Egon Flaig

Die Niederlage der politischen Vernunft


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zu beachten. Geschichtlichkeit ist etwas Fundamentaleres als jene Zeithorizonte, deren die politische Vernunft, wie oben gesagt, gewärtig sein muß. Das erhellt sich, sobald man die vier Momente der Geschichtlichkeit freilegt.

      Geschichtlichkeit ist jene Dimension der menschlichen Existenz, die mit der Wandelbarkeit gegeben ist. Die menschlichen Gruppen bewegen sich durch die Zeit, indem sie sich von Generation zu Generation fortsetzen, erhalten und bewahren. Sie unterliegen der Notwendigkeit, kulturelle Errungenschaften weiterzugeben; und ihnen eröffnet sich stets die Möglichkeit, neu zu beginnen. Die Modalitäten dieser Weitergabe sind die ›Basis‹ jeder menschlichen Geschichte und Kultur; sie sind mindestens ebenso wichtig wie der Austausch mit der Natur mittels Technik und Ökonomie. Unvermeidlich wandeln sich die Gruppen und ihre Kulturen; denn es ist unmöglich, daß sie sich über die Generationen identisch reproduzieren. Die geringsten Abweichungen setzen bereits Wandlungen in Gang. Die Geschichtlichkeit enthält in sich vier konstitutive Momente:

      1. Die Kosten. Nichts in der Geschichte ist umsonst. Alles ist unter hohen Kosten errungen worden. Denn bei jeder Veränderung gibt es Gewinner und Verlierer – und außerdem Widerstand. Bestimmte Errungenschaften, die wir als universalisierbare ansehen, waren nur zu erwerben durch Mühe und Opfer. Solche Kosten zu berücksichtigen gehört nicht nur zum politischen Pathos von Neugründungen, sondern auch zur tragischen Seite der geschichtlichen Besinnung. Es gilt, nie zu vergessen, daß die Menschen unentwegt ›bezahlen‹ müssen. Immer müssen sie auf irgend etwas verzichten, oder es gar vorsätzlich verwerfen.

      2. Die Verlierbarkeit. Alles ist verlierbar. Keine einzige kulturelle Errungenschaft ist ein Besitz für immer. Jederzeit droht der Rückfall, nämlich nicht ein Zurückgehen in der zeitlichen Schrittfolge, sondern ein Absturz in jeweils historisch unterschiedliche Abgründe. Abstürze nehmen viele Formen an. Die Menschheit kann der wichtigsten Errungenschaften verlustig gehen: Menschenrechte, Demokratie, Wissenschaft. Das kann, wenn genügend Faktoren zusammenwirken, jederzeit geschehen. Und endgültig können diese Verluste bereits werden nach zwei Generationen.

      3. Die Unerfüllbarkeit. Die Wünsche der Menschen, wie auch immer kulturell ausgerichtet, sind tendenziell unstillbar; die vorhandenen Ressourcen sind jedoch immer endlich und die natürlichen Gegebenheiten oftmals ausgleichslos defizitär. Dieser Widerspruch ist eine Quelle von Entbehrung und Benachteiligung, von Unzufriedenheit und Unglück. Er ist ohne radikale Erlösung des Irdischen nicht zu beheben.

      4. Die Sinnqualität menschlichen Handelns und Duldens. Sinn ist verliehene Bedeutung. Indem Menschen unterscheiden, was für sie bedeutsam ist und was nicht, nehmen sie Ausschnitte aus der Welt wahr, interpretieren das Wahrgenommene, orientieren sich im gedeuteten Weltausschnitt und erhalten Motivationen, die ihren Willen bestimmen in Form von Absichten und Zwecken.19 Ohne die unaufhörlichen Vorgänge der Sinngebung und der Umsemantisierung von Gedeutetem wäre menschliches Leben – als soziales – nicht möglich. Und Sinnhaftes ist grundsätzlich verstehbar, von Fremden und von Nachfahren.

      Diese vier Eigenschaften sind unabdingbare Momente des menschlichen Daseins in der Zeit, also der kollektiven Existenz. Es sind im strengen Sinne historische Existentiale. Ich benutze den Begriff ›Existential‹ also anders als Ernst Nolte, der darunter empirische Phänomene der Geschichte faßte, wie etwa Staat, Adel, Revolution. Sie sind insofern ›transzendental‹, als sie notwendigerweise die Empirie begleiten und konstituieren. Die politische Urteilskraft hat sie zu beachten – unablässig und bei jedem Detail. Daraus ergibt sich eine Maxime: Denke historische Errungenschaften unter der Prämisse, daß sie erstens verlierbar sind, zweitens unter – oft hohen – Kosten erreicht wurden, drittens niemals allen sozialen Akteuren in gleichem Maße zugute kommen, viertens mit spezifischem Sinn versehen sind.

      Wird diese Maxime nicht befolgt, gelangt die Urteilskraft notwendigerweise zu Irrtümern. Die Geschichtlichkeit ist somit eine Art Apriori der Politischen Vernunft. Dennoch ist sie keine transzendentale Gegebenheit der menschlichen Erkenntnisfunktionen. Vielmehr ist die Geschichtlichkeit ein ontologischer Sachverhalt. Denn obschon wir an die Geschichtlichkeit unserer Umwelt keinen Gedanken verschwenden, funktioniert unsere Urteilskraft reibungslos, wenn wir sie im Alltag gebrauchen und sie nicht in den Dienst der Politischen Vernunft stellen. Im Alltag funktioniert sie sogar desto besser, je energischer sie lebenspraktischen Zwecken dienen darf. Geht es dagegen um Belange der politischen Vernunft, dann ist es ein transzendentales Prinzip kantischen Typs, die obige Maxime zu befolgen.

      Damit die Urteilskraft auf politischem Gebiet überhaupt zu Einsichten und Erkenntnissen führt, die den Ansprüchen der politischen Vernunft genügen, müssen die vier Prämissen auf bewußte Weise in die logischen Operationen eingeschaltet werden. Geschehnisse und Zustände sind so zu überdenken, daß die Reflexion ihre Gegenstände stets verknüpft mit den Kategorien ›Verlierbarkeit‹, ›Kosten‹, ›Unerfüllbarkeit‹ und ›Sinnqualität‹. Das erfordert einen zusätzlichen Aufwand des Bewußtseins, eine geistige Tätigkeit, um eine methodische Regel zu befolgen. Dieses Vermögen des menschlichen Geistes ist nicht gegeben, sondern technisch erworben, ist eine kognitive Fertigkeit zum Gebrauch einer Reflexionsform. Dieses Vermögen kann abstumpfen und völlig abhanden kommen. Es kann sich auch brillant entfalten. Bei Politikern, Publizisten, Historikern und Wissenschaftlern zeigen sich atemraubende Unterschiede in der Qualität der Urteilskraft. Daran trägt die Besonderheit der vierten Prämisse die größte Schuld. Sie ist die komplexeste, und ihr Vollzug erfordert methodische Operationen, die ohne Übung nicht zu erlernen sind: Erstens ist die Besonderheit von Kulturen zu berücksichtigen. Denn die Fähigkeit, einen endlichen Ausschnitt der Welt mit Bedeutung und Sinn zu bedenken, erhalten die Menschen von ihrer jeweiligen Kultur. Zweitens sind die Zeithorizonte zu gewärtigen: Die Sinnqualität menschlichen Handelns und Duldens ist immer bezogen auf eine gedeutete Vergangenheit und eine erwartete Zukunft; sie ist nicht bloß kulturspezifisch, sondern sie benötigt und erzeugt Zeithorizonte. Drittens ist zwar aller Sinn dem Verstehen zugänglich. Doch Verstehen ist immer Fremdverstehen, obschon die Grade der Fremdheit eine enorme Skala umfassen. Demnach erfordert Verstehen – besonders wenn es um fremde oder um vergangene Kulturen geht – ›Übersetzungen‹.

      Auf ähnliche Weise wie wir fremde Sprachen lernen und mit Fremden in deren Sprache Gespräche führen und einander verstehen, ist es möglich, die Vergegenständlichungen fremder Kulturen dem Verstehen zugänglich zu machen – auf methodisch geregelte Weise – auch über die Jahrtausende hinweg. Um fremde Semantiken zu erschließen, ist der eigene Geist zu öffnen für Bedeutsames, das innerhalb unserer Kultur nicht oder anders bedeutsam ist. Das ist weniger eine Sache der Vernunft als vielmehr der Urteilskraft. Unvoreingenommenheit ist dabei maßgeblich, also die »erweiterte Denkungsart« Kants, das ästhetische Vermögen, Fremdes betrachten zu können, ohne es sofort verwerfen oder bejahen zu müssen. Viertens dürfen normative Einstellungen nicht die Reflexion beschränken: Die Sinnhaftigkeit ist ein Apriori menschlichen Handelns und Duldens; und das bedeutet: Selbst die schrecklichsten Taten können für die Handelnden sinnhaft sein. Vor allem an den beiden letzten Aspekten scheitert die Entfaltung von Urteilskraft häufig und nachhaltig.

      Wo die vier Prämissen fehlen, dort bleibt die Urteilskraft beschränkt. In vielen Kulturen kann sie nicht entstehen, weil dort die spezifische Öffentlichkeit fehlt. Wo das Politische nicht als autonome soziale Sphäre besteht, dort können Menschen dieses Vermögen nicht entwickeln. Und Diktaturen beschädigen es oft umfassend. Fehlt es, dann werden die Urteile verkürzt, stumpf und letztlich ›grundlos‹. Das läßt sich ablesen an der epidemischen Ausbreitung des Selbstverständlichen. Indes, nichts ist selbstverständlich. Alles, was existiert, ist geronnenes Resultat, ist entstanden. Das Selbstverständliche ist etwas ›Unmittelbares‹, etwas fraglos Gegebenes, dessen Genese einem nicht in den Sinn kommt. Wird diese Genese vergessen, verdinglicht sich ihr geronnenes Resultat zu etwas ›Unmittelbarem‹. Alle Selbstverständlichkeit ergibt sich aus solcher Verdinglichung. Die politische Vernunft wird sofort paralysiert, wenn das Wissen um die Geschichtlichkeit nicht (mehr) vorhanden ist.

      Einen Paradefall dafür bietet die Modernisierungstheorie von Jürgen Habermas. Er hat vor der Wucht kultureller Divergenz immer die Augen verschlossen. Symptomatisch ist seine Annahme, der Fundamentalismus werde von alleine verschwinden, weil er eine Rebellion gegen die Modernisierung sei:

      »In der Moderne fallen rigide Lebensformen