit ich die Hyänen der Zeitung füttern könnte.

      Bedenklich, Pierretot, ist dein Erfolg. Jahrelang diese Bösartigkeit, diese Schnaps-Satire; die falsch ist, DIE FALSCH IST. Scheiße. Einen Schluck aus der Flasche.

      Ja wirklich bedenklich: es hatte immer Geld gegeben, Anzeigen waren geschaltet worden, die Hass-Brief-Welle war schließlich verebbt. Jetzt lachten sie über John P. vermutlich; aber: was gab es da zu lachen?

      Aus dem Mangel sind sie entstanden, diese Schreibe, dieser Biss, diese Säure.

      Verstehen sie nicht. Sie lachen über John P. wie sie früher über Zille gelacht haben; mir tränen die Augen als ob ich überkoche, drinnen klammert sich mein Herz an meine Eingeweide. Was gibt es da zu lachen?

      Mal ein vernünftiges Konzert: schreien zu dürfen, vergessen zu dürfen, toben zu dürfen, lachen zu dürfen. Wie selten, wie teuer. Versteht ihr jetzt, warum ich hier sitze, in der Bahn, Rita hat das Auto, es ist ihres, warum ich hier sitze und zu Freita fahre? Versteht ihr es? Lacht ihr?

      Mit wem redest du, Pierretot?

      Lass uns ruhig werden (Schluck aus der Flasche) und die Fakten ordnen. Bereite dich einigermaßen auf das Interview vor. Du bist Profi, finde irgendwas, was die anderen nicht wissen, nicht kennen an Freita Torn.

      Zunächst die offensichtlichen Tatsachen: schicke Wohngegend, Südvorstadt, sanierter Altbau, große Fenster, glänzende Dachrinnen, »Kultur«. Quartier Bohemien Exclusive Fünf Sterne.

      Während ich die Hälfte meines Studiums hindurch gehungert hatte, lebten sie hier im öden Überfluss, in Maisonetten, ernährten sich bewusst, redeten über Kunst, veranstalteten hin und wieder eine kleine Orgie und langweilten sich zu Tode.

      Und alles mit einer Anmaßung von »Stil«.

      Na, Schwamm drüber.

      Ich fand das Haus ohne Weiteres, klingelte: Dachgeschoss. Es summte. Ich drückte die Tür auf. Ich ging rein. Ich sah an dem hölzernen Treppengeländer vorbei nach oben: das Dach war von einem Fenster gekrönt. Ich sah den dämmernden Himmel darüber. Ich begann meinen Aufstieg.

      Dieses Fräulein hat ᾽ s ganz schön dicke, dachte ich, heisere Blicke auf die bemalten Kacheln des Treppenhauses werfend. Ich würde gerne in einem Bad leben, das so ist wie dieses Treppenhaus. Ich wurde neidisch, jawohl: ich wurde neidisch; stellte mir vor, gegen diese Kacheln zu pissen. Vielleicht beim Fortgehen. Wenn es banal werden sollte. Wenn ich mehr getrunken haben sollte.

      Ich tätschelte liebevoll den Flachmann in der Innentasche.

      Die Wohnungstür stand offen. Ich betrat die Wohnung und zog die Schuhe aus.

      »Freita ist noch nicht da«, rief eine Frauenstimme aus einem der hinteren Zimmer. »Aber komm ruhig rein.«

      Ich sah mich um: was für ein Flur! Er ließ mich daran denken, dass in diesem Land zehn Menschen in Zimmern zusammen leben, so groß wie dieser Flur; mit weniger Möbeln; mit weniger Schuhen; hinter Gittern.

      Ich stützte mich auf der dunkel gebeizten Kommode aus Gründerzeiten (Neoklassizismus) ab und trank einen Schluck aus meinen Flachmann.

      Sieht gut aus, Pierretot. Wird wohl ein Beitrag zum Klassenkampf werden. 42 Jahre, und nie, nie wäre so ein Wohnen erreichbar gewesen. Das ist die Ungerechtigkeit, Pierretot: keiner hat, was er braucht. Du darbst, sie öden sich an. Du willst mal ein wenig Frieden, nur einen Moment; sie wollen ACTION, Aufruhr, Lärm & Geräusch nonstop. Lass uns einfach die Schlüssel und die Konten tauschen; wirklich, allen wäre geholfen. Wurde ich verrückt?

      Ich trank.

      Eine kleine Frau tauchte aus dem Zimmer auf: gerade Haltung, Schultern zurück, Brust leicht vorgedrückt, halblange Haare, glatt, braun, Zopf. Schlanker Körper in Jogging-Hose und einem zu weiten Pullover mit zu weitem Ausschnitt, der eine nackte Schulter bräunlicher Haut entblößte – unter anderem.

      »Willst du etwa im Flur stehen bleiben?«, sagte sie.

      Ich kam näher und bemerkte, dass ihre Augen von einem hellen, fast goldenen Braun waren. Etwas Düsteres glitzerte aus ihnen hervor, anthrazitfarben, wie die Haut des Todes. Sie duftete nach sich, unaufdringlich, bezaubernd, fremd. Ich erinnerte mich an Rita, die frühe Rita. Diese hier schätzte ich auf Anfang zwanzig.

      In meinem Kopf zogen brennende Nebel auf, wogten, brandeten; während ich vor dieser Frau stand, die gefährlich ist wie ein Puma, eine Schlange. Sieh nur, wie sich ihre Augen weiten. Ich fasste mich glühenden Kopfes an den Hals, denkend: tausche Schlüssel und Konto von mir aus, aber die lass hier.

      Du korruptes Schwein, Pierretot.

      Ich weiß, ich weiß, aber: diese brennenden Nebel und: wie sie riecht.

      Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht, stirnrunzelnd.

      »Phu«, sagte sie. »Hast du eine Fahne.«

      »So eine Zurschaustellung von Reichtum verunsichert mich«, sagte ich. »Und dann trinke ich.«

      »Aha.«

      »Ist besser als zu schreien. Gesünder.«

      »Na, übertreib mal nicht. Komm rein.«

      Sie ging mir voraus in dieses Zimmer und ihre Rückseite übertraf alles, was ich bisher von ihr gesehen hatte. Vielleicht wirkte sie so verletzlicher, aber ich musste mir diesen Rücken nackt und diesen heißen Hintern an meinen Lenden vorstellen.

      Pierretot, halte dich zurück. Du wirst kontrollierbar. Zeig nicht soviel von deinem Scheusal. Sieh woanders hin: die Wände. Aha. Bilder: Kandinsky, Dessau. Couchtisch, cremefarbene Leder-Sitzgruppe – da ist sie wieder. »Willst du?« Sitzend, Zigs anbietend. Sie lächelt. Zähne zu groß, wie bei einer Kuh. Dickes Melanom links am Hals.

      »Für meine Fahne.« Na ja, Pierretot.

      Eine genommen: Gauloises, was sonst? Aber Freiheit besitzt man nicht, man erkämpft sie. Sie lehnt sich zurück, sie mustert dich, die Puma-Frau, sie sitzt da und lauert und raucht. Setze dich, Pierretot und erinnere dich, Markwort: Und an die Leser denken. Denk an die Leser, Pierretot, ausatmen, zurücklehnen und an die Leser denken.

      »Das ist also der große John P.«, sagte sie.

      »Falsch«, sagte ich. »Ich bin Jean Pierretot. John P. ist mein Bruder.«

      »So so.«

      »Komm schon: wenn du wirklich John P. erwartet hättest, würdest du wohl kaum in solchen Schlabber-Klamotten rumlaufen, eine Schulter nackt. Eher in’ner Ritterrüstung.«

      Sie zog an ihrer Zig, die Lider verengend. Ich sah den Funken trotzdem. Sie ist ein Profikiller, dachte ich. Eine Gottesanbeterin. Sie blies den Rauch durch die Nase aus.

      »Gut«, sagte ich. »Genug von mir. Wer bist du? Was willst du?«

      »Direkt wie ein Schlagring«, sagte sie. »Aber Freita hatte mich schon vor dir gewarnt.«

      »Hast du dir wohl nicht zu Herzen genommen, schlecht vorbereitet wie du bist.«

      »Sag das nicht.«

      Sie stand auf.

      »Was trinken?«

      Ich stimmte zu und sie verließ das Zimmer. Ich drückte die Gauloise im Aschenbecher aus und drehte mir Eine. Schachtel-Zigs hatten einfach nicht genug Biss für mich. Ich genoss meine Atempause Zug um Zug.

      Sie kam mit einer Flasche Wein und einem Stapel Papier unterm Arm zurück. Der Korkenzieher lag neben dem Aschenbecher auf dem Tisch. Sie legte den Stapel Papier vor mich hin mit den Worten:

      »Ich heiße übrigens Carline.«