nahm einen Schluck Kaffee. Die bittere Schärfe öffnete ihr schlagartig die Augen. »Gott im Himmel«, sagte sie.
Stell lachte. »Cowboykaffee. Wasser und Kaffeepulver zusammen aufgekocht, dazu ein paar Eierschalen reingeworfen, damit er sich setzt.«
»Schmeckt aber nicht besonders gesetzt«, sagte Stoner. »Ich meine …«
»Du wirst dich daran gewöhnen. Er geht genauso stark an die Nerven, wie er schmeckt. So.« Stell hob den Teig auf die bemehlte Tischplatte und begann die Brotlaibe zu formen.
»Wie viele machst du davon pro Tag?«, fragte Stoner.
Stell strich sich das Haar aus der Stirn, eine weiße Strähne blieb zurück. »Wir haben unsere regulären Gäste zum Frühstück und ungefähr zehn zusätzlich – Laiendarsteller und Forstpersonal. Mittags normalerweise fünfzehn und zusätzlich etwa zwanzig Verpflegungspakete. Zum Abendessen erwarten wir noch mal um die vierzig. Schätze, ich mache so dreißig Brote am Tag.«
Stoner stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist ’ne Menge Arbeit.«
»Nicht mehr, als drei zu machen«, sagte Stell. »Wie auch immer, solltest du zum Abendessen nicht hier sein, wäre es nett, wenn du es Pat wissen lässt. Sie ist die Chefkellnerin. Du kannst es ihr beim Frühstück sagen. Und falls du ein Verpflegungspaket brauchst, kannst du das auch gleich beim Frühstück bestellen. Kurz nach neun ist es dann abholbereit.«
»Soll ich Bescheid sagen, wenn ich kein Frühstück will?«
»Du willst. Diese Berge wirken sich verheerend auf jede Diät aus.«
Stoner stützte ihre Arme auf den Tisch und nippte an ihrem Kaffee. »Mir fiel auf, dass es hier schrecklich ruhig ist«, sagte sie. »Ist das so, weil hier hauptsächlich Familien wohnen?«
»Die Höhe. Wirft dich um, wenn du sie nicht gewöhnt bist. Hast du unsere kleine Bar gesehen?«
Stoner nickte.
»Tony, der Mann hinterm Tresen, wäre ohne weiteres bereit, die Bar die ganze Nacht offen zu halten, aber gewöhnlich ist sie ab zwölf wie ausgestorben.«
Stell schob fertig geformte Teiglaibe in die Reihe wartender Brote. »Jetzt, wo ich darüber nachdenke – ich habe Tony noch nie schlafen sehen.«
»Vielleicht ist er ein Vampir«, bemerkte Stoner.
Stell schmunzelte. »Vielleicht.« Sie wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. »Tja, kann ich dir noch mehr über Timberline erzählen?« Sie machte eine Geste in Richtung Speiseraum. »Du hast Highland Room gesehen. Gleich draußen vor der Tür, die zwischen der Treppe und der Bar ist, gibt es eine offene Feuerstelle, um die herum man sitzen kann. Die örtlichen Forstbeamten laden immer donnerstagabends zu Gesprächen am Feuer ein. Oder unsere Gäste sitzen dort und erzählen sich von ihren Hobbys und ihren Reisen. Gelegentlich haben wir auch eine kleine Sonntagsandacht, wenn sich bei uns ein Geistlicher aufhält. Aber wir reißen uns nicht darum.«
»Warum nicht?«
»Na ja, es macht die Gäste unruhig, weil sie es irgendwie als eine Verpflichtung ansehen. So was ruiniert die Erholung.« Sie zog ein Geschirrtuch hervor und wischte kurz die Spüle trocken. »Von der Feuerstelle aus führen zwei Pfade weg. Einer nach Jenny Lake, der andere nach Taggart. Sie sind markiert. Der nächste Arzt ist in Jackson, aber es gibt im Notfall eine Krankenschwester in Jackson Lake Lodge. Wir haben hauseigene Ställe. Solltest du einen Ausritt oder eine Wanderung machen wollen, ist es eine gute Idee, sich registrieren zu lassen. Sollte dir irgendetwas zustoßen, wird so jemand über kurz oder lang nach dir suchen kommen. Versteht sich von selbst, dass das nicht für die gängigen Routen gilt. Unser Stallmeister heißt Jake. Man kann ihn als etwas schweigsam bezeichnen, aber das braucht dich von nichts abzuhalten. Unsere Kellnerinnen und Zimmermädchen sind College-Studentinnen. Die Bettwäsche wird alle drei Tage gewechselt. Habe ich irgendwas vergessen?«
»Ich bezweifle es«, sagte Stoner. Sie begann, sich müde zu fühlen.
»Du kannst ja jederzeit fragen.« Stell warf ihre Schürze über eine Ecke der Spüle. »Deine Partnerin sagte, wir sollen darauf achten, dass du keinen Blödsinn machst. Hast du irgendwelchen Blödsinn vor?«
Stoner lachte. »Echt Marylou. Sie ist …«
»… ein bisschen verrückt. Wie auch immer, es zahlt sich aus, vorsichtig zu sein. Die Gegend hier draußen ist ziemlich tückisch.«
»Schlimmer als Boston kann es eigentlich nicht sein.«
»Oh doch. Es kann. Wenn dir hier draußen etwas zustößt, bist du mutterseelenallein.« Sie drückte herzlich Stoners Schulter. »Ich zeig dir mal, wie du zu deiner Hütte kommst.«
Stoner trank ihren Kaffee aus und folgte Stell durch den dunklen Speiseraum in die Lobby.
»Hier«, sagte Stell und zeigte auf eine alte, vergilbte Karte. »Du gehst genauso raus, wie du reingekommen bist, bis zum Parkplatz. Von der Straße aus gesehen liegen links die Hütten Rockchuck, Wapiti, Luchs, Elch und Bronco. Rechts Coyote, Mustang, Großer und Kleiner Bär. Kleiner Bär liegt ein paar Meter den Abhang hinauf. Die Nächte sind jetzt schon sehr kalt, deshalb hab ich ein Feuer angemacht. Wirf noch ein paar Holzscheite drauf, bevor du dich schlafen legst, es müsste dann eigentlich bis morgen früh reichen.«
Stoner unterdrückte ein Gähnen, nahm ihren Schlüssel und ihren Koffer. »Danke, Stell. Oh, da fällt mir ein, ich soll mich hier nach jemandem umschauen, wenn ich schon hier bin. Kannst du mir sagen, wo die Oxnards wohnen?«
Ein befremdeter Ausdruck huschte über Stells Gesicht. »Freunde von dir?«
»Freunde einer Freundin. Ich hab sie noch nie gesehen.«
»In der Nez-Percé-Suite, die Treppe hoch.«
Stoner zögerte. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Nein, nein«, sagte Stell und zuckte die Achseln. »Die Frau scheint sehr nett zu sein. Ich kann mich nur nicht recht für ihren Mann erwärmen. Mit manchen Menschen geht’s einem eben so. Im ersten Augenblick denkst du, etwas stimmt nicht, aber schließlich sagst du dir, alles nur Einbildung …«
»Und sechs Monate später stellst du fest, dass du recht hattest«, beendete Stoner den Satz. »Was stört dich an Bryan Oxnard?
Stell runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich kann es nicht so genau sagen. Ein bisschen zu sehr von sich selbst überzeugt, für meinen Geschmack. Ich denke, es kann nicht schaden, erst mal zu probieren, bevor man mit dem Salzstreuer über das Essen geht. Weißt du, was ich meine?«
»Allerdings.«
»Vermutlich sollte ich nicht klatschen, aber da wir scheint’s in der gleichen Branche sind, können wir auch die gleiche Sprache sprechen.«
»Ich verrate nichts«, sagte Stoner.
»Da fällt mir was ein. Deine Partnerin sagte, wir sollen dafür sorgen, dass du nicht wie üblich mit fünfzig Kilo Prospekten nach Hause kommst. Sie meinte, ihr könntet die zusätzlichen Frachtkosten nicht verkraften.«
Stoner lachte. »Sie versucht, genügend Geld aus der Portokasse abzuzweigen, damit sie uns einen Cremespeiseautomaten kaufen kann.«
»Was wollt ihr denn in einem Reisebüro mit einem Cremespeiseautomaten?«
»Du müsstest Marylou kennen, um das zu verstehen«, sagte Stoner.
»Na gut, am besten machst du dich jetzt auf den Weg. Der Morgen kommt sehr früh in diesen Breiten.«
»Macht nichts«, sie gähnte jetzt ganz offen, »ich schlafe bestimmt durch.«
»Nicht wenn die Vögel loslegen«, sagte Stell.
Stoner trat hinaus in die kalte Bergluft und sah sich um. Selbst bei ganz hoch stehendem Halbmond glaubte sie jeden Stern des Universums sehen zu können. Über ihr erstreckte sich die Milchstraße, ein diamantenes Band, das sorglos über das All geworfen war. Andere Sterne und Galaxien lagen wie verschüttetes Getreide über dem königsblauen