hier: Austauschbarkeit und Mittelmaß.
Irgendwann schlich Gisbert davon, tief enttäuscht.
Er hatte nur noch das Bedürfnis, einfach abzuhängen, wie das sein Techniker bezeichnen würde. So entschloss er sich, über Nacht in Leipzig zu bleiben. Sein Bruder lebt hier und betreibt ein Fischrestaurant. Sie sehen sich viel zu selten. Und ein kleines Gästezimmer ist auch vorhanden. In seine Provinz kommt er auch morgen rechtzeitig zurück.
Er rief seinen Bruder an, ließ es lange klingeln, aber da meldete sich niemand. Wahrscheinlich haben sie viel zu tun – die Kneipe ist beliebt. Gisbert fuhr hin. Es dämmerte schon, und er freute sich auf die gemütliche Gaststube und einen heißen Tee. Das Lokal war geschlossen. „Montag Ruhetag“. Er fasste sich an den Kopf. Klar. Es geht also gut, sonst würde man sich keinen Ruhetag leisten können.
Der Bruder wohnt über dem Laden in der ersten Etage. Dort waren die Fenster erleuchtet.
3
Es war eine ruhige Nacht. Mit drei Hallorenkugeln als Betthupferl im Magen und dem Sektchen als Schlummertrunk war sie sofort in einen tiefen Schlaf gefallen. Und nach sieben Stunden ohne quälende Gedanken aufgewacht. Mira konnte sich nicht erinnern, wann ihr das zum letzten Mal passiert war.
Zwar hatte sie besagte Wiederholung der Telenovela-Folge verpasst, doch da gab es ja noch andere Möglichkeiten, sie zu sehen. Zufrieden stand sie dann lange unter der warmen Dusche, ohne an den ständig steigenden Wasserpreis zu denken. Sie zog ein frisches, kuscheliges Badetuch aus dem Schrank, rubbelte sich damit ab und cremte sich sorgfältig ein. Dann schlüpfte sie in ihre lila Unterwäsche, die noch ganz neu war. Sie sah in den Spiegel, lächelte sich zu und fand sich gar nicht so fett wie an all den Tagen zuvor.
Sie aß ein Marmeladenbrot, trank einen dünnen Kaffee und las dabei die Illustrierte, die sie sich gestern geleistet hatte. Schnell stellte sie fest, dass deren Niveau ganz schön heruntergekommen war und legte sie beiseite. Damit wollte sie sich den guten Morgen nicht verderben.
Sie packte die restlichen Hallorenkugeln, die Kräuterminis und das Katzenfutter in ihre Handtasche und machte sich fertig zum Start in einen schönen Dienstag. Oder besser: Dienst-Tag! Sie zog die frisch gewaschene Kittelschürze über ihr schlichtes Kleid, dann den Mantel drüber.
Auf der Straße sieht sie sich irritiert um. Sie weiß nicht mehr, wo sie ihr Auto geparkt hat. Das passiert ihr leider in letzter Zeit immer öfter. Mira hat manchmal echt Angst, dement zu werden. Was man da so hörte – und in den kostenlosen Zeitungen aus der Apotheke lesen konnte: Na vielen Dank auch!
Schließlich findet sie aber ihre alte Karre und ruckelt los.
Sie entdeckt freudig sogar vor Katharinas Haus einen Parkplatz. Was für ein Tag! Das hat sie in all den Jahren selten erlebt. Wie oft war sie ewig durch Seitenstraßen geirrt und musste dann lange Fußmärsche auf sich nehmen …
Aber nun soll ein neues Kapitel beginnen: Schluss mit den trüben Gedanken, Schluss mit der Vergangenheit! Schon zwei gute Tage hintereinander!
Sie steht vor der Wohnungstür und putzt mit einem Taschentuch das Klingelschild blank. „Katharina Schick“ – man kann es kaum noch lesen.
Miras Herz klopft. Vielleicht vom Treppensteigen – zwei Etagen bringen sie schon leicht außer Atem. Vielleicht ist es aber auch die Aufregung. Es soll ja ein neuer Anfang werden.
Sie zieht die lila Lederhandschuhe aus und kramt ein Schlüsselbund aus ihrer Handtasche. Es ist ein neuer Anhänger daran, als Glücksbringer: Ein Fisch. Sie drückt drauf und er fängt an zu blinken. Was sich die Leute alles einfallen lassen …
Vorsichtig schließt sie die Tür auf: Wieder Glück – kein Schlüssel von innen verhindert das. Etwas enttäuscht betritt sie die Wohnung. Vielleicht ist Katharina schon unterwegs? Aber so früh – kaum zu glauben. Oder sie ist im Urlaub? Erst recht unmöglich. Sie kann sich nicht erinnern, dass die irgendwann irgendwohin in den Urlaub gefahren ist. Urlaub – sie weiß sicher gar nicht, was man darunter versteht …
Mira schleicht durch den Korridor und kommt sich vor wie in einem Krimi. Einen Moment zögert sie am Lichtschalter. Doch besser nicht. Sie legt Schlüsselbund mit Blinkefisch auf der flachen Kommode ab, wo sich ungeöffnete Briefe und ungelesene Zeitungen stapeln.
Daneben ein überquellender Korb mit leeren Weinflaschen, dazwischen unzählige leere Kräuterlikörfläschchen.
Sie zieht ihren Mantel und die Stiefeletten aus. Da bemerkt sie ärgerlich, dass sie die bequemen Hauslatschen vergessen hat. Nicht zu ändern … Vorsichtig bewegen sich nun ältere, nicht mehr ganz wohlgeformte Füße in glänzenden, leicht violetten Strumpfhosen weiter. Ein Schrank wird geöffnet. Gelbe Gummihandschuhe werden über abgearbeitete Hände gestreift.
„Gelb – was für eine Scheißfarbe“, murmelt Mira leise. Aber in Lila hat sie solche Dinger nirgendwo gefunden.
Sie nimmt die Mitbringsel aus der Handtasche. Langsam bewegen sich ihre Füße weiter.
Plötzlich, entfernt, eine leise, sanfte Stimme: „Haben Sie in letzter Zeit einmal genauer in den Spiegel geschaut?“ Mira erschrickt fürchterlich und öffnet die Tür zum Wohnzimmer.
Auf dem Sofa liegt Katharina, die Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet, eine Hand hängt herunter. Davor, auf dem Teppich ein großer, schon etwas eingetrockneter dunkelroter Fleck. Der Kater Quasimodo schläft am Fußende.
Mira lässt ihre kleinen Gaben fallen und hält sich entsetzt die Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Nach etlichen Schrecksekunden flüstert sie: „Oh nein!“
Sie will zu Katharina stürzen, entschließt sich aber, zuerst den Fernseher auszuschalten. Es läuft gerade eine Werbesendung für Kosmetik gegen das frühe Altern, die mit dem optimistischen Slogan endet: „Weil es für uns selbst ist!“
Von der plötzlichen Stille wird der Kater wach. Er sieht Mira mit einem schiefen Gesicht an und rast fauchend davon. Sie schüttelt verzweifelt den Kopf und flüstert: „Warum kann mir det blöde Vieh bloß nich leiden?“
Mit zittriger Hand hebt sie das mitgebrachte Katzenfutter vom Fußboden auf. Es war nicht gerade das billigste! Wehmütig steckt sie es in die Tasche ihrer Kittelschürze und schaut dem Kater nach. Dann wendet sie sich wieder Katharina zu, zieht die Handschuhe aus und findet zum Glück ein Taschentuch. Während sie sich die Nase schnäuzt und die Tränen abwischt, entdeckt sie auf dem Boden einige ausgetrunkene Kräuterlikörflaschen, nicht die ganz kleinen … Und eine leere Rotweinflasche, eine ganz große, die sie kopfschüttelnd aufhebt.
Ein Geräusch. Quasimodo! Der Kater hat im Flur ihre Schlüssel von der Kommode geschmissen und tapst nach dem blinkenden Fischanhänger.
Ein anderes Geräusch lässt sie wieder in Katharinas Richtung herumfahren.
Die Totgeglaubte verändert gerade ihre Schlafposition und beginnt zu schnarchen.
Nun schreit Mira doch auf. Davon wird Katharina wach und schreckt hoch. Sie starrt eine Frau an, die hier anscheinend eingedrungen ist. Der fällt die leere Flasche aus der Hand. Es knallt gehörig. „Wo ist meine Waffe?“ kreischt Katharina.
Mira zuckt mit den Schultern. „Keene Ahnung. Ick wußte jar nich, det Sie die noch haben.“
Katharina fragt entgeistert: „Was wollen Sie hier?“
Mira holt tief Luft: Jetzt kommt es drauf an! „Ick hatte 3 Wochen Urlaub. Es ist Dienstag!“
Stille. Mira schöpft sofort Hoffnung. Aber dann scheint sich die Alte dunkel zu erinnern. „Putzi? Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen: Es gibt keinen Dienstag mehr! Sie sind gefeuert!“
Mira ist den Tränen nahe. Ihr Plan funktioniert nicht … Verzweifelt startet sie einen neuen Versuch. „Ja. Aber wie det hier aussieht!“
Katharina ist nun endgültig wach und sieht sich um. Putzi hat recht, denkt sie.
Ihr Kopf dröhnt. Es