Ein ehemaliger DDR-Bürger hatte ihm erzählt, dass manche Rennsteigläufer diesen steilen Hang rückwärts runterliefen, weil ihre überlastete Beinmuskulatur unerträglich schmerzte.
Danach konzentrierte sich Joseph wieder auf den Tacho, und in der Baustelle am Hermsdorfer Kreuz wurde ihm das zum Verhängnis. Er verpasste die Abfahrt nach Westberlin. Das ging ihm wohl nicht alleine so, denn ein Mercedes mit Westberliner Kennzeichen folgte ihm. Und das war scheinbar kein Problem, denn die Abfahrt nach Rüdersdorf war auch als Wendestelle für Transitreisende nach Westberlin gekennzeichnet.
Der andere Fahrer folgte ihm weiter und hielt sich ebenfalls streng an die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Erst einige Kilometer vor der Berliner Kontrollstelle überholte er ihn, und dort wurde Joseph sofort auf einen Sonderparkplatz geleitet. Ein Offizier nahm ihm seine Papiere ab und wies ihn an, im Auto sitzen zu bleiben. Als Wächter stellte er einen bewaffneten Soldaten daneben. Eine Zeitlang beobachtete Joseph interessiert die Grenzkontrolle, die völlig unterschiedlich gehandhabt wurde. Bei manchen Insassen wurden nur die Papiere kontrolliert, andere mussten aussteigen und den Kofferraum öffnen, Dritte wurden auch zu Sonderparkplätzen dirigiert.
»Das System ist die Systemlosigkeit«, hatte ihm der Rennsteigläufer erklärt, »keiner kann vorher abschätzen, was mit ihm passiert.«
Das einmal selbst zu beobachten, war spannend, ermüdete aber auch. Joseph stieg kurz entschlossen aus.
Der Soldat griff zu seiner Waffe. »Steigen Sie sofort wieder ein!«
»Entschuldigung, ich müsste mal dringend zur Toilette.«
»Steigen Sie sofort wieder ein!«
»Verstehen Sie mich nicht? Ich habe ein dringendes …«
»Maul halten!«, brüllte der Soldat, »Einsteigen!«
Erst als die mit Tante Sarah vereinbarte Zeit bereits verstrichen war, kam ein höherer Offizier zum Auto, der freundlich lächelte: »Tut mir leid, dass Sie Unannehmlichkeiten hatten, aber Sie wissen weshalb.«
»Ja, ich weiß. Leider habe ich in der Baustelle die Ausfahrt übersehen.«
»Hat sich bereits erledigt. Sie dürfen ausreisen.« Der Offizier zögerte kurz. »Ihre Partei bemüht sich um ein gutes Verhältnis zur DDR. Das erkennen wir an.« Er ging persönlich vor Josephs Auto und entfernte das Hüttchen. »Gute Weiterreise.«
Joseph hob grüßend eine Hand.
Er kam erst bei seiner Tante an, als sie mit ihrem Gast nach dem Abendbrot bereits beim Kaffee und Kognak saß. Joseph hatte längst gelernt, vor Fremden keine Gefühle zu zeigen, aber als er Sarahs Besucher erkannte, blieb er kurz verblüfft stehen und riss seine Augen weit auf. Der Gast lächelte amüsiert, er blickte aber bereits auf seine Uhr.
»Darf ich kurz vorstellen? Joseph Adam, mein Neffe, Herr von Lenthe, den du ja in Bonn schon oft gesehen hast.«
»Sehr erfreut.«
»Angenehm.«
Die Herren reichten sich die Hand, und Tante Sarah tadelte: »Warum kommst du erst jetzt?«
Joseph berichtete kurz sein Missgeschick, und Sarah meinte dazu: »Da hattest du großes Glück. Westberliner haben mir darüber schon ganz andere Sachen erzählt.«
»Na gut«, sie wandte sich wieder an Herrn von Lenthe, »oder schlecht. Ich weiß, dass deine Zeit begrenzt ist.«
»Einige Minuten habe ich noch. Die reichen noch für ein Schlückchen.«
Sie goss ihm einen Kognak ein, und in Josephs Kopf überschlugen sich inzwischen die Gedanken. Herr von Lenthe war der wichtigste deutsche Manager, der seit Jahrzehnten in alle Himmelsrichtungen enge Kontakte besaß, der mit den Politikern in Moskau genauso vertrauliche Gespräche führte wie mit denen in Washington. Bei allen wichtigen Empfängen in Bonn war er wie selbstverständlich anwesend, aber Joseph hatte sich ihm bisher nicht nähern können. Und nun saß der ihm direkt gegenüber und taxierte ihn völlig ungeniert.
»Joseph Adam, der alles anders machen will. Sarahs Neffe! Das hätte ich nicht für möglich gehalten.«
Sarah legte ihm vertraulich eine Hand auf die Schulter: »Nun weißt du es aber.«
»Und nun weiß ich auch von dir, dass er manches anders sieht als viele Politiker seiner Partei, wie zum Beispiel dieser unsägliche Haberecht.«
Er blickte Joseph direkt in die Augen, der tapfer standhielt. »Für eine lange Diskussion ist keine Zeit, auch nicht für detaillierte Erläuterungen, die können Sie von Sarah erhalten. Den Rat, den Sie benötigen, kann ich Ihnen geben.«
Wieder sah er Joseph direkt an und war wohl mit dessen Reaktion zufrieden. »Von Ihnen persönlich habe ich zu innerdeutschen Fragen noch keinen Kommentar gehört, die scheinen Sie nicht zu interessieren. Aber Ihre Parteifreunde setzen bewusst auf die Zweistaatentheorie. Die wollen denen, deren Grenzsoldaten Ihnen gerade so übel mitgespielt haben, zu internationaler Anerkennung verhelfen. Deshalb empfehle ich Ihnen, machen Sie es anders, setzen Sie das Thema Wiedervereinigung ganz oben auf Ihre Agenda.«
Josephs Gesicht verriet schon wieder seine Gefühle. Er wirkte enttäuscht.
Von Lenthe lächelte nachsichtig: »Junger Mann, Sie meinen, es hätte sich nicht gelohnt, dafür nach Berlin zu fahren und all diese Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen? Sprechen Sie mit Sarah und denken Sie darüber nach.«
Er erhob sich. »Es tut mir leid, Sarah, aber ich muss.«
Sarah begleitete ihn hinaus.
Als sie endlich zurückkam, hatte sich Joseph einen Kognak eingegossen. »Entschuldige, aber jetzt brauche ich einen.«
»Du bist enttäuscht?«
»Maßlos. Was soll dieser, dieser, entschuldige, dieser Unsinn?« Er trank einen großen Schluck. »Ich weiß ja, dass der Gott und alle Welt kennt. Der wird doch von Politikern und sogar anderen Topmanagern wie der Herrgott persönlich verehrt. Aber woher kennt der dich?«
»Wir sind uralte Freunde, schon seit dem Krieg. Er hatte damals deutsche Wirtschaftsinteressen im Ausland vertreten, aber seine Frau musste hier in Berlin bleiben, quasi als Geisel. Die Nazis haben ja niemand vertraut. Sie war sehr einsam und wurde meine beste Freundin. Ich habe mich um sie gekümmert, und er war mir deshalb sehr dankbar.«
»Seine Frau? Das ist doch die, na, ich komme nicht drauf.«
»Du meinst seine zweite Frau. Die erste hatte sich scheiden lassen. Nach dem Krieg ist er steil aufgestiegen und hat sie wieder vernachlässigt. Eines Tages reichte es ihr. Die Kontakte zu mir hat er danach einschlafen lassen. Aber vor einigen Jahren, du warst damals noch nicht hier, hat er seine eigene Schuld eingestanden, und seitdem treffen wir uns meist, wenn er in Berlin ist.«
»Aha.«
»Ja, ich verstehe, dich interessiert anderes. Also pass auf, der hat noch nie in seinem Leben Unsinn erzählt oder vorgeschlagen. Aus deiner Sicht ist seine Andeutung nur deshalb unverständlich, weil du den Hintergrund nicht kennst.«
»Dann erkläre ihn mir.«
»Ungern.«
»Na, Tante Sarah, du glaubst ja selbst nicht, dass ich mich so abspeisen lasse.«
»Eben.« Sie überlegte kurz. »Dir sagt der Name Bilderberger doch etwas?«
»Na hör mal, selbstverständlich.«
»Dann weißt du auch, dass deren Geheimtreffen jedes Jahr stattfinden. Und seit vielen Jahren gibt es nur einen Deutschen, der ständig dazu eingeladen wird, und das ist er.«
»In diesem Jahr auch?«
»Ja.«
»Und?«
»Erstmals seit Jahren«, Sarah stockte, »bitte, Joseph, sei nicht beleidigt. Du musst mich verstehen, das ist das allergrößte Staatsgeheimnis der Bundesrepublik seit dem Kriegsende. Noch in Jahrzehnten wird niemand offiziell darüber sprechen. Du musst mir hoch und