muß alle Sicherheit bestimmte Grade der individuellen Freiheit einschränken, um die individuelle Freiheit als kollektives Gut überhaupt erst zu ermöglichen. Drittens ist es gar nicht möglich, die fundamentalen Prinzipien der Moderne so in Einklang zu bringen, daß alle sozialen, sprachlichen, religiösen und regionalen Gruppierungen damit zufrieden wären. Daher unterlägen alle dissentierenden Sektoren der Weltgesellschaft unaufhörlich der Versuchung, ihren Dissens als programmatischen aufzufassen. Im politischen Spektrum profilieren sich Strömungen am Rand immer dadurch, daß sie die Streitpunkte vergrundsätzlichen. Diese Tendenz verschärft die Konflikte; und diese treiben die Geschichte voran.
Selbst wenn die weltrepublikanischen Organe bestens funktionieren, ist der Dynamik der Differenzierung nicht zu entkommen, gleichgültig ob diese sich speist aus demographischen Verschiebungen, aus dem Umgang mit knappen Ressourcen, aus den sozialen Folgen von technischen Fortschritten oder aus dem bloßen Wechsel der Generationen. Stets stören sie das momentane ›Gleichgewicht‹ und nötigen dazu, erneut Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Solidarität in Ausgleich zu bringen. Und die Ansichten darüber, wie solche Ausgleiche aussehen sollen, divergieren. Der Grad solcher Divergenzen kann die globalisierte Menschheit dissoziieren und schwere Konflikte ausbrechen lassen. Wir neigen dazu, die generationelle Dynamik in Kulturen zu unterschätzen. Auch die erwünschte Weltgesellschaft unterliegt der Notwendigkeit, die sozialen und politischen Verhältnisse über die Zeitläufte hinweg ebenso zu reproduzieren wie die kulturellen Kompetenzen. Doch die intergenerationelle Weitergabe mittels Geburt, primärer und sekundärer Sozialisation samt Bildung und Beruf erbringt zwangsläufig ›neue‹ und ›andere‹ Menschen. Es ist nicht einmal möglich, die Werthaltungen von einer Generation auf die nächste so zu übertragen, daß sie identisch blieben. Solche Abweichungen können sich mit der Zeit als gravierend herausstellen und weit über folkloristische Besonderheiten hinausgehen. Gerade ›neue‹ Werthaltungen sind imstande, normative Divergenzen von hoher Brisanz anzutreiben.
Im Klartext: Die Weltrepublik garantiert keineswegs Kants ewigen und vollkommenen Frieden. Sondern sie wird ein Notinstrument bleiben, nämlich das einzige, das imstande ist, den Frieden immer wieder schnellstmöglich herzustellen und die aufflackernden Bürgerkriege nicht ausarten zu lassen.
Was hat diese Überlegung mit dem Begriff der Politischen Vernunft zu tun? Das wird deutlicher, wenn wir einen flüchtigen Seitenblick werfen auf die naturbedingten und auf die mikrobiotisch verursachten Katastrophen der Zukunft, welche unvermeidbar Teile der Menschheit heimsuchen werden. Sie sind weder zureichend vorhersehbar noch präventiv abzufangen. Auch der Katastrophenschutz der künftigen Weltrepublik bleibt an Nachträglichkeit gekettet; und seine kurativen Maßnahmen kompensieren niemals jene dramatischen Ungleichheiten in den Lebenschancen, die jede wirkliche Katastrophe bewirkt. Auch die globalisierte Menschheit wird periodisch das Leiden bewältigen müssen, das Menschen millionenfach beugt. Die Klagelieder werden immer erschallen. Und ob jemals eine künftige Weltrepublik den Mut aufbringen wird, die Losungen der römischen Reichsidee auszugeben – PAX AETERNA – FELICITAS TEMPORUM, darf getrost bezweifelt werden. Zwar dient die Vernunft auch der Erkenntnis. Aber das Bewußtsein selber nützt prioritär nicht dem Erkennen, sondern der Orientierung des Menschen in seiner Lebenswelt. Orientierung und Erkenntnis gehen jedoch in der Regel weit auseinander. Vor allem aber benutzen die Menschen einen nicht unerheblichen Teil ihrer Bewußtseinsfunktionen, um Enttäuschungen und bitteres Leid zu verarbeiten. Weil Menschen extrem abhängige und verletzbare Lebewesen sind, ist es für sie eine zentrale biographische Aufgabe, an den persönlichen Widerfahrnissen zu wachsen und sie einzufügen in einen Sinnhorizont. Anders gesagt: Sie brauchen Trost; und dieses Bedürfnis ist nicht leicht zu stillen. Eine metaphysische Neigung ist darum untilgbar; sie wirkt als Matrix für religiöse Dispositionen, garantiert eine unterschiedlich intensive religiöse Anfälligkeit. Die aufgeklärteste Gesellschaft ist nicht gefeit gegen das Hochschwappen von religiösen Wellen. Und nur Narren sind außerstande, die ungeheure Gewalt zu übersehen, mit der Religionen die Menschen erfassen können. Auch in Zukunft.
Niemand muß sich fürchten, daß die Weltrepublik in ein Eschatolithikum gähnender Immerselbigkeit hineindämmern wird. Von solcher Furcht, notorisch beheimatet in anti-universalistischen Weltsichten, wird noch die Rede sein im Kapitel über Recognition und Differenz. Sondern im Gegenteil wird die Menschheit froh sein, wenn eine solche Republik wenigstens einige der kollektiven Überlebensprobleme überhaupt politisch zugänglich macht. Zweifelsohne wird es ein Ende der Geschichte geben, denn eines Tages wird dieser Planet abgewohnt und ohne irgendein Leben um einen roten Riesen kreisen. Doch das Ende der Geschichte wird erst eintreten, sobald es keine Menschen mehr geben wird. Keinen Tag vorher.
II. Die dreifach negierte Aufklärung
Dialektiken der Aufklärung
Insbesondere drei Errungenschaften der Aufklärung stehen nun auf dem Spiel, nämlich der menschenrechtliche Universalismus, die Wissenschaft als letzte Instanz in Wahrheitsfragen und die republikanische auf Volkssouveränität beruhende Organisation menschlicher Gemeinschaften. Aus dieser Trias entstammen die beiden letzten zwar der Antike, und auch die erste gründet auf Ideen, die weit älter sind als das 18. Jahrhundert; dennoch haben sie in der Epoche, die wir ›Aufklärung‹ nennen, ihre maßgebliche Konfiguration erhalten. Wir riskieren nun, diese Errungenschaften zu verspielen.
Das ist immer wieder vorausgesagt worden, am eindringlichsten von Nietzsche. Und daß die Aufklärung keineswegs gegen Katastrophen gefeit hat, bleibt unbestritten. Aber sind diese ihr deshalb anzulasten? Wir stehen vor dem Thema ›Dialektik der Aufklärung‹. Viele Intellektuelle ließen im 20. Jahrhundert ihre Sorgen und ihre Aufmerksamkeit um dieses Thema kreisen. Sowohl Heidegger als auch Adorno und Horkheimer brachten die Widersprüche der Aufklärung in prägnante Formen; und beide Versionen ähneln einander teilweise zum Verwechseln. Ihnen zufolge hat die Ausdehnung der menschlichen Herrschaft mittels Technik und Wissenschaft desaströse Ausmaße angenommen. Beide Philosophien verabschieden die Geschichte und hoffen auf Erlösung.
Adorno und Horkheimer haben die Aufklärung für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – insbesondere für den Faschismus – verantwortlich gemacht. Hierfür prägten sie den Begriff der Aufklärung neu: Seit der »Odyssee« Homers betreibe der abendländische Mensch Aufklärung, indem er die Verfügung über sich selber und über die Welt ständig ausweitet und intensiviert. Die Selbstbehauptung ist sein Zweck und das Opfer sein Mittel. Zweck und Mittel ketten die sich aufklärende Vernunft an einen hoffnungslos instrumentellen Gebrauch; somit diene die Aufklärung einer nur instrumentellen Vernunft, welche keinerlei utopischen Impuls verspürt und den Zwecken der technischen Perfektion gehorcht. Mit dieser Vernunft verkehre sich die Aufklärung in ihr Gegenteil und befördere das Unheil, welchem die utopische Vernunft stets entkommen wollte. Eine solche geschichtsphilosophische Konstruktion ist schierer Mythos. Seltsamerweise hat dieser adornitische Mythos bei der kulturwissenschaftlichen Linken der deutschen Geisteswelt erhebliche Wirkung gezeigt.
Jedenfalls gaben sowohl Heidegger als auch Adorno und Horkheimer die Hoffnung auf, daß es in der Geschichte noch zu einer Wende kommen könnte. Letztere huldigten dem Credo, »daß Erlösung und Geschichte nicht ohne einander sind und nicht ineinander, sondern in einer Spannung, deren gestaute Energie schließlich nichts weniger will als die Aufhebung der geschichtlichen Welt«.1 Soll das vernunftgemäße Ziel der Geschichte in der Aufhebung der geschichtlichen Welt bestehen, und kann diese Aufhebung sich nur ereignen als Abbruch der Geschichte, dann haben wir Anlaß, uns vor einer solchen Geschichtsphilosophie zu ängstigen. Indes, in wohlbegründeter Parallelität hierzu konnte Heidegger seine Philosophie mit den Worten abschließen: »Nur noch ein Gott kann uns retten.« Was aber tun, wenn kein Gott uns rettet? Und wenn keine Erlösung naht, um die Geschichte ›abzubrechen‹?
Viele andere Dialektiken wurden erdacht, um die Widersprüche der Aufklärung in soziologische oder geistesgeschichtliche Erklärungsmodelle einzupassen und so die Aporien der Moderne und ihres ›Projekts‹ in Begriffe zu gießen. Eine davon verengt auf entschiedene Weise den Fokus auf das Politische und die politischen Ideen, nämlich jene von Hannah Arendt. Sie stellt in »Über die Revolution« die Amerikanische und die Französische Revolution einander gegenüber: Die erste leistete einen enormen