Knacken, lautlos und doch so, als ginge nun ein Riss durch mich hindurch oder als hätte ich einen Sprung bekommen. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, ich fiele ins Nichts, stürzte haltlos in den Abgrund. Ich habe keine Ahnung, wie lange dieser Zustand dauerte. Es passierte einfach – und es zog vorüber. Denn plötzlich war das, was den ganzen Abend von mir Besitz ergriffen hatte, wieder verschwunden. Als hätte jemand den auf das Opfer zurollenden Bagger einfrieren lassen oder einen Film angehalten.
Die Eindrücke, die eben noch wie eine Lawine über mich hereinzustürzen drohten, waren wie weggewischt. Ein angehaltenes Uhrenpendel, ein ausgeschalteter Presslufthammer, ein gefallener Bühnenvorhang. Ich war wieder ich. Ich atmete erleichtert die kalte Nachtluft ein und blickte in die Runde.
Anna fiel mir um den Hals und küsste mich auf den Mund, weich und einladend. Ich runzelte die Stirn.
„Hey, was ist?“, fragte sie und beugte sich ein wenig zurück. „Sei doch nicht immer so ernst. Ein frohes neues Jahr!“
„Ein frohes neues Jahr“, murmelte ich und wollte mich von ihr lösen, aber sie umschlang mich schon wieder, drückte ihre Brüste sinnlich gegen meinen Oberkörper und knabberte an meiner Unterlippe. Ich war so verblüfft, dass ich sie einfach gewähren ließ. Irgendetwas lief hier falsch. Sie streichelte meinen Rücken, schmiegte sich an mich und blitzte mich mit ihren grünen Augen verheißungsvoll an.
„Freust du dich auf das neue Jahr?“
„Na, ich weiß nicht so recht.“
Ein Hauch von Ärger zog über ihr Gesicht, aber ehe sie sich aufregen konnte, kamen Freunde und Bekannte von allen Seiten herbeigeströmt, um mit uns anzustoßen. Alle waren so gut gelaunt, dass ich mich anstecken ließ. Einige Freunde hatte ich den ganzen Abend über noch gar nicht wahrgenommen und ich fand es lustig, die ewig gleichen Sprüche zu hören. Alles schien wieder in Ordnung zu sein.
„Hallo, Max, ein gutes neues!“
Jemand klopfte mir auf die Schulter und hielt sich dann daran fest. Ich drehte mich um – und da stand Thomas. Jetzt wurde mir endgültig flau. Meine Gedanken zuckten wie Fische in einem Netz.
Thomas war ein Freund, mit dem ich schon als Schüler die örtliche Pfadfindergruppe unsicher gemacht hatte; der hoch aufgeschossene Verfahrenstechniker mit dem kleinen, unverkennbaren Muttermal am Kinn. Er stand da und grinste. Ich stand da und gefror innerlich. Wie eine Dunstglocke umhüllten mich die aufgeregten Stimmen der Freunde, wurden immer dumpfer und sperrten mich in mir ein.
Vor mir stand Thomas. Ich war im Juni bei seiner Beerdigung gewesen. Mit all den Leuten, die hier um uns feierten. Aber das schien niemandem außer mir aufzufallen. Ein widerlicher Unfall. Thomas war bei einer Nachtfahrt auf gerader Strecke mit dem Motorrad von der Straße abgekommen und frontal gegen einen Baum gefahren. Keiner konnte sich erklären, wie es dazu gekommen war, denn er hatte jahrelang während des Studiums als Testfahrer für BMW gearbeitet und wusste, wie man mit schweren Maschinen umging.
Ich war bei der Trauerfeier nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder in Tränen ausgebrochen, als ein ehemaliger Mitschüler einen melancholischen Gospel angestimmt hatte. Die Familie hatte später entschieden, dass ich einige altsprachliche Bücher und zwei Lexika von Thomas bekommen sollte. Sie standen seither direkt neben meinem Schreibtisch und erinnerten mich jeden Tag an ihn. Ich musste schlucken und brachte kein Wort heraus. Thomas dagegen war völlig entspannt.
„Na, ihr zwei Hübschen. Was machen denn die Heiratspläne? Ist es dieses Jahr endlich soweit? So etwas nimmt man sich doch an Silvester vor, oder nicht?“
Er zwickte Anna in die Seite, die sich kichernd nach vorne beugte. Sie druckste herum: „Na, alles zu seiner Zeit.“
„Max, was ist denn los? Du siehst aus, als ginge es dir nicht gut.“
Ich ertrug die Situation nicht mehr und rannte davon: „Entschuldigt mich einen Augenblick!“
Ich lief ins Haus, um mich zum Nachdenken auf die Toilette zu verziehen, wie ich es in solchen Momenten immer tue, gerade dann, wenn mich Panik überkommt. Es gibt Zeiten, in denen ich für mich sein muss. Und dieser Alptraum war Grund genug.
Aber ich kam nicht dazu. Denn als ich mich an den Resten des Büfetts vorbeigezwängt, einem halben Dutzend Freunden gequält ein gutes neues Jahr gewünscht und mich zum Flur durchgekämpft hatte, verlor ich völlig die Kontrolle über meinen Verstand. Normalerweise bin ich nicht leicht zu erschüttern, aber diesmal durchzog mich ein kalter Schauder, der nicht aufhören wollte. Mein Herz raste.
Es hatte auch allen Grund dazu: Im Gang stand ich! Ich selbst! Der, den ich sonst nur im Spiegel erblickte. Ich sah mich in angeregtem Gespräch vor der Tür zum Badezimmer stehen, etwa dreieinhalb Meter von mir entfernt. Da lehnte ich an der Wand und plauderte mit einer hübschen Brünetten, die schon im Jahr zuvor auf der Party gewesen war. Ich glaube, sie hieß Julia, aber das war mir in diesem Augenblick völlig gleichgültig.
Ich weiß nicht, ob irgendjemand verstehen kann, was da geschah: Ich sah mich als mein Gegenüber. Zum ersten Mal in meinem Leben begegnete ich mir selbst. Und als ich in den großen Spiegel neben der Eingangstür blickte, stand ich tatsächlich zweimal da. Ich wollte schreien – und konnte nicht. Ab da weiß ich kaum noch, was geschah.
Da sich mein anderes Ich in diesem Moment suchend umdrehte, ließ ich mich zwischen die Jacken und Mäntel an der Garderobe fallen und versuchte verzweifelt, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. Was ist los? Was ist los? Was passiert hier? hämmerte es in mir, während ich flach und schnell atmete. Bevor ich auch nur eine irgendwie geartete Antwort zuließ, nahm ich völlig verstört meinen Mantel und rannte hinaus. Nach einigem Suchen fand ich an einem Taxistand einen einsam vom Widerschein der Raketen glitzernden Wagen und ließ mich völlig fassungslos auf die Rückbank gleiten.
„Ein gesegnetes Jahr 1999“, sagte der Taxifahrer.
Auf der Fahrt fiel mir ein, dass letztes Jahr, als Anna und ich die Feier verlassen wollten, meine Jacke verschwunden war und wir mit einigen Freunden eine Stunde lang danach gesucht hatten. Ich fand sie später zu Hause mit allen Papieren wieder, wurde stinksauer, und Anna beteuerte vergeblich, dass es sich dabei nicht um einen ihrer üblichen Scherze gehandelt habe.
„Können Sie bitte das Radio anschalten?“, bat ich den Taxifahrer, als ich sah, dass es gerade ein Uhr war. Der Jingle lief schon: „Nachrichten. Es ist ein Uhr morgens. Wir wünschen allen Hörern ein frohes neues Jahr 1999.“
„Danke, das reicht. Schalten Sie bitte wieder aus!“
Der Taxifahrer brummte und drückte auf einen Knopf.
„Was denken Sie über Oskar Lafontaine?“, fragte ich. Schließlich war der Politiker als Finanzminister im März 1999 zurückgetreten.
Mein Fahrer schob seine dicke Mütze nach hinten, drehte sich kurz zu mir um, als wolle er an meinem Gesichtsausdruck erkennen, was er antworten könne, und murmelte dann: „Ich finde, die ersten hundert Tage sollte man einer neuen Regierung schon gönnen, dann kann man immer noch anfangen zu schimpfen.“
Ich schwieg. Ich war noch nie einem Phänomen begegnet, das ich nicht erklären konnte. Zumindest keinem, das so nach einer Erklärung schrie. Ich war es gewohnt, in Büchern nach Antworten auf strukturierte Fragen zu suchen und aus kleinen Indizien historische Schlüsse zu ziehen. Aber ich war es nicht gewohnt, aus dem Jahr 2000 zurück in das Jahr 1999 versetzt zu werden.
Ich weiß nicht, ob es die Müdigkeit, die Verzweiflung oder einfach völlige Ratlosigkeit war, jedenfalls wurde ich mit einem Mal ganz ruhig.
Ich schloss die Augen, lehnte mich zurück und verwandelte mich in den korrekten Wissenschaftler, den Anna so hasste und der alle Probleme als logische Herausforderung betrachtet. Ich schalte dann meine Gefühle aus, atme tief durch und analysiere mich und die Umgebung so lange, bis ich eine rationale Erklärung finde. Ich weiß, dass das erbärmlich ist, aber es hat mir immer geholfen, wenn ich kurz vor der Verzweiflung stand.
Zu Hause angekommen, holte ich einen alten Koffer vom Speicher, den ich nicht vermissen würde, und packte einige Kleider zusammen,