Sarah Dreher

Stoner McTavish


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hinauf, der an den jetzt dunklen Hütten vorbei zum Kleinen Bären führte. Hochgewachsene Fichten breiteten schweigend ihre Zweige über sie aus. Sterne blitzten durch ihre Nadeln. Die ruhige Luft duftete schwach nach Kiefern und einem seltsamen, scharfen Wohlgeruch von Wildblumen, die unter freiem Himmel heranwachsen durften. Die Stille war fast greifbar, wie ein angehaltener Atemzug, und wurde nur vom Geräusch ihrer Schritte durchbrochen.

      Kleiner Bär stand abseits von den anderen. Ein winziges Häuschen aus Holzbohlen, winzig und komplett wie ein Kinderpuppenhaus. Farbiges Licht schimmerte hinter den Fenstern durch schwere Vorhänge. Eine überdachte Veranda barg ein paar Schaukelstühle. Brennnesselbüsche umwucherten das Fundament. Stoner drückte die Klinke und trat ein. Das Feuer flackerte und knackte in dem gekachelten Ofen, an dem tiefe, gemütlich aussehende Stühle mit geflochtenen Lehnen standen. An einer Wand war eine Tafel zum Bemalen angebracht. Gegenüber lag die Tür zum Badezimmer. Schwere indianische Teppiche wärmten die Dielen. Neben der Eingangstür standen zwei gleiche Betten, die von einem Nachttisch getrennt wurden und von denen man auf Kommode und Schrank blickte. Wo sie auch hinsah, trafen ihre Augen auf den gemütlichen Glanz von poliertem Holz. Es war zu viel. Stoner ließ ihren Koffer fallen, setzte sich auf die Bettkante und weinte.

      ***

      Sie erwachte kurz vor Anbruch der Morgendämmerung, ausgeschlafen und begierig, es mit den Bergen aufzunehmen. Noch während sie in ihre Kleider stieg, trat sie hinaus auf die Veranda. Zu ihrer Linken stießen die Tetons ihre Granitspitzen in einen eisblauen Himmel. Schneefelder füllten die tiefergelegenen Mulden und bestäubten die Kuppen der Gipfel. Fichten- und Espenwälder ergossen sich über die unteren Abhänge, und Wiesen voll wilder Blumen lockten in allen Farben. Zu ihrer Rechten sah sie etwas weiter entfernt die kargen, stumpferen Hügel des Gros Ventre Range. Das Tal dazwischen wirkte graugrün gepudert. Und über allem dieser unbeschreiblich endlose Himmel. Sie glaubte, es müsse ihr das Herz herausreißen.

      Sie genoss die Szenerie, solange sie es ertragen konnte. Seelisch gesättigt eilte sie dann den Pfad hinunter zur Lodge.

      Die Türen des Speiseraums waren noch geschlossen, aber einige Wander- und Rucksackgruppen standen schon in der Lobby, geräuschvoll, umgeben von einem Hauch ungewaschener Selbstwichtigkeit. Irgendwo auf ihrer Kette, dachte sie, fehlte ihr ein wesentliches Chromosom – jenes, das einen kitzelte, wenn man Leib und Leben riskierte, um nicht zu sagen auslieferte an das zweifelhafte Vergnügen, unter irgendwelchen Felsvorsprüngen am Ende eines Seils herumzubaumeln. Zu frieren, zu schwitzen, ausgesaugt von Moskitos, durchweicht vom Regen, von der Sonne gebacken – alles, um sich auf dem Gipfel eine Dose Budweiser reinzuschütten, während man in Zeitlupe auf und ab hüpfte und das Wir-sind-die-Nummer-eins-Zeichen machte. In diesem speziellen Häuflein fungierten die meisten Paare stahlbeschlagener, zehenmordender Stiefel, Pfannkuchen-Socken und Lederhosen, Seile und Spitzhacken als Dekoration für männliche Körper. Was unzweifelhaft einiges erklärte. Oder etwa nicht?

      Die Speiseraumtüren schwangen auf. Rucksäckler stürzten sich auf Tische, drängelten, schoben, stießen mit Ellenbogen und bewiesen mit lauthals verkündeten Obszönitäten ihren guten, jungenhaften Humor.

      Stoner wartete, bis sich alle hingesetzt hatten, und spähte zögernd um den Türpfosten herum. Da, hinter den großen Fensterfronten, die vom Boden bis zur Decke reichten, lagen die Berge. Umrahmt von Espen schauten sie sanft auf eine alpine Wiese hinunter. Sie schloss die Augen und ballte ihre Fäuste. »Ich halt’s nicht aus«, sagte sie halblaut.

      »Sie müssen hier neu sein«, bemerkte eine männliche Stimme hinter ihrem Ellenbogen.

      Stoner wirbelte herum und stand einem großen, grimmig aussehenden Mann in Jägergrün gegenüber. Seine tiefliegenden Augen waren blau wie der Himmel, sein Haar rötlichbraun durchsetzt mit Grau. Er trug eine Brille mit Drahtgestell. Ein schwarzes Plastiknamensschild auf seiner linken Brusttasche nannte ihn ›Flanagan‹.

      »Ich … öh … bin letzte Nacht angekommen.«

      »Als ich die zum ersten Mal sah«, sagte der Mann und machte eine Geste, die irgendwo in den Speiseraum deutete, »schloss ich mich in mein Zimmer ein und nahm erst einmal ein paar gute, steife Drinks.«

      »Die Berge?«, fragte Stoner. »Oder die Wanderer?«

      »Beide.«

      Stoner streckte ihre Hand aus. »Stoner Mc Tavish.«

      »Flanagan.« Er drückte herzlich ihre Hand. »John.«

      Ein Angestellter der Lodge ging vorbei. »Yo, Smokey«, rief er. Das grimmige Forstwaldgesicht hellte sich auf. »Yo, Tim.«

      »Smokey?«, fragte Stoner.

      »Es ist die Mütze«, grummelte er. »Die Smokey-Bärenfell-Mütze.«

      »Oh.« In einem plötzlich auftauchenden Bild sah sie sich auf einer kleinen Anhöhe stehen, Smokey brüllen und zusehen, wie das komplette Forstpersonal des Parks aus allen Ecken und Winkeln zusammengelaufen kam. »Es muss ziemlich verwirrend sein«, sagte sie, »wenn ihr alle Smokey genannt werdet.«

      Flanagan seufzte. »Werden wir nicht. Nur ich.«

      »Warum?«

      »Ich habe spezielle Probleme. Hätten Sie vielleicht Lust, mit mir zu frühstücken?«

      »Sehr gerne.«

      Als sie über die Türschwelle traten, fühlte sie plötzlich ein schwaches Prickeln am unteren Ende ihres Rückgrats. Heute, irgendwann jeden Moment, würde sie die leibhaftige Gwen Owens kennenlernen. Ich bin nicht vorbereitet, dachte sie. Sieh zu, dass du unauffällig davonkommst, bevor es zu spät ist.

      Smokey führte sie an einen Tisch für zwei Personen und bot ihr den Platz mit Blick aus dem Fenster an. Stoner lehnte ab. Wenn sie die Tür beobachten konnte, hatte sie die Chance, Gwen zu sehen, bevor Gwen sie sah. Das würde ihr einen gewissen Vorteil verschaffen …

      Eine Kellnerin brachte ihnen Kaffee und die Karte.

      »Vorsicht mit dem Zeug«, sagte Smokey, auf den Kaffee deutend.

      »Ich weiß. Ich hatte bereits letzte Nacht das Vergnügen.« Sie bemerkte, dass sie Zucker in ihre Tasse schüttete. Sie ließ ihren Teelöffel sinken. »Ich nehme nie Zucker«, erläuterte sie.

      Er sah sie an, zog die Augenbrauen hoch und wandte sich wieder der Karte zu.

      Nerven, die Nerven. Wo liegt hier eigentlich der Knackpunkt?, fragte sie sich streng. Du lernst jeden Tag Menschen kennen. Ja, entgegnete sie sich, aber du lernst nicht jeden Tag sie kennen.

      Sie versuchte sich auf ihren Begleiter zu konzentrieren. »Sie erwähnten spezielle Probleme?«

      Smokey sah sich um. Dann beugte er sich über den Tisch. »Filmleute«, raunte er fast flüsternd.

      »Filmleute?« Stoner schüttelte den Kopf. »Ich habe wohl etwas verpasst.« Ein älteres Ehepaar betrat den Speiseraum. Nein, die nicht.

      »Sie machen hier draußen Filme für … die Gründe sind ganz offensichtlich.« Er nickte diskret zu den Bergen hinüber.

      »Bitte«, sagte Stoner. »Nicht, bevor ich was gegessen habe.«

      Die Kellnerin kam, um ihre Bestellungen aufzunehmen. In der Annahme, dass es das Sicherste sei, sich an das Gewohnte zu halten, bestellte Stoner süße Brötchen.

      »Nehmen Sie ein bisschen mehr«, warf Smokey ein. »Die Höhe macht einen höllisch hungrig.«

      »Das Risiko gehe ich ein.« Angesichts der Tatsache, dass sich ihr Magen wie zugeschnürt anfühlte, würde es eher an ein Wunder grenzen, wenn sie überhaupt irgendetwas hinunterbekäme. Wäre Marylou hier, hätte sie Stoner dazu gebracht, hinauszugehen und aus tiefster Seele zu schreien.

      »Was ist ein ›Kleiner Schlag‹?«, fragte sie, um das Gespräch aufrecht zu erhalten.

      »Pfannkuchen, zwei. Ein ›Großer Schlag‹ sind vier.« Er trank einen Schluck Kaffee.

      Himmel, die Lobby war fast leer. Vielleicht würden sie nicht mehr kommen. »Erzählen