Neben all der Lernerei und Feierei musste ich mir auch noch Gedanken darüber machen, was nach dem Examen werden sollte. Erst einmal bewarb ich mich natürlich um Übernahme an der Uni-Kinderklinik in Mainz. Große Hoffnungen konnte ich mir allerdings nicht machen, ihr wisst schon, meine Lieblingsschulschwester würde mit Sicherheit ihren Einfluss geltend machen. Wo könnte ich noch hin? Ja, eine Bewerbung ans Vincenzkrankenhaus könnte ich auch noch schreiben.
Wollte ich überhaupt hier in Mainz bleiben? Familie hatte ich schließlich keine hier. Meine Schwester Erika wohnte zwar mit ihrem Mann und den drei Kindern in einem kleinen Ort zwischen Bad Kreuznach und Bingen, also nicht sehr weit weg, aber da sie viel älter war als ich – immerhin knapp zwölf Jahre – und mit ihrer eigenen Familie hoffnungslos überlastet schien – beschränkte sich der Kontakt nur aufs Nötigste.
Nicht, dass wir uns nicht verstanden hätten, es war nur so, dass der Altersunterschied und die Interessen zu verschieden waren. Sie lebte ein anderes Leben als ich, hatte jung geheiratet und drei Kinder bekommen. Und ich, ein Kind der 70er, hatte eine ganz andere Lebenseinstellung und ein anderes Leben, andere Prioritäten als sie.
Dann waren da noch mein Bruder Paul und seine Frau Dorothea. Wir hatten zwar ein sehr gutes Verhältnis und Dorothea war für mich schon so etwas wie Freundin und große Schwester zugleich, aber auch da gab es einen Altersunterschied von zehn Jahren, berücksichtigte man mein jugendliches Alter von 22, wog dieser doch noch enorm. Außerdem war Paul, bedingt durch seinen Beruf – er begann zu dieser Zeit als Betriebswirt bei einem großen Pharmakonzern Karriere zu machen – auch nicht in der Nähe von Mainz, sondern in der Nähe von Lörrach.
Blieb nur noch mein Vater, aber dieser hatte nach dem Tod meiner Mutter drei Jahre zuvor wieder geheiratet und war zu einer neuen Frau in einen Ort in der Eifel gezogen, wo diese eine kleine Fremdenpension hatte.
Somit hielt mich außer meiner Liebe zu Wolfgang nichts in Mainz. Meine Familie lebte nicht hier, verwurzelt war ich auch nicht, obwohl ich meine Heimatstadt wirklich mochte. Und ich war jung, neugierig und hatte eine ordentliche Portion Mut und Fernweh. So begann ich, ins Blaue hinaus Bewerbungen zu schreiben. Nach Köln, Bonn, Berlin, Wien, einige Städte in der Schweiz und was weiß ich wohin noch. Egal, einfach nur weit genug weg. Natürlich hatten meine Freunde und die Familie meine Bemühungen, nach dem Examen in die große, weite Welt zu ziehen, nicht ernst genommen, doch ich brauchte einen Job, und es wurde recht schnell zur Gewissheit, dass ich nach der Ausbildung zur Kinderkrankenschwester an der Uniklinik nicht würde übernommen werden. Also blieb mir nichts anderes übrig, als weiterhin Bewerbungen auch ins nahe Ausland zu schreiben. Wenigstens erst mal für ein Jahr und dann würde man weitersehen.
So zog sich also die Zeit bis zum Examen dahin. Ab und an lernen, Party feiern, das Leben genießen.
Die schriftliche Prüfung bestand ich auch halbwegs gut, befriedigend ist doch o. k., oder? Später fragt doch keiner mehr nach irgendwelchen Noten.
Tja, und dann passierte es; nach einer waren Flut von Absagen kam eines Tages tatsächlich die Einladung zum Vorstellungsgespräch von einem großen Spital in der Nähe von Basel.
Also damit hatte schon gar nicht mehr gerechnet. Mein absoluter Favorit! Ich hatte die Schweiz, dieses wunderschöne Land, vom ersten Tag an, als ich in Basel Schweizer Boden betreten hatte, geliebt. Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick. Und daran waren Paul und Dorothea nicht ganz unschuldig. Sie hatten viele Jahre in Basel gelebt und mich sehr häufig in den Schulferien eingeladen. So bekam ich durch sie die Möglichkeit, dieses kleine Land sehr gut kennenzulernen. Als „Flachländer“ war ich von der Landschaft, den Bergen, von der Mentalität und der witzigen Sprache absolut begeistert und jetzt sollte ich wirklich und wahrhaftig dort zum Vorstellungsgespräch erscheinen! Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Also stieg ich irgendwann vor der mündlichen Prüfung in meinen kleinen Käfer und machte mich auf in ferne Lande. Unterwegs ein Zwischenstopp in Lörrach, um meine schwangere Schwägerin einzuladen, und dann ab in die Schweiz Richtung Basel.
Ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwarten würde. Man hatte mir weder den genauen Standort des Spitals noch irgendwelche Informationen bezüglich der Station, auf der ich eventuell arbeiten sollte, mitgeteilt, sodass wir erst einmal ziemlich orientierungslos in der Gegend herumfuhren. Ein paar Kilometer außerhalb der Stadt hatten wir dann doch unser Ziel erreicht und ich war beim Anblick dieses Krankenhauses schlichtweg überwältigt.
So etwas hatte ich in Deutschland noch nicht gesehen. Es glich eher einem exklusiven Hotel denn einem Krankenhaus. Und hier sollte ich, durfte ich, vielleicht arbeiten? Ich war sprachlos und Dorothea fehlten zuerst auch die Worte.
Wir hatten bis zum Zeitpunkt des Vorstellungsgesprächs noch etwas Zeit und beschlossen daher, uns ein bisschen umzusehen und noch einen Kaffee zu trinken.
Alles hier schien so klar, so sauber, beim Beobachten des Pflegepersonals fielen uns die Ruhe und Gelassenheit auf. Auf der Kinder- und Wochenbettstation, die wir uns anschauten, herrschte im Gegensatz zu deutschen Krankenhäusern keine Hektik, es schien, als hätte das Personal noch nie etwas von Pflegenotstand oder Überarbeitung gehört.
Kein Gerenne, keine Hektik, kein Stress. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich kannte nur keine Zeit, Überstunden und zu wenig Personal.
Würde ich es auch so empfinden, wenn ich hier arbeiten sollte? Wenn ich diesen Job hier bekäme? Mein Gott, ich konnte mir in diesem Moment nichts Schöneres vorstellen, als hier zu arbeiten.
Ich wurde nervös, die Zeit für das Vorstellungsgespräch rückte näher; noch schnell einen Kaffee, eine Zigarette, ein bisschen Mundspray für den Atem und dann ließ ich eine mich beruhigende Dorothea in der Cafeteria zurück und machte mich auf in die Höhle der Oberschwester.
Auf einmal ging alles ganz schnell, das Gespräch verlief super, ich hatte keine feuchten Hände und stottern musste ich auch nicht.
Mein Bauch sagte mir, dass ich alles richtig gemacht hatte, und ich war optimistisch und voller Hoffnung auf eine Zusage.
Wir verblieben, dass ich nach bestandener Prüfung mein Diplom einschicken sollte und danach würde man sich wieder in Verbindung mit mir setzen.
Das war eigentlich schon mehr, als ich erwartet hatte, und glücklich und zufrieden machten Dorothea und ich uns auf den Heimweg nach Lörrach.
Ich wollte noch eine Nacht bei Paul und Dorothea bleiben und so feierten wir schon mal am Abend mit einer – oder auch zwei – Flaschen Sekt mein erstes Vorstellungsgespräch. Ab jetzt hieß es Daumen drücken.
Am nächsten Morgen machte ich mich wieder auf Richtung Heimat. Es gab noch viel zu tun, die mündliche Prüfung rückte näher.
Ich lernte weiterhin nach meinem bewährten Motto „Mut zur Lücke“, wobei die Lücke immer größere Dimensionen annahm. Egal, schriftlich war durch, Examenswache vorbei, durchfallen ging eigentlich nur noch, wenn ich mich besonders dämlich anstellen sollte. Na, und für dämlich hielt ich mich eigentlich nicht.
So weit, so gut.
Am Abend vor dem großen Tag erschien dann auch Cora, um mich mal wieder ins Wiesbadener Nachtleben zu entführen. „Lernen am letzten Abend bringt nix mehr, du musst mal wieder raus“ war ihr Kommentar auf meine Ausflüchte wie „Ich muss noch was für Augenheilkunde lernen, da sind noch ein paar Punkte, die ich noch wiederholen muss“. Ich hatte keine Chance gegen sie und so erlebte ich mal wieder einen sinnlosen Absturz in unserer Stammdisco.
Dass ich am kommenden Morgen nicht wirklich fit war, versteht sich von selbst, aber ich erschien mit Hilfe von literweise Kaffee und einer eiskalten Dusche kurz vor knapp mit Kopfschmerzen und Restalkohol, mit dem ich noch eine Party hätte feiern können, zur mündlichen Prüfung.
Alle waren furchtbar aufgeregt, einige Mädels hatten doch tatsächlich noch ihr Anatomiebuch aufgeschlagen auf ihrem Schoß liegen. Gott, wie dämlich! Ich war ruhig und gelassen und konzentrierte mich mehr auf das Hammermännchen in meinem Kopf als auf die Reihenfolge, in der wir zur Prüfung aufgerufen wurden.
Aber auch das überlebte ich, ich konnte alle Fragen