Richard Rohr

Ganz da


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sage: „Hier bin ich! Hier bin ich!“, zu Menschen, die nicht einmal meinen Namen anrufen.

      (Jesaja 65,1)

      Ganz da ist in erster Linie ein Buch über das Sehen, allerdings eine Art des Sehens, die viel mehr ist als bloßes Hinschauen, weil es zugleich Erkennen und im Gefolge davon Wertschätzung beinhaltet. Dies ist die Art des Sehens, die wir in der Kontemplation üben, dem Herzstück jedes authentischen inneren Dialogs. Der kontemplative Geist zeigt uns nicht, was wir sehen sollen, sondern lehrt uns, wie wir das sehen können, was wir vor Augen haben.

      Kontemplation erlaubt uns, die Wahrheit der Dinge in ihrer Ganzheit zu schauen. Es handelt sich um einen geistigen Übungsweg und ein Geschenk, das uns – sogar neurologisch – von der Abhängigkeit von unserer fixierten Denkweise befreit, von unserer linken Gehirnhälfte, die denkt, sie hätte alles im Griff. Wir hören auf, unserem winzigen, binären Verstand zu glauben, der alles auf zwei Wahlmöglichkeiten reduziert und sich dann in der Regel mit einer davon identifiziert, und wir beginnen, die Unzulänglichkeit dieser beschränkten Art und Weise, die Wirklichkeit wahrzunehmen, zu erkennen. In der Tat ist ein binärer Verstand ein Garant für Oberflächlichkeit, wenn nicht gar Dummheit. Nur kontemplative oder zutiefst intuitive Menschen können beginnen, sich in wesentlich weitere und ergebnisoffenere Gefilde vorzuwagen. Dies ist vermutlich der Grund, weshalb Einstein sagte, Imagination sei wichtiger als Wissen: „Wissen ist begrenzt. Imagination umfasst die ganze Welt.“1

      Aber wie erlernen wir diesen kontemplativen Geist, diese tiefe, geheimnisvolle und lebensspendende Weise, die Wirklichkeit zu sehen und in ihr zu sein? Warum fällt uns das nicht ganz einfach in den Schoß? Er zeigt sich tatsächlich in kurzen Momenten, in Augenblicken großer Liebe und großen Leidens; aber solch Sehen mit weit geöffneten Augen hält normalerweise nicht lange an. Wir kehren schnell zu dualistischer Analyse zurück und benutzen unser Urteilsvermögen, um wieder die Kontrolle zu gewinnen. Eine Gebetspraxis – Kontemplation – besteht einfach darin, sich die Frucht großer Liebe und großen Leidens lange und in unterschiedlichen Situationen zu bewahren. Und dies erfordert eine Menge Übung – ja, unser ganzes Leben wird so zu einem kontinuierlichen Übungsweg.

      Um mit neuen Augen zu sehen, müssen wir unsere gewohnte Weise, jedem Augenblick zu begegnen, beobachten und uns davon demütigen lassen. Diese Erfahrung ist demütigend, weil wir feststellen werden, dass wir nur einige wenige vorhersagbare Reaktionsweisen eingeübt haben. Wenige unserer Reaktionen sind originell, spontan oder von natürlicher Wertschätzung getragen für das, was uns entgegenkommt. Die gängigen Reaktionen auf neue Situationen sind Misstrauen, Zynismus, Furcht, reflexartige Resonanz, Ablehnung oder ein überzogener Richtgeist. Es ist ernüchternd, wenn wir den Mut haben, endlich zu sehen, dass dies die gängigen Methoden sind, mit denen das Ego versucht, Informationen zu kontrollieren, anstatt dem Augenblick zu erlauben, eine gewisse Kontrolle über uns zu erlangen – und uns Neues zu lehren!

      Damit uns der Augenblick etwas lehren kann, müssen wir zulassen, dass wir uns zumindest ein wenig von ihm überraschen lassen, bis er uns erst in seinen Bann und schließlich gleichsam nach oben zieht zu einer subtilen Erfahrung der Verwunderung. Normalerweise genügt ein einziger Moment fraglosen Staunens, um die eigene Trägheit zu überwinden – und solche Momente sind die einzig solide Grundlage jeder religiösen Intuition und Suchbewegung. Man betrachte beispielsweise die jüdisch-christliche Exodusgeschichte: Alles beginnt mit einem Mörder (Mose), der vor dem Arm des Gesetzes flüchtet und dabei auf einen paradoxen Dornbusch stößt, „der brennt, ohne verzehrt zu werden“. Von Ehrfurcht ergriffen, zieht Mose die Schuhe aus, und die Erde unter seinen Füßen wird zu „heiligem Boden“ (Exodus 3,2–6), weil er dem „Ich bin da“, dem „Sein an sich“ begegnet ist (Exodus 3,14). Diese Erzählung offenbart das klassische Muster, das sich in unterschiedlichen Variationen und Sprachgestalten bei allen Mystikern der Welt wiederholt.

      Der spirituelle Weg ist ein ständiges Zusammenspiel von Momenten des Staunens, auf die in der Regel ein Prozess der Hingabe an solch einen Moment folgt. Wir müssen zunächst zulassen, dass wir von der Güte, Wahrheit oder Schönheit einer Realität gefesselt werden, die jenseits und außerhalb unserer selbst liegt. Ausgehend von diesem wunderbaren Augenblick schließen wir dann auf die Güte, Wahrheit und Schönheit der gesamten Wirklichkeit – bis unsere Wahrnehmung schließlich zurückwirkt und uns selbst einschließt! Dies ist der großartige innere Dialog, den wir Gebet nennen. Doch wir Menschen haben Widerstände sowohl gegenüber dem Staunen als auch und noch stärker gegenüber der Hingabe. Das Ego stellt sich dem Staunen in den Weg, während der Wille der Hingabe widerstrebt. Aber beide gemeinsam sind notwendig und lebenswichtig.

      Der Weg zu jedweder universalen Idee beginnt mit einer konkreten Begegnung. Es gibt viele verschiedene Arten, eben dies auszudrücken: Das Eine ist der Weg zum Vielen; das Besondere ist der Weg in das Umfassende; das Jetzt ist der Weg zum Immer; das Hier ist der Weg zum Überall; die Materie ist der Weg zum Geist; das Sichtbare ist der Weg zum Unsichtbaren. Wenn wir kontemplativ sehen, wissen wir, dass wir in einem durch und durch sakramentalen Universum leben, wo alles ein Hinweis und eine Offenbarung ist.

      Walter Brueggemann, mein Favorit unter den Fachgelehrten der hebräischen heiligen Schriften, nennt dieses Prinzip des Weges vom Konkreten zum Universalen den „Skandal des Partikulären“ und weist nach, dass dies das Grundmuster der gesamten biblischen Geschichte ist. Misslich ist, dass sich die meisten in der Diskussion auf irgendwelche konkreten Einzelphänomene fixieren (das genaue Gegenteil des Staunens!) und niemals die wundersame Reise zum Universalen, zum Immer und zum Überall antreten. Absolute Wahrheit wird hier durch relative Wahrheit ersetzt – und das in einem Ausmaß, dass unsere postmoderne Welt die Existenz jeder absoluten Wahrheiten per se leugnet. Wir neigen dazu, den Vermittler einer Botschaft anzuhimmeln, anstatt der Botschaft selbst zu folgen; wir verehren den Finger, der auf den Mond deutet, anstatt selbst in fassungslosem Schweigen den Mond zu betrachten. Während Wissenschaftler einen Hang zum Universalen haben und Dichter das Besondere lieben, sind es die Mystiker, die uns lehren, beides zu verbinden.

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      Sollte meine Beschreibung des grundlegenden Prozesses von Staunen und Hingabe zutreffen, dann muss ich wiederholen, dass wir für gewöhnlich beidem gegenüber blockiert sind, ebenso wie wir uns in der Regel gegenüber großer Liebe und großem Leid verschließen. Spiritualität in ihrer Frühphase hat weitgehend damit zu tun, diese Blockaden zu benennen und sich von ihnen zu lösen, indem wir anerkennen, welchen unbewussten Speicher an Erwartungen, Prämissen und Glaubensinhalten wir zutiefst verinnerlicht haben. Wenn wir nicht sehen, was unser eigenes Reservoir beinhaltet, werden wir alles, was neu ist, ins altbekannte Schema einordnen – und niemals wird irgendetwas Neues geschehen. Eine neue Idee, die vom alten Selbst benutzt wird, ist deshalb niemals eine wirklich neue Idee, während sogar eine alte Idee, die von einem neuen Selbst aufgegriffen wird, schon bald frisch und erfrischend werden wird. Kontemplation füllt unser Reservoir mit klarem, reinem Wasser, das uns erlaubt, Erfahrungen frei von eingefahrenen Mustern zu begegnen.

      Bei unseren Begegnungen mit der Realität – seien sie positiv oder negativ – machen wir folgenden Fehler: Wir begreifen nicht, dass es nicht die Personen oder Ereignisse unmittelbar vor uns sind, die uns ärgern oder Angst machen beziehungsweise animieren oder begeistern. Das ist bestenfalls zum Teil wahr. Wenn du zulässt, dass dich der wunderschöne Ballon am Himmel beglückt, dann ist das so, weil du bereits für das Glück empfänglich bist. Der heiße Ballon in der Luft war nur der Auslöser – und fast alles andere hätte dieselbe Reaktion bewirken können. Wie wir sehen, bestimmt weitgehend das, was wir sehen und ob es uns erfreuen kann oder ob wir eher mit unseren Emotionen knausern und uns naserümpfend abwenden. Ohne eine objektive äußere Realität an und für sich leugnen zu wollen, ist das, was wir in der Außenwelt sehen und wofür wir empfänglich sind, ein Spiegelreflex unserer inneren Welt und unseres Bewusstseinszustandes zu diesem Zeitpunkt. Meistens sehen wir gar nichts, sondern operieren per Autopilot.

      Jesus meint natürlich genau dieses Phänomen in seiner berühmten Aussage, dass wir den Splitter im Auge eines anderen aufspüren ohne