Fabian Vogt

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bestätigen, stellte schon gar nicht mehr überrascht fest, dass die von Thomas geerbten Bücher nicht mehr, beziehungsweise noch nicht in meinem Regal ruhten, fand im Küchenregal auch tatsächlich den kaputten Toaster wieder, den ich im Sommer 1999 eigenhändig zerlegt und entsorgt hatte, nahm den Schlüssel zur Gartenhütte meiner Eltern und einen Ersatz-Hausschlüssel aus dem Schlüsselkasten und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen.

      So fing es an.

      1635 Van Dyck schob mir einen Becher Wein zu, den er auf eine Holzkiste gestellt hatte, die zwischen uns stand, und forderte mich wortlos auf, daraus zu trinken.

      „Du behauptest also, du wärst im Jahr 2000 zurück ins Jahr 1999 gesprungen?“

      „Nicht nur das. Seitdem wache ich jeden Morgen ein Jahr früher auf. Ich wollte es anfangs selbst nicht glauben. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ehe ich wirklich realisiert hatte, was passiert war, verging eine ganze Woche, in der ich jeden Tag hoffte, dass jemand von der, Versteckten Kamera‘, ein überdrehter Wissenschaftler oder ein Psychologe zu mir in die Gartenhütte käme, um mir zu sagen, dass das alles nur ein Spiel, ein Experiment oder eine Täuschung gewesen sei. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben.

      Als das Unbegreifliche zur Gewissheit wurde, stand auf den Zeitungen am nahe gelegenen Kiosk in der Datumsspalte bereits 1993. Donnerstag, der 7. Januar 1993. Die Tage liefen weiter, aber die Jahreszahlen sprangen zurück.“

      Es fällt mir schwer, dieses Gespräch aufzuschreiben, denn ich werde schon wieder von diesem bedrückenden Gefühl überwältigt, das meine Stunden im Atelier bestimmt hat; eine seltsame Mischung aus Hilflosigkeit, Stolz und Wut. Ich soll etwas erklären, was unerklärlich scheint. Welch eine Aufgabe. Niemand hat jemals mein Schicksal geteilt, und darum ringe ich voller Ehrgeiz mit den Worten und erkenne schnell, dass sie mich wahrscheinlich zu Boden werfen werden. Ich bin nicht einmal sicher, ob mich Van Dyck verstanden hat; immerhin lassen seine Rückfragen darauf schließen; wenn ich denn sein von einem starken niederdeutschen Akzent geprägtes Altenglisch richtig interpretiere. Ich könnte seine Erwiderungen natürlich im Original wiedergeben, aber wer weiß, ob ich sie dann in einigen Jahren noch begreifen werde. Schließlich ist es ungewiss, wie lange meine Reise dauern wird.

      Was soll ich also machen? Ich kann nur von dem schreiben, was ich selbst begreife. Ich denke, ich werde alle Eindrücke so wiedergeben, wie mein Verstand sie empfangen hat, der ja auch jede Botschaft übersetzt, damit ich sie einordnen kann.

      Mein Van Dyck spricht meine Sprache, und ich kann hier ohnehin nur das festhalten, was ich gehört und begriffen habe. Außerdem bin ich es, der das Rätsel lösen will, nein, lösen muss. Das Rätsel Maximilian Temper. Wer könnte mir verbieten, meine Sicht der Dinge zu berichten? Sollte ein anderer irgendwann einmal diese Zeilen lesen, dann wird er die Welt aus meinen Augen sehen und mit meinen Ohren hören. Er wird dann nicht nur meine Reise, sondern auch mich kennen lernen.

      Eines jedenfalls konnte ich die ganze Zeit spüren: Van Dyck brannte darauf, zu hören, wie meine Geschichte weiterging.

      1993 Jeden Morgen war ich erwartungsvoll aus der winterlich leeren Kleingartensiedlung in das nächste Einkaufszentrum gerannt. Und jedes Mal war ich fest davon überzeugt gewesen, dass es sich bei all dem nur um ein Missverständnis handeln konnte, einen irren Traum, vielleicht durch eine Droge in einem der Drinks auf der Party verursacht. Jeden Morgen vertraute ich darauf, dass sich nun alles aufklären würde. Doch schon, wenn ich mich dem Supermarkt genähert hatte, hatten mich zu viele Kleinigkeiten darauf hingewiesen, dass ich noch weiter in die Vergangenheit vorgedrungen war: Die dichten Büsche waren kleiner geworden, die Markisen hatten heller geleuchtet und die Verkäuferinnen frischer gewirkt. Jeden Tag waren weniger Menschen mit Handys unterwegs und die Autos wurden immer eckiger.

      Dann hatte sich jedes Mal mein Schritt verlangsamt, ich war die letzten Meter bis zum Zeitungsständer gewankt und hatte schon gewusst, was ich auf den Titelseiten lesen würde. Und irgendwann hatte sich der letzte Rest Hoffnung in nichts aufgelöst. Als es keinen Zweifel mehr daran gab, dass ich zu einem Gefangenen der Zeit geworden war, stieg in mir Wut hoch. Warum gerade ich?

      An einem dieser Tage rannte ich zurück zu meinem Schlafplatz, verbittert und voller Hass. Es war, als müsste sich die ganze Anspannung lösen. Ich musste etwas zerstören, um nicht selbst zerstört zu werden. Also ließ ich all meine Wut raus.

      Innerhalb einer halben Stunde zerlegte ich die gesamte Einrichtung der Gartenhütte. Ich war wie von Sinnen, prügelte unkontrolliert mit einem Besen auf die Möbel ein, zerkratzte vor Wut die Tischplatte, riss die Schubladen aus den Schränken und trat gegen alles, was mir in den Weg kam. Ich riss die Tapete von den Wänden, hebelte die Steckdosen aus den Leisten und bohrte mit einem Messer Löcher in den Boden. Und erst als ich ausgebrannt und weinend auf den kalten Dielen lag, wurde mir wieder bewusst, wie erschüttert meine Eltern 1993 gewesen waren, als „irgendwelche“ Vandalen in ihrer Hütte randaliert hatten.

      Die nächsten Tage brachte ich damit zu, mit dem Schicksal zu verhandeln. Ich war fest davon überzeugt, dass es möglich sein müsse, diesem Zeitenschwund ein Ende zu bereiten. Es musste etwas geben, das mir helfen konnte: Dämonenaustreiber, Physiker, Historiker, Wunderheiler oder eine Wallfahrt nach Lourdes. Ich spannte endlose Theorien, um den an diesem Leben Schuldigen die Sinnlosigkeit meiner neuartigen Existenz zu beweisen, aber da war niemand, dem ich mein Plädoyer hätte vorlegen können.

      Tagelang versank ich in mir und wälzte immer wieder die gleichen Argumente hin und her. Ich verdächtigte alles und jeden, entwickelte ominöse Verschwörungstheorien und überlegte, ob nicht vielleicht am 1. Januar 2000 die Welt untergegangen war. Aber dann fiel mir kein Grund ein, warum jemand gerade mich auf eine derart seltsame Weise davor gerettet haben sollte. Der Irrsinn der Verzweiflung.

      Ich lief sogar einige Tage durch die Straßen und versuchte herauszufinden, ob es unter den Passanten vielleicht noch andere Zeitspringer gab. Gemeinsam hätten wir ja möglicherweise eine Chance gehabt, dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Aber woran sollte ich sie erkennen? Einige Personen, die auf mich einen ziellosen Eindruck machten, sprach ich sogar an. Ich betrachtete sie lange, und wenn sie sehr unkoordiniert, unsicher und verloren wirkten, verfolgte ich sie vom Supermarkt bis auf die Straße.

      Leider gab es überall Fußgänger, auf die diese Beschreibung zutraf, sodass ich immer erst dann mit ihnen in Kontakt trat, wenn sie mehrfach auf das Datum der Zeitung geblickt hatten, ohne sie zu kaufen. Aber selbst zu dieser Sorte Mensch zählten noch so viele, dass ich nicht jeden befragen konnte. Außerdem hatte ich Angst, mich lächerlich zu machen. „Was halten Sie von Zeitreisen?“, hielt ich für die unverfänglichste Frage. Doch ich erntete nur misstrauische, nichts sagende oder befremdliche Blicke. Einmal gaben mir zwei Schüler erstaunlich passende Antworten, die mich aufhorchen ließen, bis ich merkte, dass mich die beiden zum Besten hielten.

      Daraufhin zog ich mich wieder zurück und versank im Kerker meiner Gedanken. Ich verabschiedete mich aus der Welt, um mich ihr nicht stellen zu müssen. Tag für Tag zog ein Jahr an mir vorüber. Die deutsche Einheit verpasste ich dabei genauso wie beim ersten Mal. Ein historisches Ereignis, das lautstark an mir vorüberschritt und mich doch nicht erreichte. Die Fragen der Welt verblassten hinter meinen Fragen. Meine Angst und meine Niedergeschlagenheit drängten sich so in den Vordergrund, dass für alles andere kein Platz mehr war. Ich war nur noch ich. Zerrissen, verwundet, hasserfüllt und trotzig. Ein Bär im Winterschlaf, der nicht mehr an den Frühling glaubt. Am 11. Januar 1989 begriff ich endlich, dass das alles keinen Zweck hatte.

      1635 Durch das dunkel gewordene Atelier ging ein Luftzug. Heftig und erfüllt mit dem Geruch von Mehlschwitze und Fett.

      Van Dyck fluchte: „Es ist grauenhaft. Jeden Abend öffnen diese verblödeten Mägde die Küchentüren und hier fliegen die Leinwände durch den Raum.“

      Er stand auf, holte aus einer Truhe zwei Decken und warf mir eine davon zu: „Hier! Wir wollen ja nicht, dass du bis zu den Zeiten Karls des Großen Schnupfen hast.“ Er kicherte leise, wurde aber gleich wieder ernst. „Was meinst du jetzt? Warum passiert so etwas? Warum reist jemand wie du durch die Zeit?“

      Ich wickelte mich in den groben Stoff und blickte nicht auf: „Wenn ich das wüsste, dann wäre ich der glücklichste