Eberhard Saage

Die Welt der Illusionisten


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Strecke sind 13,9 Kilometer.«

      »Notfalls können wir zurück ja ein Taxi nehmen.«

      Das Wetter hielt, was die Meteorologen versprochen hatten, strahlender Sonnenschein, kaum eine Wolke am tiefblauen Himmel und eine gute Sicht, die einen Blick über den Rhein bis zum Ahrgebirge ermöglichte. Doch an diesem Tag hatten beide kein Auge dafür.

      »Verdammt heiß für eine so lange Wanderung«, stöhnte Joseph schon vor Ramersdorf, »die ersten warmen Tage sind sowieso immer belastend.«

      »Vielleicht kann uns das wenigstens ablenken.«

      »Ablenken? Heute? Ich denke immerzu daran.«

      »Hier ist nicht viel runtergekommen«, meinte Magda zuversichtlich, »die Bayern hat es viel schlimmer erwischt. Dort hatte es ja stark geregnet, also den Staub aus der Atmosphäre gewaschen.«

      »Aber auch bei uns tickt der Geigerzähler. Würdest du etwa Salat von hier essen?«

      »Nein, das nicht. Die neuen Grenzwerte für Gemüse, die sie heute herausgegeben haben, sind doch insbesondere aus ökonomischen Gründen festgelegt worden.«

      »Du sagst es.«

      Joseph holte einen Zettel aus seiner Jackentasche, auf dem die Empfehlungen der Behörden standen. »Milch und andere Lebensmittel bevorraten, Kinder nicht rauslassen, nach einem Regen gründlich duschen …«

      »Es reicht«, unterbrach ihn Magda. Sie blickte sich suchend um. Der Rheinpark war auch an diesem Samstag gut besucht, aber hinter ihm lagerte kaum jemand in der Rheinaue. Sie deutete auf eine Baumgruppe: »Komm, wir suchen uns dort ein Plätzchen, scheiß auf die geplante Wanderung.«

      Minutenlang lagen sie schweigend in der Sonne.

      »Es tickt«, sagte Joseph plötzlich.

      »Ein komisches Gefühl ist das«, bestätigte Magda, »man will die ersten warmen Tage genießen, denkt aber nur an Tschernobyl. Wer weiß, was wir gerade einatmen oder auf uns runterfällt.«

      »Ich hatte die gleichen Gedanken. Vor drei Tagen hat dieser dümmliche Innenminister noch herausposaunt, dass für uns eine Gefährdung absolut auszuschließen wäre. Und genau an diesem Tag drehte sich der Wind und blies alles zu uns. Die Schweden hatten ja schon die Radioaktivität gemessen, als die Sowjets noch alles verheimlichten, auch die Evakuierung von Prypjat.«

      Er holte einen anderen Zettel heraus und las Magda die wichtigsten Ereignisse nach dem Supergau vor.

      »Wozu hast du den mit?«

      »Um es zu verinnerlichen.«

      »Wofür?«

      »Für die Interviews und Diskussionen im Fernsehen, die es geben wird«, sagte er leichthin.

      Aber Magda kannte ihn zu gut: »Worauf zielst du ab?«

      »Auf nichts Besonderes. Es ist doch klar, dass jetzt auch unsere Meinung gefragt ist.«

      »Ja, das ist klar, aber du denkst noch an etwas anderes bzw. an einen anderen.«

      »So?«

      »Ja. Und ich ahne schon an wen, an Haberecht.«

      »Mag sein. Da spitzt sich einiges zu. Einmal muss ja eine Entscheidung fallen. Und ich glaube, dass Haberecht sie jetzt sucht. Eine bessere Chance kann er nicht bekommen.«

      Sie wandte sich erregt ab: »Das kotzt mich an.«

      »Was?«

      »Der Supergau fordert jetzt schon viele Opfer. Künftig werden Zehntausende oder wer weiß wie viele deshalb vorzeitig sterben. Und Politiker wollen daraus Kapital schlagen.«

      »Ich muss das nüchtern und sachlich sehen. Was immer ich mache, an den Tatsachen kann das überhaupt nichts ändern. Aber Haberecht und ich können nicht ewig als gleichberechtigte Parteivorsitzende zusammenarbeiten. Unsere Vorstellungen über die Entwicklung der Partei sind zu unterschiedlich. Einer muss sich durchsetzen. Ich werde erst einmal abwarten, was er jetzt macht. Im Moment triumphiert er und stolziert wie ein Gockel durch den Bundestag. Er und seine Gruppe hätten ja schon seit Jahren vor einer solchen Katastrophe gewarnt.«

      »Die spielt ihm ja tatsächlich in seine Karten«, meinte Magda nach kurzem Schweigen, »wenn jetzt eine Entscheidung fallen würde, dann für ihn. Würdest du dich jetzt gegen ihn wenden, würde er dich unangespitzt in den Boden rammen.«

      »So weit bin ich auch schon.«

      »Aber?«

      »Ich muss jetzt langfristig denken, sehr langfristig.«

      »Was meinst du?«

      »An die weitere Entwicklung. Gestern wurde gemeldet, dass in bestimmten Regionen die Feldfrüchte untergepflügt werden müssten. Nicht etwa nur in der Sowjetunion, nein, auch bei uns in Deutschland. Im Moment sind die Menschen in Schockstarre, aber das wird sie aufschrecken. Die Diskussionen darüber und über die Atomkraftwerke werden sich lange hinziehen. Aber«, er lächelte zuversichtlich, »aber nicht ewig andauern. Heute schwingt das Pendel zu Haberecht, aber eines Tages muss es seine Richtung ändern.«

      »Und wieder zu dir schwingen?«

      »Ich denke schon.« Josephs Stimme wirkte wieder zuversichtlich. »Eine Zeitlang muss ich aber kleine Brötchen backen. Doch die werde ich nicht ungenutzt verstreichen lassen.«

      So realistisch Joseph Adam die neue Situation bewertete, so falsch schätzte er deren Dauer ein. Was er eine Zeitlang genannt hatte, sollte Jahre erfordern. Erst ein neues, historisch zu nennendes Ereignis sollte sie wieder verändern.

      Aber so weit war es jetzt noch nicht. »Die Anderen« bestätigten zwar ihre beiden Vorsitzenden, aber praktisch führte sie Haberecht alleine. Und er trieb die so genannten Altparteien vor sich her. Wenn deren Spitzenpolitiker nun auch über die Verringerung des Anteils an Atomstrom diskutierten oder sogar zögerlich das Wort Ausstieg in den Mund nahmen, wurde das als sein Erfolg gewertet.

      Nach den nächsten Wahlen mussten für »Die Anderen« neue Bänke ins Plenum gestellt werden. Hinter den beiden Fraktionsvorsitzenden saß Joseph weiter neben Haberecht in der zweiten Reihe, aber sein Platz blieb oft leer. Manchmal sonderte er sich mit anderen Fraktionsmitgliedern in die hinteren Bänke ab, um irgendein Thema zu diskutieren, und dort redete er sogar mit Regierungsmitgliedern.

      Erst als es keine Abkehr von den Atomkraftwerken gab und sogar Neubauten genehmigt wurden, wurde die Gruppe um Joseph wieder größer. Weil vorher der scheinbare Erfolg Haberecht zugeschrieben wurde, passierte das jetzt auch mit den Misserfolgen.

      »Das Pendel ist umgekehrt«, sagte Joseph zu Magda.

      »Dann bist du bald wieder obenauf.«

      »Nein, nicht automatisch. Ich denke oft darüber nach, was ich machen muss, um wieder die Oberhand zu gewinnen. Und ich glaube, dass ich dafür ein völlig neues Thema brauche. Ein Thema, das für unsere Partei noch überhaupt keine Rolle spielt, das ich als erster in unsere Agenda bringe, am besten gegen Haberechts erbitterten Widerstand.«

      »Welches?«

      »Ja, das ist eben die Frage.«

      Auch mit Tante Sarah, die nach wie vor seine wichtigste Beraterin war, diskutierte er darüber. Sie fand die Antwort nicht sofort, lud ihn dann aber überraschend nach Westberlin ein.

      »Komm am Wochenende zu mir. Welche Termine du auch hast, lass sie platzen.«

      »Aber ich …«

      »Kein Aber, komm her und frage am Telefon nicht warum. Nur so viel, wir werden noch einen anderen Gast haben, einen ganz besonderen.«

      Bundestagsabgeordnete nutzten die Transitstrecke über die Autobahn eher nicht. Aber Joseph wollte sich darauf einlassen, um wenigstens seine Vormittagstermine nicht absagen zu müssen. Die lange Wartezeit und die gründliche Prüfung seiner Papiere und des Kofferraums am Grenzübergang hielt er für normal. Hinter Eisenach blickte er alle paar Sekunden auf den Tacho, um die erlaubte Geschwindigkeit