das Heilige, das Göttliche, „ganz andere“ und unbedingte, gelten natürlich keine Regeln, wie wir sie kennen. Eine solche Begegnung verdeutlicht erst, wie unbedeutend absolut alles profane (nicht-heilige) ist und dass das jeden Sinn mit einschließt, denn wir vielleicht zu kennen glauben.
Durkheim bringt Anomie mit Entfremdung und einem Gefühl der eigenen Wertlosigkeit in Verbindung, was natürlich daran liegt, dass er über Selbstmord geforscht hat und feststellte, dass das Erleben von Anomie ein Faktor ist, der Selbstmorde fördert. Selbstmord hat übrigens wahrscheinlich – ganz wird das wohl nie geklärt – auch Rudolf Ottos Leben beendet.
Interessanterweise stellt sich die Situation völlig anders dar, wenn man als Luziferianer (anders als die von Durkheim untersuchten Christen) das Heilige, also auch das tremendum, in sich selbst findet statt außerhalb von sich. In diesem Fall ist man nicht Opfer der Entwertung durch einen „Gott“, sondern entwertet selbst alles. Die Grunderfahrung des luziferianischen tremendum kann vage angedeutet werden als das Entsetzen, sich als einziges echtes Wesen in einer sinnlosen, hohlen Spielzeugwelt wiederzufinden.
Nur zur Sicherheit betone ich noch einmal: das eigentliche tremendum ist mit solchen Begriffen wie Angst oder Anomie nicht zu erfassen. Diese Begriffe beschreiben nur im Ansatz ein unaussprechliches Gefühl, das das Heilige auslöst.
Es lohnt sich (schon allein um mal konkret zu werden), kurz darüber nachzudenken, in welcher Situation ein frommer Christ sich zu befinden glaubt. Er ist der Allmacht seines Gottes vollkommen ausgeliefert, kann aber niemals absehen, was dieser Gott mit ihm anstellen wird – was schon bei der einfachen Frage anfängt, ob er denn im Himmel oder in der Hölle landen wird. „Die Wege des Herrn sind unergründlich“ heißt es beschönigend. Oder ganz unverblümt in Psalm 76,8 und an Gott gerichtet: „Furchtbar bist du! Wer kann vor dir bestehen, wenn du zürnest?“ Kein Wunder, dass regelmäßig die Gnade Gottes in den Psalmen und Gebeten beschworen wird. Diese Gebete sind natürlich absurd und können allenfalls ein beruhigendes Selbstgespräch der Gläubigen darstellen, da Gott ja per Definition durch so etwas ebensowenig in seinem Zorn zu besänftigen ist wie durch irgendetwas sonst. Dem Durchschnittskirchgänger ist die prekäre Situation, in die seine Religion ihn strenggenommen bringt, wohl in den seltensten Fällen klar. Aber der Durchschnittskirchgänger begegnet auch nicht dem Heiligen. Tiefgläubigen Christen – vor allem Protestanten und Rudolf Otto war so einer – ist ihre „schlechthinnige Abhängigkeit“, wie der Theologe Friedrich Schleiermacher es genannt hat, aber durchaus schmerzlich bewusst. Was in den Selbstmord treiben kann, kann auch zu anderen Dingen treiben: eifrigen Gebeten um Gnade zum Beispiel. Da der verängstigte Christ kein Luziferianer ist, muss er immer das Opfer, kann er nie die Quelle dieser namenlosen Angst sein. Und nichts ist entsetzlicher als der Zorn Gottes.
Der geneigte Leser möge sich fragen, ob er Gefühle der Begegnung mit dem tremendum schon erlebt hat, in Bezug auf welchen Gottesbegriff auch immer. Wenn ja, so ist die wichtigste Hürde genommen und es gilt, in der folgenden Erörterung genau dieses Gefühl im Hinterkopf zu behalten. Wenn nein, dann werden die gegen Ende dieses Textes genannten Techniken möglicherweise besonders nützlich sein.
Die andere Seite des „Heiligen“, die positive, nennt Otto das fascinans. Sie ist dafür verantwortlich, dass sich Menschen mit etwas so grauenvollem wie Gott überhaupt beschäftigen. Glückseligkeit, Gnade, Entrückung … hier finden wir alle Gefühle wieder, die der schon erwähnte Durchschnittskirchgänger gern hat, obwohl (oder gerade weil) sie nur blasse Reflektionen desjenigen sind, was tiefreligiöse Mystiker erleben. Immerhin werden, weil die Masse der Christen sich Gott als „gütig“ vorstellt, Begegnungen mit dem fascinans nicht so tabuisiert und verschwiegen wie Begegnungen mit dem tremendum. Außerdem sind sie so überwältigend positiv – sind vielleicht Positivität an sich – dass man sich Freunde macht, wenn man darüber redet. Nur stellt man eben wiederum fest, dass das so einfach nicht ist.
Eine berühmte Legende über Thomas von Aquin (schon wieder ein Theologe) erzählt, er hätte nachdem er so etwas erlebt hatte, alle seine Bücher verbrennen wollen, weil ihm klar geworden war, wie unzureichend sämtliches Reden über Gott ist. Hätte er es nur getan … jedenfalls ist er bei weitem nicht der einzige, der sich über die verzweifelte Unmöglichkeit beklagt hat, sein so überwältigend beglückendes Erlebnis mitzuteilen. Die Andeutungen, die dennoch versucht werden, drehen sich normalerweise um Begriffe wie Frieden, Seligkeit und die Erkenntnis, dass alles eins ist. Die Unaussprechlichkeit des mystischen Erlebnisses ist inzwischen fast sprichwörtlich und ein Lieblingsthema von Leuten, die sich immer noch an das Christentum klammern. Die Unaussprechlichkeit der Anomie lässt sich nur aus den schweigsamen, unauffälligen Selbstmordstatistiken ablesen. (Die aber zeigen immerhin, dass Protestanten, die das tremendum im Schnitt besser zu kennen scheinen als Katholiken, auch deutlich mehr Selbstmorde begehen als diese.)
Wieder stellt sich dieses Erlebnis in seiner luziferianischen Form grundsätzlich anders dar. Das Gefühl bleibt das selbe – wer Chaosmagier ist und den Paradigmenwechsel hinbekommt, vergleiche ruhig – nur wird die überwältigende Positivität nicht nach außen auf alles wahrgenommene projiziert, sondern vor allem auf die eigene Gedanken. Ähnlich wie Mystiker ein schlafwandlerisches Gottvertrauen entwickeln, kann das luziferianische fascinans ein unbeschreibliches Selbtvertrauen geben.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: natürlich sind auch das nur Symptome, Fußabdrücke desjenigen mysterium fascinans das Rudolf Otto meint. In seinen Worten:
Was die ‚Heilslehre‘ an positiv angebbaren Heilsgütern aufweise, umgreift und durchquickt sie alle, aber erschöpft sich nicht in ihnen. Und indem sie sie durchdringt und durchglüht, macht sie aus ihnen selber mehr als was der Verstand von ihnen begreift und sagt. Sie gibt den Frieden, der über aller Vernunft ist. Die Zunge lallt nur davon. Und nur in Bildern und Analogien gibt sie von Ferne von sich einen unzulänglichen und verworrenen Begriff.
Mir ist niemand bekannt, der das fascinans von etwas Heiligem erlebt hat und den Glauben an dieses Heilige je wieder vollständig verloren hätte.
Wiederum lautet die Frage an alle Leser, ob ihnen so etwas schon passiert ist. (Und ich meine wirklich passiert, denn vorstellen kann man sich so etwas nicht – ich hab vorher auch gedacht ich könnte, und Thomas von Aquin sicher auch.) Ist es passiert? Ohne Heroin? Wenn nicht, so kann ich nur wiederum auf die Übungen am Schluss dieses Kapitels verweisen. Wenn ja, dann sollte es wiederum leichter fallen, den Rest meiner Ausführungen nachzuvollziehen. Wer sowohl tremendum als auch fascinans kennt, ist an dieser Stelle eingeladen, sich beide Gefühle als gleichzeitig von der eigenen Göttlichkeit ausstrahlend vorzustellen und in dem heiligen Schauer zu baden, der die Kraft des luziferianischen Fanatismus verleiht.
Die große, wichtige, doppelt rot zu unterstreichende Erkenntnis bei Rudolf Otto ist, dass fascinans und tremendum untrennbar zusammengehören. Sie verstärken sich gegenseitig, bedingen sich gegenseitig. Deswegen üben – sofern man glaubt – die schauerlichsten Dämonen auch ihre eigentümliche Faszination aus, deswegen flößt auch der gütigste Gott immer Ehrfurcht ein. Nur wer sich von Angst erfüllt die Abgründigkeit und Unerforschlichkeit des Heiligen vergegenwärtigt, der findet genügend Raum für eine so überwältigende Glückseligkeit. Wer sich nicht völlig in die liebende Vereinigung mit dem Göttlichen begibt, der erlebt nicht die unermessliche Entfaltung von dessen entsetzlicher Macht.
Na gut, nach diesem langen schwülstigen Gelaber dürfte klar sein, dass wir den Boden der Rationalität verlassen haben. Ich hoffe, dass – wenigstens denen, die sich in derartige Gefühle hineinspüren können – aber auch klar ist, wie so eine Begegnung mit dem „Heiligen“ die unbändige Kraft des Fanatismus hervorbringen kann. Verglichen mit dieser Phantasmagorie von Gefühlen und Visionen sind Widerstände und Probleme einfach bedeutungslos. Und genauso bedeutungslos sind potentiell auch die Meinungen und Gefühle anderer Menschen; vielleicht die Schmerzen desjenigen, den man gerade auf dem Scheiterhaufen verheizt, vielleicht aber auch der Glaube des anderen, man selbst wäre kein Gott. Vor der Perspektive des Absoluten besteht keine Relativität. Kein Mitleid. Keine Vernunft.
Na? Wer hatte denn gerade Angst, das könnte wahnsinnig machen? Wer lässt sich da ertappen beim Zurückschrecken vor etwas, worüber