Priscilla Brown (undatiert). Bisher unveröffentlicht.
Das Originaldokument befindet sich im Museum of Osteopathic Medicine, Kirksville, Mo., USA.
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
AAO = American Academy of Osteopathy
AOA = American Osteopathic Association
ASO = American School of Osteopathy
ATSP = A. T. Still Papers
ATSU = A. T. Still University
DO = Doctor of Osteopathy (Osteopath)
JAOA = Journal of the American Osteopathic Association
KCOM = Kirksville College of Osteopathic Medicine
MD = Medical Doctor (akademisch ausgebildeter Arzt)
MOM = Museum of Osteopathic Medicine
VORWORT DES HERAUSGEBERS
Wer Osteopathie wirklich verstehen will, muss ihre Wurzeln kennen. Und diese sind untrennbar mit dem amerikanischen Landarzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917) verbunden. Still legte mit ihr nicht nur einen der bedeutendsten Grundsteine für die moderne manuelle Medizin, indem er die Hand des Therapeuten quasi zu einem medizinischen Werkzeug entwickelte. Darüber suchen sein funktionelles anatomisch-physiologisches Denken und vor allem dessen Umsetzung in der Praxis medizinhistorisch in jener Zeit ihresgleichen. In diesem neuen medizinischen Denken betrachtete er Symptome nicht mehr als Wegmarken zur Benennung einer spezifischen Krankheit, um diese ‚Begriffe‘ daraufhin mit unkritisch angewendeten, also ritualisierten Konzepten zu ‚bekämpfen‘, sondern er sah in ihnen lediglich Hinweise auf physiologische Prozesse im Körper. Diese, so war er überzeugt, hingen entscheidend von den gegebenen anatomischen Rahmenbedingungen ab, und so lag sein Fokus nicht auf der Beseitigung von Krankheiten mittels tradierter Methoden oder Techniken, sondern erachtete jeden einzelnen Fall als individuelle und unkategorisierbare Herausforderung. Das einzig sichere Zentrum in seinem Denken und damit auch seinem Handeln war die tiefe Überzeugung, dass die Kräfte der lebendigen Natur stets in Richtung Lebenserhaltung und -förderung wirken, insofern sie optimale anatomische Rahmenbedingungen vorfinden. Optimal verstand Still dabei aber nicht als absolut, sondern je nach Mensch und Lebenszeitpunkt individuell unterschiedlich bestimmt.
Still verließ sich bei der Behandlung also nicht auf als absolute Vorstellungen überlieferte und unkritisch nachgeahmte ‚Wahrheiten‘, sondern fügte seine Osteopathie prozess-, mensch- und gesundheitszentriert in die dynamisch-evolutorischen und sich daher ständig verändernden Zustände im lebendigen Leib des Patienten ein. Als einziger unverrückbarer Ankerpunkt diente ihm dabei der Glaube an das Wohlwollen einer sich durch Liebe und Weisheit ausdrückenden und durch alle Aspekte des Universums wirkenden höheren Intelligenz. Diese Aspekte sah Still in allen Erscheinungen und Zusammenhängen widergespiegelt und folglich stand in Stills Osteopathie der Glaube im Zentrum, dass man den Kräften der Natur bedingungslos vertrauen kann (insofern die Rahmenbedingungen für sie stimmen). Und in diesem Sinn ist sein folgender berühmter Ausspruch zu interpretieren:
„Finde es, bring es in Ordnung, und lass es in Ruh!“
Im Menschen betrachtete Still dessen Verstand (mind) und die Nächstenliebe als die beiden Entsprechungen der ‚göttlichen‘ Intelligenz und Liebe – und somit als höchstes Gut des Menschen. Und ganz im Sinne des Aufklärers Kant war er der Ansicht, dass die Unmündigkeit des Menschen in seinem Unvermögen liegt, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Und so lebt und wirkt er ganz nach dem Kernsatz eines durch und durch aufklärerischen Philosophen: „Habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
In meinen Augen erscheint Stills größte Leistung folglich nicht in seinen medizinischen Errungenschaften, sondern in der Tatsache, dass es ihm erstmalig in der Neuzeit gelingt, die in der antiken Idealmedizin eng verwobenen Disziplinen der Philosophie und der Medizin nach fast zwei Jahrtausenden wieder auf harmonische und fruchtbare Weise zu vereinen und vor allem therapeutisch anwendbar zu machen. Metaphysik und Physik, Körper und Geist, Empirie und Logik, Kognition und Intuition, Objektivität und Subjektivität, all dies stellt in Stills Philosophischer Osteopathie keine Gegensätze mehr dar, sondern sich gegenseitig befruchtende Pole. Still verstand sein Wirkungsfeld als Arzt – das was gemeinhin als Osteopathie bezeichnet wird – folglich weniger als medizinische Methode, sondern vielmehr als Handlungsraum seines primär philosophischen Daseins, der sich lediglich aufgrund seiner Biografie im medizinischen Kontext wiederfinden sollte. Man muss Still primär also nicht als Behandler, sondern als redlichen, dem Gemeinwohl verpflichteten und entsprechend aktiv und pragmatisch handelnden Philosophen betrachten, der erst sekundär im medizinischen Umfeld wirkt. Weiterhin folgt daraus, dass man auch seine Schriften unter diesem Gesichtspunkt lesen muss, um sie überhaupt in ihrer ganzen Tiefe erfassen und interpretieren zu können. Ein rein therapeutischer oder medizinischer Blick reicht hierzu ebenso wenig aus wie der Blick eines erfahrenen Osteopathen, der Philosophie als ein Hobby ‚nebenbei‘ betreibt. Hier ist das Fachwissen philosophischer Experten gefragt.
Die Lektüre vor allem seiner vier Bücher Autobiografie (1897), Die Philosophie der Osteopathie (1899), Die Philosophie und mechanischen Prinzipien der Osteopathie (1902) sowie Forschung und Praxis (1910), die alle zusammen in Das große Still-Kompendium (2005) zusammengefasst wurden, stellt aber nicht nur aus dieser Sicht eine besondere Herausforderung dar. Still, der nie eine reguläre Schule oder Hochschule besuchte, gelangte allein durch autodidaktische Naturstudien sowie durch den Austausch mit ebenfalls auf alle Geheimnisse des Lebens neugierigen Mitmenschen im entlegenen Grenzland der Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts zu seinen bemerkenswerten Erkenntnissen. Und wie die Grenzlandbewohners jener Zeit war auch Still: direkt, pragmatisch und konsequent. Und so entspricht seine Sprache nicht dem, was man normalerweise in medizinischen Sammelwerken erwartet. Ganz im Gegenteil: Hier begegnet uns ein Mann am Lagerfeuer und erzählt uns zwar einfache, aber umso durchdringendere Geschichten. Vergessen wir nicht, zu jener Zeit war die mündliche Überlieferung das Mittel der Wahl bei der Übermittlung von Informationen. Und vergessen wir weiterhin nicht, dass unter den Grenzlandbewohner jener Zeit aufgrund der extremen Lebensbedingungen eine außergewöhnlich tiefe Verbindung herrschte. So erklärt sich dann auch, dass Still sein Wissen vorrangig diesen Zeitgenossen und nicht Vertretern der akademischen Medizin hinterlassen wollte. Dementsprechend ‚unwissenschaftlich’ hat er geschrieben. Wer aber um den historischen und vor allem auch biografischen Kontext weiß, erkennt schnell, dass es hier einem Menschen auf geradezu einmalige Weise gelungen ist, tiefste Weisheiten des Lebens sowie modernste Sichtweisen der Medizin auf den Menschen in für Akademiker geradezu beleidigend einfacher und verständlicher Sprache zu vermitteln. Kein Wunder also, dass Stills Osteopathie in etablierten Medizinerkreisen bis heute eher abschätzig als ‚Handauflegen’, bei der einfachen Bevölkerung aber aufgrund ihrer Mischung aus intelligenter und menschlicher Einfachheit so hoch geschätzt wird.
Und so wie die Texte Stills den Schlüssel zum umfassenden Verständnis seiner Philosophischen Osteopathie und damit auch zum therapeutischen Handlungsraum selbiger, der Osteopathie an sich, repräsentieren, so bildet die gute Kenntnis des Menschen Andrew Taylor Still den Schlüssel zu seinen Texten. Erst eingebettet in seiner Zeit und seinem Umfeld erkennt man ihn nicht nur als bedeutenden Arzt, sondern und vor allem auch als großen philanthropischen Philosophen, der zudem noch über die seltene Gabe verfügte, bei aller Tiefe seiner Erkenntnisse über einen unwiderstehlichen Humor und eine geradezu beneidenswerte Leichtigkeit im Leben zu verfügen. In ihr bekömmlich verpackt präsentiert er seinen Mitmenschen ganz nebenbei ein völlig neues therapeutisches Selbstverständnis: Der Behandler als Mensch unter Menschen und als Erfüllungsgehilfe der Natur. Nicht mehr, aber auch nicht weniger …
In diesem Sinn soll das vorliegende Werk mit seinen größtenteils nicht einmal in ihrer Originalsprache veröffentlichten Dokumenten von Zeitzeugen als medizinhistorischer Baustein gesehen werden, um über die bessere Kenntnis des Menschen Still auch einen besseren Zugang zu seinen Texten und damit letztlich auch zu dem zu bekommen, was Osteopathie ursprünglich