tun hatte ich für diesen Tag noch genug, Auto auspacken, meinen Kram einräumen und auch noch ein bisschen was zu essen kaufen. Gesagt, getan. Und schon war es Abend. Ach ja, nicht vergessen, Zeit umstellen, damit ich am nächsten Morgen pünktlich zur Arbeit erscheinen konnte. Damals hatte die Schweiz noch nicht die Sommerzeit eingeführt. Langsam wurde ich auch müde, es war ein langer, anstrengender Tag mit vielen neuen Eindrücken. Aber ich war auch nervös, was würde mich morgen erwarten?
Der erste Tag.
Wie sich herausstellte, war ich nicht die einzige Neue, die am 1. Juni diesen Jahres hier zu arbeiten anfangen sollte. Aber ich war die einzige Deutsche! Demzufolge wurde der Einführungsvortrag natürlich nicht auf Hochdeutsch, sondern im Schweizer Dialekt gehalten. Also, ich verstand kein einziges Wort. Diese Sprache, obwohl nur ein Dialekt, schien mir einfach nur lustig, etwas für Leute, die permanent unter einer Halsentzündung litten. Es war schon komisch, in einem fremden Land zu sein, niemanden zu kennen und dann die Sprache nicht zu verstehen. Aber ich war guter Dinge, dass sich das schnell ändern würde.
Wir bekamen das Spital gezeigt, vom Dach bis zum Keller und unsere Dienstausweise ausgehändigt, mit denen wir auch billig an der spitaleigenen Tankstelle tanken durften.
Die Personalumkleiden, die Cafeteria, die OP-Räume, alles in einem exklusiven Zustand, so etwas hatte ich in Deutschland noch nie gesehen. Das ganze Spital wirkte tatsächlich mehr wie ein Hotel denn ein Krankenhaus.
Im Laufe dieses Tages hatte ich mich ein wenig mit einer anderen neuen Krankenschwester angefreundet, sie gab sich Mühe, mit mir Deutsch zu sprechen, und wir beschlossen, nach diesem Einführungstag gemeinsam noch etwas zu unternehmen.
Da sie auch fremd hier war, sie kam aus Bern, wollten wir uns in der Stadt ein wenig umschauen und dann gemütlich essen gehen.
Ich erfuhr, dass sie für den nächsten Tag auf der Chirurgischen Abteilung zum Frühdienst eingeteilt war, während ich auf der Wöchnerinnenstation meinem Einsatz entgegenfieberte.
Wir hatten einen amüsanten Abend, ich schüttelte mich häufig vor Lachen, weil ich mit dieser Sprache meine liebe Not hatte. Woher sollte ich wissen, dass „go poschte“ nichts mit der „Post“ zu tun hatte, sondern einfach nur „einkaufen“ hieß? Aber auch nur hier im Kanton Aargau. Ein paar Kilometer weiter, im Kanton Basel, sagte man „kommisione mache“.
Am nächsten Morgen stand ich pünktlich um 7.00 Uhr auf Station. Wie auch die nächsten Tage bemühte ich mich, mir alles rund um den Tagesablauf zu merken. Das war für mich nicht immer einfach, da ich mit der Sprache Probleme hatte, die Medikamente nicht kannte, kurz, ich kam mir völlig hilflos und dumm vor.
Zu allem Übel machte ich auch gleich am zweiten Tag die Erfahrung, dass man als Deutscher in der Schweiz nur ein „cheibe Düütsche“ war. Ich wollte einer Patientin beim Aufstehen behilflich sein und wurde gleich mit „von ener cheibe Düütsche lan ich mich nöt pflege!“ zurechtgestutzt.
Paff ...das war meine erste verbale Ohrfeige und ich bekam eine ganz kleine Vorahnung von dem, was mich hier in Zukunft als Ausländer erwarten würde. Und was lernte ich daraus? Richtig! Schwyzer Düütsch! So sog ich denn begierig die neue Sprache in mich rein.
Ich lernte, dass ein „Buschi“ ein Baby ist. Dass man dem Buschi einen Schoppen gibt – Schoppen? Also dort, wo ich herkam, war das ein Viertel Wein; nein, hier war das eine Flasche Milch. Ha, ha. Und „de Hafe go hole“ heißt auf Deutsch „den Topf holen“. Ein „Iklemmts“ oder „Chanape“ stellte sich als belegtes Brötchen heraus. Und „znüni“ ist die Frühstückspause. Eine „Stange“ ist ein Glas Bier. Ich weiß nicht mehr, wie oft mir in der Anfangszeit vor Lachen das Make-up verflossen ist, aber ich habe diese Sprache gelernt! Zwar mit Akzent, aber ich konnte perfekt auch ohne Halsweh „Chäsküechli“ und „Chuchichäschtli“ sagen.
Ansonsten waren eigentlich alle Schwestern und Ärzte auf der Station sehr nett. Das Arbeiten machte richtig viel Spaß, es war tatsächlich nicht so hektisch wie in Deutschland, nein, hier gab es genug Personal und man arbeitete langsamer und in Ruhe. So wie Schweizer eben sind.
Nur mit dem „neue Freunde finden“ hatte ich ein Problem. Als echtes „Määnzer Mädche“ war ich sehr aufgeschlossen und kontaktfreudig. Diese Eigenschaften teilten die Schweizer nicht unbedingt mit mir. Alle waren nett, aber auch nicht mehr. Man kam als Ausländer nicht näher an sie heran. Sie ließen keine „Usländer“ in ihre Kreise. Das sollte sich auch während meiner 16 Jahre in diesem Land leider auch nicht ändern.
Ich lernte Mary kennen. Sie war Schottin und arbeitete als Hebamme im Gebärsaal. Wir freundeten uns an und unternahmen ab und zu etwas gemeinsam. Manchmal schloss sich auch ihr Mann Charles an und zu dritt hatten wir viel Spaß, zumal beide nicht richtig Deutsch konnten und meine Englisch/Schottisch-Kenntnisse auch nicht perfekt waren. Aber durch die beiden wurde ich in die Geheimnisse des Whiskys eingeführt, Malt-Whisky und so weiter …. Ihr wisst schon.
Eines Tages stand dann, ohne dass wir Schwestern auf unserer Station darüber informiert worden wären, eine neue Kollegin mit der Pflegedienstleitung zum Frühdienst parat. Es wurde nur kurz mitgeteilt, dass sie ein polnischer Flüchtling mit wenig Deutschkenntnissen sei und wohl auch in ihrem Heimatland als Krankenschwester gearbeitet hatte. Wir sollten uns um sie kümmern und schauen, wie weit sie einsetzbar und arbeitsfähig sei.
Alles klar, nur, in welcher Sprache? Helena, so war ihr Name, konnte tatsächlich so gut wie kein Deutsch und verstand von Wochenbettpflege gemäss Schweizer Niveau etwa so viel wie ein Metzger vom Kuchen backen.
Trotzdem freundeten wir uns an. Mit Händen und Füßen erzählte sie von ihrer Heimat, ihren Freunden, ihrem Mann Lukasz, von ihrer Flucht aus Polen und dass sie jetzt darauf warteten, den Status eines anerkannten Flüchtlings hier in der Schweiz zu bekommen.
Im Laufe der nächsten Wochen lernte Helena schnell, auch durch meine Mithilfe, mit der deutschen Sprache halbwegs klarzukommen und beim Arbeiten ihre Krankenpflegekenntnisse einzubringen.
An einem grauenhaften Samstagnachmittag im August, es war der 16., es regnete in Strömen und ich war müde vom Frühdienst, bat Helena mich, nachdem wir uns umgezogen hatten, mit den Worten „Du hier warten auf mein Mann, du nix vorhaben heute?“ noch mit in die Cafeteria zu kommen. Ich wusste zwar nicht, worum es ging und was das sollte, aber da ich nichts vorhatte und ein einsamer Abend in meinem kleinen Appartement auch nicht unbedingt reizvoll war, stapfte ich ihr tapfer hinter her.
So lernte ich Lukasz kennen, Helenas Mann. Ein Bär von einem Mann! Circa 185 cm groß, fast genauso breit, Vollbart und ein lustiges Lachen. Deutschkenntnisse, na ja, etwas besser als die von Helena, schließlich käme er aus Schlesien, dort spräche man noch ein bisschen Deutsch, erklärte er mir. Die beiden luden mich auf eine Party bei einem Freund ein, damit ich nicht einsam sein müsse. Wir müssten jetzt nur noch auf einen anderen Freund warten, der sich auf Parkplatzsuche befand.
Das hieß, noch schnell eine Zigarette rauchen und einen Kaffee trinken, um die Lebensgeister zu wecken. Und dann Party!
Zwar hatte ich keine Ahnung, wie, wo und in welcher Sprache – logischerweise hatte ich in Polnisch noch weniger Kenntnisse als eine Kuh in Englisch – aber egal, es würde schon irgendwie gehen, Hauptsache nicht allein im Zimmer hocken.
Auf einmal gab es einen Schlag, Blitz, Donner, Erdbeben!
Mir wurde Bartek vorgestellt!
Schicksal!
Bartek war der ehemalige Verlobte von Helena und mittlerweile gut mit ihr und ihrem Mann befreundet.
Nun sollten wir uns gemeinsam aufmachen und mit dem Auto zu einem anderen Freund fahren, der die Party organisiert hatte. So weit, so gut. Ich lernte noch Jazek und Margareta kennen, Jazek war Helenas Cousin und, wie alle anderen auch, in der Warteschleife, um politisches Asyl in der Schweiz zu bekommen.
Es wurde ein feucht-fröhlicher Abend, obwohl ich kein Wort verstand. Lukasz versuchte, mir auf Polnisch das Fluchen beizubringen und nach einigen Wodkas klappte das dann auch ganz gut. Und doch war Bartek der Einzige, der sich Mühe gab, eine Unterhaltung auf Deutsch mit mir zu führen. Ich war sehr dankbar