Liselotte Welskopf-Henrich

Nacht über der Prärie


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Orte, die sie anflogen, vor noch nicht langer Zeit Grenzgebiet zwischen Wildnis und Zivilisation gewesen waren und in blutigen Jahren zum Wilden Westen gezählt worden waren.

      Queenie hatte einen Fensterplatz. Tief unter ihr dehnte sich schon heimatliches Land, endlose Prärie unter dem Nachthimmel; nur hin und wieder erschien für das Auge der Zaun einer Ranch, noch seltener eines der einsamen Häuser. Die Sandfurchen an den Präriehügeln, in denen im Frühling und nach Gewittern das Wasser herunterschoss, lagen ausgetrocknet und gaben dieser Prärie, die schon seit Tausenden und Abertausenden von Jahren bestand, etwas Aufgerissenes, Bloßes und Wildes. Nur zweimal erkannte Queenie Gruppen schwarzer Punkte, das war schwarzes Vieh, und es waren Büffel, die wieder gezüchtet wurden, weil sie die Unbilden von Witterung, Sturm, Schnee, Hitze am besten überstanden, das karge, harte Gras, wenn nicht mit Lust, so doch ohne Widerwillen weideten und neben dem Fleisch das wertvolle Fell lieferten.

      Queenie schloss die Augen, und für einen flüchtigen Augenblick wurde sie ganz Tashina. Sie träumte davon, wie Hunderttausende von Büffeln über die Hügel und Täler gezogen waren und Tausende von braunhäutigen Jägern das heilige Tier erlegt hatten, um Nahrung, Kleidung, Zelte zu gewinnen. Dann waren die Watschitschun gekommen, diese Geister in Menschengestalt, die sich Weiße nannten, und sie hatten mehr Wild erlegt, als sie brauchten. Mit ihren Repetiergewehren hatten sie die Büffelherden nicht gejagt, sie hatten gemetzelt. Tashinas Großväter hatten um ihr Land gekämpft, aber sie waren besiegt worden. Die weißen Männer hatten die Prärie, die Wälder, Berge und Flüsse geraubt. Sie hatten New City gebaut und der Erde das Gold aus dem Leibe gerissen. Die großen Häuptlinge waren gefallen, ermordet worden, gestorben, und von manchen kannten ihre Kinder und Kindeskinder nicht einmal das Grab. Die Nachkommen lebten nun auf dürrem Land, das man ihnen als Reservation übriggelassen und immer wieder beschnitten hatte. In allem mussten sie den weißen Männern, dem Superintendenten und seinen Beamten, gehorchen; für jeden Schritt brauchten sie die Erlaubnis und das Geld der weißen Männer; arm waren sie trotz aller Renten und verbrieften Verträge, und sie wurden gehalten wie Unmündige.

      Auf Geheiß der weißen Männer aber besuchte Queenie die Kunstschule für Indianer. Sie wollte nicht undankbar sein, denn sie genoss dort, fern der Reservation, eine gute Ausbildung und ein gutes Leben. Aber sie wollte eine Indianerin bleiben, wie der Sprecher der Schüler bei der Schulabschlussfeier gesagt hatte, und sie wollte einmal denen helfen, die darbten.

      Queenie wurde wieder wach.

      Ein heller rötlicher Schimmer spielte durch ihre Lider, und als sie die Augen öffnete, sah sie unter sich die Prärie in dem Leuchten der hervorkommenden Sonne und in Richtung des Fluges schon die waldigen Berge, an deren Fuß die Gründer von New City sich vor einem Jahrhundert angesiedelt hatten. Autos fuhren, für den Blick von oben so klein wie Spielzeug, Schornsteine rauchten, Scheiben blitzten, Dächer zeigten ihre Konturen mit Licht und Schatten.

      Queenie musste den Sicherheitsgurt anlegen, das Flugzeug setzte zur Landung an. Noch schwirrten die Propeller, das Flugzeug setzte auf und rollte aus.

      Queenie hatte nicht gewusst, dass der Flug trotz einer Tornadowarnung vor sich gegangen war. Sie ahnte nicht, wie der Pilot jetzt aufatmete. Sie bedauerte nur ein wenig, dass der Flug schon zu Ende war. Als letzte der sieben Passagiere stieg sie aus, das Köfferchen in der Hand. Ihr Geld hatte sie in einem Brustbeutel verwahrt. Es war noch immer sehr viel. Die Eltern würden sich freuen.

      Als Queenie frische Luft nicht nur durch den Filter bezog, sondern eingehüllt war von Staub und Wind, von dem Duft vertrockneter Erde und vertrockneten Grases, von einem Hauch wilder Kakteenblüten, wenn auch vermischt mit den Gerüchen der Stadt und der Motoren, da wusste sie auf einmal ebensoviel, wie der Pilot gewusst hatte: Es roch nach kommendem Sturm. Am blauen Himmel standen über den ziehenden Wolken unbewegliche Wolkenstreifen, und auf irgendeine Weise war die Atmosphäre gelb.

      Queenie lief durch die Ein- und Ausgangshalle des bescheidenen Flughafens. Unter den wenigen Wartenden fielen ihr drei Gestalten auf von jenem Typ, den sie nicht gerne sah. Obgleich die Kerle still an der Wand lehnten und niemandem Aufmerksamkeit zu zollen schienen, fühlte sich das Mädchen von ihnen beobachtet. Sie wich nicht aus, schlug auch die Augen nicht nieder, sondern verhielt sich, als ob sie nichts Auffälliges bemerkt habe und nichts beabsichtige, als den Flughafen zu verlassen. Aber sie hätte, befragt, jeden der drei schon genau beschreiben können. Der kleinste, ein Weißer, mochte 1,78 m oder 1,80 m groß sein und etwa zwanzig Jahre alt. Er trug Bluejeans, wie es allgemein üblich war, und ein braunrot kariertes Hemd dazu, was nicht eben für Geschmack zeugte. Seine Stulpenstiefel waren von billigem Leder, aber reich verziert, sein Cowboyhut war fleckig, der Rand verbogen. Seine beiden Kumpane lehnten ebenso unbeweglich wie er an der Wand. Diese beiden waren Indianer. Ihre Kleidung war genau die gleiche wie die des Weißen, nur in den Farben unterschied sie sich. Sie hatten zu den dunkelblauen Hosen rot-blau karierte Hemden an.

      Noch schlanker und um zwei Handbreit länger, wirkten ihre Figuren schlaksig. Die Haltung der drei war die von Menschen, die herumlungern und lauern. Der Weiße steckte sich eine Zigarette an, als Queenie an ihm vorüberging. In seinen Augen blitzte dabei etwas auf, was das Mädchen beunruhigte. Die beiden jungen Indianer verhielten sich scheinbar völlig gleichgültig.

      Queenie war kein ängstliches Mädchen, doch war sie froh, als sie nach Verlassen der Halle schon den alten Ford ihrer Familie unter den wenigen parkenden Wagen stehen sah. Daheim hatte man also die Nachricht, dass sie mit dem Flugzeug und daher einen Tag früher in New City ankommen werde, rechtzeitig erhalten.

      Der Wagen war eine alte Karre mit alten Reifen, mit hoher Karosserie, mit abgenutzten Bezügen. Er hatte einmal fünfzig Dollar gekostet, und nicht einmal das war er wert gewesen, denn er hätte verschrottet werden müssen, wenn der indianische Rancher ihn nicht gekauft hätte. Doch liebte Queenie dieses unansehnliche Gefährt.

      Der Motor hatte noch nie gestreikt, und der Wagen hatte über furchenreiche Wege oder ganze ohne Weg schon halsbrecherische Touren gefahren. Queenie liebte ihn wie früher ein Indianer das struppige Reitpferd, das zäher war als alle glatt gebürsteten Dragonergäule.

      Am Steuer saß Queenies sechzehnjähriger Bruder. Sie hatte ihn sofort erkannt und war sogleich entschlossen, ihm irgendeinen Schabernack zu spielen, denn er war in sich zusammengesunken und schlief offenbar so fest, dass er nicht einmal das Brummen der Flugzeugmotoren gehört oder bemerkt hatte, dass die Fluggäste aus der Halle kamen.

      Queenie öffnete die Wagentür leise, setzte sich neben den schwarzhaarigen Burschen und stellte ihr Köfferchen auf den Rücksitz. Sie machte es sich bequem.

      Henry schlief weiter.

      Queenie erschrak plötzlich tief. In ihrer Freude, den Bruder zu treffen, mit ihm nach Hause zu fahren – und ihm vielleicht einen Possen zu spielen –, hatte sie ihren Wahrnehmungen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt; sie hatte sie nicht in Gedanken umgesetzt. Aber jetzt, am Platz neben dem Steuer, konnte sie es vor sich selbst nicht mehr leugnen: Der Bruder roch nach Alkohol. Er schlief offenbar einen sehr tiefen Rausch aus.

      Noch nie hatte Henry getrunken. Queenies ganze Familie gehörte zu der Partei der Nichttrinker auf der Reservation und lag mit den Trinkern in Feindschaft. Wie war es möglich geworden, dass Henry …! Jetzt, an diesem Tag, an dem er den Wagen steuern musste. Woher hatte er das Geld bekommen? Wer … wer hatte ihn verführt?

      Queenie saß einen Augenblick nicht nur stumm, sondern steif, wie gelähmt, auf dem abgenutzten Polster.

      Den Indianern auf der Reservation war es verboten zu trinken. Wer hatte es gewagt, an Henry auszuschenken?

      Am offenen Fenster der Wagentür erschien ein dunkles Gesicht über einem blau-rot karierten offenen Kragen.

      »Lass mich ans Steuer, Queenie, ich fahre dich.«

      Um die Mundwinkel spielte ein Zug, vor dem Queenie graute. Sie drängte den Körper des Bruders blitzschnell beiseite, ließ den Motor an, gab Gas, fuhr rückwärts und dann voran, was der Motor hergab. In der Morgenfrühe waren die Straßen noch leer.

      Der ungebetene Gast am Wagenfenster hatte beiseite springen müssen, um nicht überfahren zu werden. Das war ihm nicht schwergefallen. Er war ein Bursche, der schnell zu reagieren