Werner Posselt

Die Geburt der Eidechse


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nicht bleiben, denn lange können sie es nicht mehr aushalten. In den heißen Sommern werden sie verdorren. Die Fichte nicht so schnell, die Birke aber bald. Die müssen dort runter, auf die Erde müssen sie, hier gehören sie her.

      Es fällt ihr ein, wie sie als Kind und auch als Teenager auf die höchsten Bäume geklettert ist. Mancher Junge hat sich das nicht getraut. Oh, man hat sie sehr bewundert damals, nur Mutter hat gemeckert, Vater war eher stolz auf sie.

      Ob sie die Bäumchen herunterholen sollte? Mein Gott, im nächsten Jahr wird sie achtundsiebzig, da klettert man doch nicht mehr auf langen Leitern herum. Sie schätzt die Höhe des Stallgebäudes bis zur Dachrinne. Das sind höchstens sieben Meter. Was sind schon sieben Meter, denkt sie, die Linde damals war doch doppelt so hoch, mindestens. Und da war sie ganz oben.

      Ja, sie will die Bäumchen retten und zum Wolfsgrund tragen.

      Damals, als sie hergezogen sind, haben sie vom alten Förster die Erlaubnis bekommen, von dort zwei kleine Birken zu holen, um sie auf dem kahlen Hof einzupflanzen. Beide wuchsen schnell in den Jahren, wurden groß und mächtig. Und wenn sie im Frühling ihr frisches Grün zeigen, sind sie besonders schön.

      Gernot sagte einmal: „Die beiden Birken, das sind wir.“ Und er bestimmte, dass er die etwas größere sei, denn er war einen Kopf größer als sie, Maria.

      Und nun wird sie also zwei junge Bäumchen aus der Dachrinne zum Wolfsgrund tragen und dort einpflanzen: eine Fichte und eine Birke. Und jedes Jahr, so Gott will, wird sie nachschauen und dabei an Gernot denken. Und diesmal soll er die Birke sein und sie die Fichte, das legt sie einfach fest.

      Ja, das nimmt sie sich vor. Und plötzlich spürt sie eine wohlige Müdigkeit und schläft ein.

      Sie sind zu Besuch im Seniorenheim Lindenhof, Branco und seine Mutter. Die alten Herrschaften sitzen beim Nachmittagskaffee im geräumigen Speisesaal. Branco und seine Mutter haben sich zu Oma Hilde an den Tisch gesetzt.

      Oma Hilde, siebenundachtzigjährig, ist schon drei Jahre hier. Wegen ihrer Osteoporose geht sie an zwei Stöcken. Sie kann nur sehr langsam gehen. Und nun stehen die Stöcke an die Wand gelehnt.

      Branco, der Zwölfjährige, langweilt sich. Er möchte etwas unternehmen, doch es will ihm nichts einfallen. Mit seinem schief sitzenden roten Basecape findet ihn seine Mutter so lausbübisch, wobei sie diesen Ausdruck meiden würde. Sie sagt jetzt immer „geil“. In amerikanischen Fernsehfilmen sehen die Kids, wie man heutzutage statt Kinder sagt, so aus.

      So lümmelt Branco zunächst am Tisch herum und hört den larmoyanten Gesprächen zu. Schaut auch zu den anderen Tischen und gähnt ungeniert. Dann entschließt er sich doch, aufzustehen und die beiden Gehstöcke genauer zu betrachten. Der eine hat einen gebogenen Griff, der andere einen geraden. Beide liegen gefällig in der Hand, stellt er befriedigt fest.

      Branco ist groß und schwer, für sein Alter viel zu schwer. Und schwammig. Er probiert, wie es sich mit diesen Stöcken geht. Die Mutter mahnt, er solle das doch lassen, denn das gehöre sich nicht. Und Oma Hilde sagt: „Lass die stehen, mein Junge. Sei froh, dass du keine brauchst!“ Dabei schickt sie einen Blick auf die, ihrer Meinung nach, dämliche Mütze, sagt aber nichts dazu. Sie ist froh, Besuch zu haben.

      Ach, Branco ist es so langweilig. Er hört nicht auf die beiden. Er geht mit den Stöcken ein paar Meter hin und her, bis die Mutter wieder mahnt. Und wenn er das nicht unterließe, bekäme er heute keinen Döner.

      Branco weiß, dass diese Drohung so gut wie nichts bedeutet. Also treibt er sein Spiel weiter.

      Da er sich aber eigentlich gar nicht so gern bewegt, benutzt er nun die beiden Stöcke als Stützen. Er will ein Stück vom Boden abheben, um gegebenenfalls hin und her zu schwingen. Also stützt er sich auf, seine Köpermasse unterschätzend, und mit einem lauten kurzen Knacken bricht der waagerechte Handgriff.

      Der Junge stürzt schwer auf die Fliesen. Sein Geschrei ist so laut und jämmerlich, dass sofort alle zusammenlaufen. Ein in der Nähe befindlicher Pfleger will ihm aufhelfen, doch Branco ist schwer wie ein Sack. Ein zweiter Pfleger greift zu. Der Junge wimmert nur noch, sonst ist alles still. Und in diese Stille hinein sagt Oma Hilde mit tiefer, krächzender Stimme: „Siehste, da haste de Strafe! Warum kannste nicht hörn.“

      Als er durch den Tränenschleier auf Oma Hilde blickt, bemerkt er, dass die ungewöhnlich dünn ist. In seinem Kopf bildet sich rächend eine Erwiderung, die er sich aber, ahnend, dass sie augenblicklich nicht hierherpasst, verkneift. Er konserviert sie in seinem breiten Schädel. Zum Glück im Unglück befindet sich direkt neben dem Seniorenheim das Kreiskrankenhaus. Dort führt man ihn hin und er wird geröntgt und gegipst. Diagnose: Bruch des linken Handgelenks.

      Hinterher gehen sie dann doch noch zum Türken. Sie setzen sich an einen der Sprelacarttische. Weil Branco heute so leiden musste, bestellt die Mutter diesmal den Superdöner und dazu eine große Cola. Natürlich! Hoffentlich kann der Arme wenigstens essen.

      Die Mutter sagt: „Die Hilde hätte die Stöcke besser auf ihrem Zimmer lassen sollen, die wusste doch, dass wir kommen.“

      Branco nickt heftig und sagt: „Die alte, dürre Krähe, die!“

      Die Mutter entgegnet tadelnd: „Na, na, na!“ – und lächelt nachsichtig.

      Doch da kommt der Wirt mit dem Superdöner und der Cola und wünscht: „Guten Appetit!“

      Hier herrscht die reinste Marktwirtschaft, allerdings keine liberale, sondern eine echt soziale. Wie lange noch? Wir hoffen, für immer.

      In einer riesigen Feldsteinscheune, der größten Deutschlands, wie auf einem Schild am Eingang zu lesen ist, findet allmonatlich der Flohmarkt (Entschuldigung, der Trödelmarkt) statt. Trödelmärkte sind die Wundertüten der Gesellschaft.

      Zum Beispiel: Du findest an einem Stand ein hübsches Gläschen, es steht dort fast unbeachtet abseits, weil größere Objekte die Blicke der Kunden fangen sollen, dunkelgrün ist es vielleicht und kleine Luftbläschen sind eingeschlossen. Und wenn du kundig bist, erfühlst du an einer Stelle des Bodens ein kleines Wunder. Wenn du dieses kleine Etwas erfühlt hast, lacht dein Herz, doch musst du jetzt ganz ruhig bleiben und den Händler so ganz nebenbei fragen, wobei in deiner Stimme ein wenig Geringschätzung schwingen sollte.

      „Was soll denn das Ding kosten?“

      Und wenn er keine Ahnung hat, könnte er sagen: „Drei Euro kriege ich.“

      Entweder du handelst jetzt noch einen Euro runter oder gibst dich knurrend mit dem Preis des Händlers einverstanden.

      Ich sage dir, das wäre für dich das Geschäft des Tages gewesen, denn du hättest ein fast zweihundertjähriges Biedermeierschätzchen erworben, für das man im richtigen Antiquariat zirka hundert Euro hinlegen müsste.

      Natürlich läuft das nicht jedes Mal so. Jedenfalls kannst du hier, wie man im Trödelmarktjargon sagt, Furz und Feuerstein kaufen. Hier bekommst du viel, wenn auch nicht alles, was du suchst, denn was du suchst, bekommst du meist nicht, dafür manches, was du eigentlich gar nicht gesucht hast. Klingt komplizierter, als es ist, macht aber Spaß.

      Ich bin immer dabei. Nicht so sehr als Käufer, eher als Händler. Ich handle mit Uhren und Schmuck und Raritäten. Alles antik, versteht sich, jedenfalls geht es meist in diese Richtung. Rentner bin ich und wäre ich das nicht, dann Sozialhilfeempfänger oder Hartzvierer. Wir sind alle die gleichen Typen. Ich meine innerlich, sozusagen.

      Die Käufer, oder sagen wir: die Kunden, sind sozial vielschichtiger. Sollen die auch sein, Hauptsache, sie bringen Knete mit. Trödelmarkteinkünfte sind Nebenerlöse, die fallen beim Finanzamt nicht ins Gewicht, dafür müssen wir ja Standgebühren bezahlen und die muss man erst wieder reinholen, dann ist man aus dem Gröbsten raus.

      Also baue ich am Freitagabend meinen Stand schon auf, damit es am Samstag und Sonntag richtig brummen kann. Nachts wird hier abgeschlossen von Harald, der ist der