Werner Posselt

Die Geburt der Eidechse


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dies und das angestellt hätte.

      Anfangs hatte sie selbst gespürt, dass sie immer vergesslicher wurde. Körperlich ging es ja noch, doch verirrten sich die Gedanken allzu oft. Dann vergaß sie, was sie einkaufen wollte, und schrieb es auf, doch dann vergaß sie den Zettel. Sie verlegte die Schlüssel an unmögliche Orte. Sie stellte die falsche Platte auf dem Elektroherd an und versäumte immer öfter ihn abzuschalten. Bald erinnerte sie sich nicht mehr an die Namen der Nachbarn und ihren Willi suchte sie überall, obwohl der schon Jahre unter der Erde war. Und so setzte es sich fort und wurde schlimmer und gefährlicher für alle im Haus.

      Schließlich konnte sie der älteste Sohn dazu bewegen, ins Heim zu gehen, und sie durfte sogar ihre Möbel mitnehmen, wenigstens einen Teil davon. Nach der Heimbesichtigung lief dann alles in seiner Ordnung weiter.

      Und so traf ich sie also wieder, hier, nach längerer Zeit. Allein ging sie in den weitläufigen Anlagen spazieren, setzte sich zwischendurch auf eine Bank und schaute einfach ins Grüne. Ihr gelber Hut war mir gleich aufgefallen. Seit ich sie kannte, trug sie einen gelben Hut, so einen kleinen, kreisrunden, etwas steifen. Wie eine Krone trug sie ihn. Ob es immer derselbe war, kann ich nicht sagen, vielleicht hatte sie mehrere in all den Jahren. Anfangs war ich mir ihrer Identität nicht ganz sicher. Um mich endgültig zu vergewissern, musste ich sie von vorn sehen. Und da ich für Herrn Brügge wegen dessen Bewegungstherapie erst gegen sechzehn Uhr da sein musste, konnte ich mir die Zeit nehmen und auf sie zugehen.

      Als ich dann plötzlich vor ihr stand und grüßte, sah sie mich auflächelnd doch irritiert an. Ihre Lippen bewegten sich zunächst ohne Laut, doch schließlich, mit einem Aufleuchten ihrer graublauen Augen, rief sie: „Sie sind doch der Lehrer?! Aber mir fällt der Name nicht ein.“

      Ich lobte sie, indem ich antwortete: „Ich hätte nie gedacht, Frau Hollerbeck, dass Sie mich nach so langer Zeit wiedererkennen.“ Dass ich längst kein Lehrer mehr war und umgeschult hatte, sagte ich nicht. Wozu auch. „Übrigens, ich bin immer noch der Torsten Kunert.“

      „Ach, richtig!“, rief sie aus. Und sofort schien sie auf eine andere Ebene zu springen. „Haben Sie den Willi getroffen? Ob der wieder eine Sitzung beim Kreis hat?“

      Ihr Willi, der schon lange nicht mehr lebte, war ganz fest in ihrem Kopf. Also flüchtete ich mich ins Unverbindliche und sagte einfach: „Ja, ja, die ewigen Sitzungen.“

      Dann fragte sie mich, ob es nicht bald Mittag gebe, was ich verneinte, da der Zeitpunkt längst überschritten war. Als nächste Mahlzeit komme nur das Abendbrot gegen achtzehn Uhr infrage. So wollte ich mir noch ein wenig Zeit nehmen, um sie einfach reden zu lassen. Meine Stimmung schwankte zwischen Freude und Traurigkeit. Ich kannte sie noch von früher als stolze, stattliche Frau. Die sich nie zu schade war, zuzupacken, wenn es irgendwo nottat, die gastfreundlich war und gesellig und angesehen im Dorf bis zur Wendezeit.

      Nun traf ich sie also hier wieder, auf der Parkbank des Seniorenheims, allein, mit dem unverwechselbaren gelben Hut, der so ganz nebenbei eine Brücke zur Vergangenheit herstellte.

      Bald spürte ich, wie ihre Konzentration nachließ. Sie plapperte allerhand Zeug, das ich nicht mehr verstand. Dann wiederum, ganz plötzlich, schien es, als erwache eine neue Person in ihr, frisch und ausgeruht. Sie lachte mich an und rief: „Willi, da bist du ja!“

      Da sagte ich: „Wir wollen jetzt reingehen.“

      „Ja, wir gehen jetzt heim!“, meinte sie glücklich, hakte sich bei mir unter und wir gingen gemessenen Schrittes wie ein altes Ehepaar hinüber zum Hauptgebäude.

      Sie mochte das überhaupt nicht, wenn sie oben am Fenster standen und ihr nachschauten. Anfangs kam ihr das regelrecht gespenstisch vor. Jeden Tag. In den Blicken meinte sie, den Vorwurf zu spüren: Du kannst nach Hause gehen und wir müssen bleiben. Ja, dachte sie, was haben sie denn sonst noch?, und schämte sich.

      Na gut, sie werden beschäftigt: Basteln, Gymnastik, Spiele, Zeitungsschau, Therapien und alles Mögliche. Manche stehen oft am Fenster, das sie von einem Leben trennt, von einem früheren.

      Was gibt es heute zu Mittag? Eine der häufigsten Fragen im Alltag. Nicht schon wieder Spinat! Den mag niemand gern, denn der riecht nicht gut. Das Essen kommt von außerhalb. Im Heim wird nicht mehr gekocht – aus Kostengründen, wie man sagt.

      Also, was haben sie denn sonst noch?, denkt Iris. Besuche: Ja, Besuche sind das Wichtigste. Manche bekommen gar keinen Besuch. Die sind oft traurig, mürrisch, manche streitsüchtig und Einzelne sogar richtig aggressiv bis hin zur Gewalt, denn sie sind neidisch auf die Privilegierten. Fühlen sich aufgegeben und weggestellt.

      Sie weiß jetzt manches besser als vorher. Der Tod der Hanne Clarsen hat sie aufgerüttelt. Bei ihr saß sie oft, wenn sie Nachtdienst hatte. Man hat sich geduzt, was eigentlich nicht sein sollte. Und manchmal haben sie länger erzählt, bis der Pieper Iris alarmierte und in ein anderes Zimmer rief.

      Die Hanne hatte viele Gebrechen und war auf jede Hilfe angewiesen. Im Kopf aber war sie noch klar. War das nun gut oder eher von Nachteil? Genau wussten es beide nicht, Iris, die Pflegerin, und Hanne, die Pflegeperson.

      Hannes Motto war es schon immer, aus jeder Situation das Beste zu machen. Sie las viel und sprach gern über das Gelesene. Früher fuhr sie auf einem Luxusliner als Köchin. Verheiratet war sie nie und Kinder hatte sie auch keine. Eine Schwester hatte sie, doch die war vor vier Jahren verstorben.

      Hanne hatte letztes Weihnachten Iris ihr handgeschriebenes Kochbuch geschenkt, mit vielen goldenen Tipps aus ihrem Erfahrungsschatz. Iris wird es wie einen Schatz bewahren. Von Hanne ist etwas geblieben.

      Durch ihre Gespräche hat Iris begriffen, was in den Menschen hier vorgeht. Zwar hatte sie sich schon vorher gut auf diesen Beruf vorbereitet und in den gerontologischen Seminaren eine Menge gelernt, doch das war mehr oder weniger eigentlich nur die Theorie. Fachschulwissen halt.

      Letzte Nacht ist Hanne eingeschlafen, für immer, einfach so. Und Iris war nicht dabei. Sie hatte diesmal Tagesschicht.

      Alle, die Hanne kannten, haben von Herzen geheult, bei ihr sind die Tränen ausgeblieben, wollten nicht kommen. Darüber war sie selbst erstaunt und konnte es so recht nicht fassen, denn Hanne war ihr doch eine gute Freundin geworden.

      Heute ist der Tag so, als ginge sie neben sich her. So, wie man im Traum geht. Dann endlich ist Dienstschluss und Stefan holt sie mit dem Auto ab. Das macht er manchmal, so wie es sein Job gestattet.

      Und da stehen sie wieder am Fenster, die Alten. Das war ihr immer so unangenehm, wenn sie herabschauten und sie beobachteten, besonders wenn Stefan sie zur Begrüßung küsste. Heute aber ist es anders. Sie lässt sich lange küssen und winkt hinter Stefans Rücken den Leuten zu. Heute ist etwas so ganz anders geworden in ihr, das spürt sie.

      Plötzlich, als sie im Auto sitzen und abfahren, öffnen sich ihre Schleusen und die Tränen stürzen nur so heraus. Stefan steuert den Wagen und sagt gar nichts. Er kennt sie. Er muss sie jetzt lassen, diese kleine Frau. Erst nach dem Aussteigen nimmt er sie in den Arm und streicht ihr sanft übers Haar.

      Kein echtes Geviert, eher ein Parallelogramm, ein ungefähres. In diesem ungleichmäßigen Viereck der Garten. Ein Traumgarten! Wiese oder Garten? Eine Wiese mit lauter alten Obstbäumen, nur Äpfel, aber verschiedene Sorten. Sehr alte Sorten. So nenne ich diese Anlage einfach Wiesengarten, meinen Wiesengarten, denn so hat er sich seit ewigen Zeiten bei mir eingeprägt, obwohl er mir weder gehörte noch je gehören wird.

      Jeder kennt Orte, die ihm so besonders erscheinen, weil sie eine ganz bestimmte Aura haben, die befremdet oder anzieht. Dieser Garten zog mich immer an.

      Besagtes Grundstück existierte schon lange vor meiner Zeit, denn es gehörte einst zum Besitz der uralten