Horst Bosetzky

Das Attentat auf die Berliner U-Bahn


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det Hemd zerreißen / ​und mitten in die Stube … scheint der Mond.«

      Fleischfresser begann, sein Frühstück auszupacken. Da er sich seine Brote immer selber schmierte und belegte, hielt sich seine Überraschung in Grenzen, als er seine Stullenbüchse öffnete. Landleberwurst. Was sonst? Er schnupperte daran. Gerade wollte er hineinbeißen, als plötzlich an die Tür geklopft wurde. Unwirsch rief er »Herein!«, nahm dann aber Haltung ein, denn es erschien nicht nur eine Dame, sondern auch der Herr Stellvertretende Polizeipräsident. »Bitte sehr, zu Diensten …«

      »Wir haben hier eine Frau Cammer, und die möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Ihr Mann ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.«

      Fleischfresser hatte keine Scheu zu räsonieren. »Pardon, Herr von … aber wir hier sind für Mord und Totschlag zuständig und nicht für verschwundene Personen.«

      Daraufhin brach Liesbeth Cammer in Tränen aus, und der Stellvertretende Polizeipräsident flüsterte Fleischfresser ins Ohr, dass er ein Trampel sei.

      »Sie ziehen sofort los und suchen Cammer. Sonst …« Zum einen wollte er Siemens nicht verärgern, zum anderen hatte er zusammen mit Germanus Cammer viele Jahre in der »Äolsharfe« musiziert.

       1879

      Werner Siemens stand an einem bitterkalten Tag im Januar auf dem Stettiner Bahnhof und wartete auf den Generalpostmeister Heinrich Stephan, der von einer Reise nach Neustrelitz zurückkommen sollte. Man hatte sich verabredet, um noch einmal über ein Projekt zu reden, das beiden sehr am Herzen lag: die Gründung des Elektrotechnischen Vereins. Das Wort Elektrotechnik stammte von Siemens. Vieles ging ihm durch den Kopf.

      Am 18. Januar 1871 war der preußische König zum Deutschen Kaiser gekrönt worden, aber nicht in Berlin, der künftigen Hauptstadt des Reiches, sondern im Spiegelsaal des Versailler Schlosses. Erst am 21. März 1871 war Berlin ins Zentrum des Geschehens gerückt, als der neugewählte Deutsche Reichstag im Abgeordnetenhaus am Dönhoffplatz zu seiner ersten Sitzung zusammenkam. Ein eigenes Domizil sollte man erst 23 Jahre später bekommen, aber langsam erfüllte sich das Wort Fontanes Wo die Kraft ist, da entsteht von selbst ein Mittelpunkt. Die Spitzen der preußischen und der Reichsverwaltung sowie die Führungskräfte von Banken, Industrie und Handel konzentrierten sich an der Spree. Unzählige ausländische Diplomaten und die Gesandten aus den achtzehn deutschen Großherzog-, Herzog- und Fürstentümern sowie den drei Hansestädten und dem »Reichsland« Elsass-Lothringen gaben sich ein Stelldichein. Der Hof residierte in Berlin und Potsdam. Staats- und Regierungschefs kamen zu Besuchen nach Berlin, und der Berliner Kongress von 1878, bei dem sich Bismarck als »ehrlicher Makler« um den Frieden auf dem Balkan bemüht hatte, stellte dabei einen ersten Höhepunkt dar, und so war Berlin auf dem besten Wege, zur wichtigsten Bühne Europas zu werden.

      Die Hauptrolle in der Berliner Gesellschaft spielten die Aristokratie und das Militär mit der kaiserlich-königlichen Familie und der Hofgesellschaft. 1871 machte der Adel ein Prozent der Berliner Bevölkerung aus, während 57 Prozent der Arbeiterschaft und 42 Prozent dem Bürgertum zugerechnet wurden. Den größten Aufstieg erfuhr ein Bürgerlicher, wenn man ihn in den Adelsstand erhob, so wie es dem Historiker Leopold Ranke, dem Maler Adolph Menzel und dem Bankier Gerson Bleichröder widerfahren sollte. Irgendwann würde auch er, Werner Siemens, an der Reihe sein … Es war ein langer Weg bis zum »von« – und alles wie ein Traum.

      Werner Siemens war am 13. Dezember 1816 als viertes von vierzehn Kindern in Poggenhagen zu Lenthe bei Hannover auf die Welt gekommen, wo sein Vater Ferdinand, ein Landwirt, das Pachtgut übernommen hatte. Die Familie stammte aus Goslar, und bald verschlug es sie nach Mecklenburg-Strelitz, weil dem Vater die politischen Verhältnisse in Hannover nicht behagten. So verlebte Werner Siemens seine Jugendjahre auf dem Dorfe, in Menzendorf, dessen Domäne seine Eltern betrieben. Zuerst erhielten er und sein Bruder Hans Unterricht vom Vater und der Großmutter, dann folgte ein Hauslehrer, und 1831 kam Werner Siemens schließlich nach Lübeck auf ein Gymnasium, das humanistisch-altsprachliche Katharineum. Die alten Sprachen behagten ihm gar nicht, doch schon früh zeigte sich bei ihm eine ausgeprägte Begabung für naturwissenschaftliche und technische Dinge. Zu Ostern 1834 verließ er die Schule ohne formalen Abschluss und nahm Privatstunden in Mathematik und Feldmesskunde, um die Aufnahmeprüfung an der Berliner Bauakademie zu bestehen. Als sich aber herausstellte, dass der Familie die finanziellen Mittel fehlten, um ihn dort studieren zu lassen, blieb ihm nichts anderes übrig, als zum Militär zu gehen. Denn war man Offiziersanwärter beim Preußischen Ingenieurkorps, dann konnte man sich an der Bauakademie auf Staatskosten ausbilden lassen.

      »Tut uns leid, Herr Siemens«, hieß es aber beim Ingenieurcorps. »Sie haben so viele Vordermänner, dass frühestens in vier bis fünf Jahren an eine Ausbildung zu denken ist. Aber gehen Sie doch zur Artillerie, Artilleristen bekommen dieselbe Ausbildung. Eine Empfehlung können Sie gerne bekommen.«

      Mit der reiste Werner Siemens zur Kommandantur der 3. Artillerie-Brigade. Der Name des Kommandeurs kam ihm bekannt vor: Oberst von Scharnhorst. Das war der Sohn des großen Generals, und dem gefiel der junge Siemens. Er versprach, beim preußischen König die Erlaubnis zu erwirken, den Ausländer in den preußischen Militärdienst aufzunehmen. »Ihr Vater muss Sie aber vom mecklenburgischen Militärdienst freikaufen.«

      Beides gelang, aber um die Eingangsprüfung zu bestehen, bedurfte es guter Kenntnisse in Mathematik, Physik, Geographie und Französisch, und nach einer intensiven dreimonatigen Vorbereitung schaffte Siemens es auch, Offiziersanwärter zu werden und 1835 wunschgemäß zur renommierten Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin entsandt zu werden. Hier lehrten neben vielen anderen die Mathematiker Martin Ohm und Carl Jacobi, der Chemiker Eilhard Mitscherlich sowie die Physiker Heinrich Gustav Magnus und Heinrich Wilhelm Dove, aber auch der Major Meno Burg, der erste jüdische Offizier in der preußischen Armee. Über Magnus kam Siemens später zur Physikalischen Gesellschaft, der auch Hermann von Helmholtz angehörte.

      Nach Abschluss des dreijährigen Studiums wurde Siemens zum Leutnant ernannt und war bis 1840 in Magdeburg und dann bis 1842 in Wittenberg stationiert. Nach dem Tod seiner Eltern musste er ab 1840 auch die Sorge für seine jüngeren Geschwister übernehmen.

      »Wie komme ich nur zu Geld?« Diese Frage bestimmte die nächsten Jahre und brachte ihn dazu, kreativ zu werden. Viel Zeit dazu hatte er im Jahre 1840, als man ihn zu fünf Monaten Festungshaft verurteilte, weil er einem Kameraden bei einem Ehrenhandel sekundiert hatte. Seine Zelle funktionierte er zu einem kleinen Laboratorium um und versilberte und vergoldete Blechlöffel auf galvanischem Wege. Von den schönen und so billigen Löffeln wurde bald in ganz Magdeburg gesprochen, und ein Juwelier zögerte nicht, ihm seine Methode für vierzig Louisdor abzukaufen. Als Siemens nach einem Monat begnadigt werden sollte, richtete er eine Eingabe an den Kommandanten, ihn noch in Haft zu lassen. Vergeblich.

      Als man höheren Orts von dieser Episode Kenntnis bekam und realisierte, dass Siemens von Technik und Chemie gleichermaßen Ahnung hatte, reagierte man sofort und versetzte ihn zur Luftfeuerwerkerei nach Spandau, denn der Geburtstag der Zarin stand ins Haus, und zu dieser Gelegenheit sollte im Park des Prinzen Karl in Glienicke ein Feuerwerk abgebrannt werden, wie es die Welt noch nie gesehen hatte. Das Vorhaben gelang, und Prinz Karl fand es grandios.

      Von 1838 bis 1849 war Werner Siemens preußischer Artillerie-Offizier, wobei er jede freie Minute nutzte, um sich fortzubilden und selbständig zu experimentieren, aber auch um eine eigene Firma zu gründen. Neben Studium und Dienst war er unermüdlich damit beschäftigt, etwas zu erfinden oder etwas bereits Erfundenes der praktischen Verwertung zuzuführen, nur um Geld zu verdienen.

      Im Jahre 1845 wurde er in Berlin Zeuge einer Vorführung eines Zeigertelegraphen, den der britische Physiker Charles Wheatstone konstruiert hatte. Doch siehe da, das Ding wollte einfach nicht störungsfrei funktionieren. Das nun war für Siemens die berühmte Herausforderung, und in den nächsten beiden Jahren gelang es ihm, das Gerät durch einen automatisch gesteuerten Synchronlauf zwischen Sender und Empfänger wesentlich zu verbessern. Beim Geber wie beim Empfänger kreiste gleichlaufend ein Zeiger, und hielt man ihn bei A durch einen Fingerdruck auf eine Buchstabentaste an, so stoppte er auch bei B beim selben Buchstaben.

      Der