eine zu haben, die Angst vor Fremden hatte, die ein Telefon nicht einfach klingeln lassen konnte, der Sonnenuntergänge die Sprache verschlugen, die mürrisch war, wenn sie nicht ausgeschlafen hatte, die in Kaufhäusern Beklemmungen bekam und auf Berührung unbeholfen reagierte – kurz, eine, die einfach ganz normal neurotisch war. Sie seufzte wieder. Es war wirklich ein unwürdiger Gedanke.
Stoner knipste die Nachttischlampe an und studierte das verwackelte Foto. Da war etwas in den Augen der Frau … Irgendwie auf der Hut, sich bewusst, dass ein Bild von ihr gemacht wurde, und das Wissen als nicht angenehm, eher unbehaglich empfindend. Das, dachte Stoner, war ein Gefühl, das sie verstehen konnte.
Sie fühlte ein merkwürdiges Prickeln in den Fingerspitzen und wischte sich die Hände an ihrem Pyjama ab. Was um alles in der Welt sollte sie mit der Situation anfangen? Es war lächerlich, solche Sachen gehörten in eine Seifenoper oder einen Spätfilm. Normale Menschen liefen nicht durch die Gegend, heirateten des Geldes wegen und ermordeten ihre Ehefrauen. Nicht im wirklichen Leben. Na ja, jedenfalls nicht im wirklichen Leben, wie sie es kannte. Und bei alledem schien es hier noch nicht einmal um besonders viel Geld zu gehen. Ja, wenn die Rede von Millionen wäre … wobei sie sich eigentlich gar nicht wirklich vorstellen konnte, dass es Leute mit Millionen gab, schließlich war Dallas doch wohl eine Erfindung des Fernsehens … also, wenn es um Millionen ginge, wäre es möglich. Denn wenn du bereit bist, die eine Unmöglichkeit zu glauben, kannst du auch die andere für bare Münze nehmen.
Aber selbst wenn Unmögliches Wirklichkeit wäre, wie konnte sie diesen Job annehmen? Sie war nicht besonders gerissen, sie kannte sich mit dieser Art Angelegenheiten überhaupt nicht aus, und sie besaß nicht einmal einen Trenchcoat. Es war besser, die Sache einem Profi zu überlassen. Einem Privatdetektiv. Das würde sie Mrs. Burton raten. Stoner war besser dran – sie alle waren besser dran –, wenn sie zu Hause blieb und sich an das hielt, was sie am besten konnte. Flugtickets ausstellen.
Sie warf noch einen heimlichen, sehnsüchtigen Blick auf das Foto und stieg ins Bett. Überzeugt, die richtige Entscheidung gefällt zu haben, machte sie das Licht aus. Eines Tages, hoffte sie, würde sie Gwen Oxnard begegnen.
***
»Also«, sagte Tante Hermione beim Frühstück.
»Also?«
»Wirst du es machen?«
Stoner sah auf. »Ich dachte, Mahlzeiten seien heilig.«
Mit einer ungeduldigen Handbewegung setzte Tante Hermione ihre Kaffeetasse ab. »Ehrlich, Stoner, manchmal denkst du wie ein Hund.«
»Hä?«
»Ich sage, du sollst von der Couch wegbleiben, und du traust dich daraufhin auf überhaupt kein Möbel mehr.«
Stoner rieb sich verschlafen die Augen. »Nur, weil du immerzu die Regeln änderst.«
»Schluss jetzt, Stoner.« Tante Hermione schenkte ihr eine zweite Tasse Kaffee ein. »Ich kenne diese Mc Tavish-Unterkieferstellung. Du hast eine Entscheidung gefällt, und ich will jetzt sofort wissen, wie sie lautet.«
»Ich dachte, mein Vater sei so willensschwach?«
»Ich bezog mich auf den alten Angus Mc Tavish«, erklärte Tante Hermione. »Wann reist du ab?«
Stoner rührte in ihrem Kaffee. »Gar nicht. Ich finde, sie sollte einen Privatdetektiv beauftragen.«
»Das hab ich ihr ja bereits vorgeschlagen, aber sie will nicht.«
»Warum nicht?«
»Sie will keine Außenstehenden in ihren Familienangelegenheiten, und sie misstraut Fremden.«
»Ich bin eine Fremde.« Sie nippte an ihrem Kaffee.
»Aber mich kennt sie seit Jahren.«
Stoner legte den Kopf auf die Seite und sah ihre Tante scharf an. »Habe ich denn überhaupt eine Wahl?«
»Natürlich nicht«, sagte Tante Hermione und verteilte bedächtig Butter auf einem Croissant.
***
Stoner ließ die Tür des Reisebüros hinter sich zuknallen und feuerte ihre Umhängetasche auf ihren Schreibtisch. »Also«, verkündete sie grimmig, »ich werde es machen.«
»Prima«, sagte Marylou. Sie griff nach einem bereitliegenden kleinen Papierstapel. »Pass auf, du nimmst zuerst den 13 Uhr 10 Flug ab Logan – ich fürchte, es ist United Airlines. Aber du hast eine Direktmaschine, mit einer Dreiviertelstunde Aufenthalt in O’Hare. Ankunft in Denver um 18 Uhr 03, Ortszeit.«
»Marylou …«
»Du brauchst nicht viel zu packen. Deine Verkleidung stellst du dir am besten dort zusammen.«
»Meine Verkleidung.«
Marylou warf ihr einen gereizten Blick zu. »In diesen Ostküstenklamotten wirst du dort wie ein schlimmer Daumen wirken. Du willst doch wie eine Touristin aussehen, mit der Szenerie verschmelzen – die soll übrigens fabelhaft sein, hab ich gehört. Nimm deinen Rucksack mit, deine Wanderstiefel und was sonst noch so zur Grundausstattung gehört.« Sie schleuderte einen Stapel Jackson-Hole-Prospekte auf den Schreibtisch. »Geh das durch.«
»Moment mal …«
»In Denver steigst du auf Frontier Airlines um, was immer das sein mag, und gelangst so nach Jackson. Ich hab dir dort ein Auto gemietet. Du hast eine Reservierung in Timberline Lodge, wo Gwen und Bryan wohnen.«
»Wie hast du das herausgefunden?«
»Ich hab heut Morgen mit Mrs. Burton gesprochen. Sie übernimmt die Kosten und hat eine kleine zusätzliche Entschädigung für deine Mühe angeboten. Sie hat einen schrecklichen Kater.«
Stoner sackte gegen den Schreibtisch. »Ihr habt euch gegen mich verschworen!«
Marylou hörte auf, in ihren Papieren zu kramen. »Gegen dich verschworen?«
»Du und Tante Hermione«, sagte Stoner wütend. »Ich bin drauf und dran, es doch nicht zu machen!«
»Ich wollte nicht …«
»Ach, vergiss es, Marylou. Du willst nie.« Sie setzte sich hin und wühlte erbost in einer Schreibtischschublade. »Verdammt, wo sind die Amtrak-Tickets für die Jessemys hin?«
Marylou kam zu ihr herüber. »Stoner, es tut mir so leid. Wirklich.«
Stoner verschränkte die Arme und starrte geradeaus. Ihr Mund war ein schmaler Strich. »Es könnte gefährlich sein, das weißt du.«
»Ich war gedankenlos.«
Stoner brummte in sich hinein.
»Du hast das Bild doch behalten, oder?«, fragte Marylou zaghaft.
»Ja, ich hab das Bild behalten.«
»Na ja …« Marylou zuckte die Achseln und malte mit der Fingerspitze verlegen kleine Kreise auf die Tischplatte.
Stoner schmolz. »Schon gut.« Sie blätterte die Flugkarten durch und setzte sich plötzlich kerzengerade auf. »Marylou, es sind keine Rückflugtickets dabei!«
»Ich wusste nicht genau, wann du zurückkommst.«
Stoner lachte. »Einen Moment lang dachte ich, du rechnest nicht damit, dass ich überhaupt wiederkomme.«
Marylou sah sie an. »Du hast Angst.«
»Darauf kannst du Gift nehmen.«
»Was soll dir denn passieren?«
Gereizt fegte sich Stoner die Haare aus dem Gesicht. »Rein theoretisch fahre ich da raus, um einen Mord zu vereiteln. Was also, glaubst du, kann mir passieren?«
»Tante Hermione muss doch wissen, dass alles gut wird.«
»Tante Hermione macht keine Sitzungen für Familienmitglieder oder sehr enge Freunde.«
»Oh«, sagte Marylou. Dann hellte sich ihre Miene wieder