Dominique Manotti

Das schwarze Korps


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der Sieger. Ein Stück weiter, nahe der Place de la Concorde, immer noch unvermindert viele Straßensperren, bewaffnete Soldaten, Hakenkreuzfahnen. Aber weniger, deutlich weniger Touristen in Uniform.

      Um kurz vor 18 Uhr erreicht er das Inspektorenzimmer des Sittendezernats. Ein relativ langgezogener, nicht sehr hoher Raum, dessen Fenster auf einen Innenhof gehen und fahles Licht spenden. Die Farbe an den Wänden ist schmutzig und grau, die Schreibtische stehen dicht gedrängt und etwas planlos im Raum, und nur im Slalom gelangt man ganz nach hinten zu den beiden Milchglastüren der Büros vom Chef und seinem Stellvertreter. Hinter diesen Scheiben ist immer Licht, aber wenig Leben, und man weiß nie, ob der Chef da ist oder nicht. Das Inspektorenzimmer betritt er ziemlich selten.

      Auf den nicht eben vollen Schreibtischen keine zwei gleichen Lampen und dahinter altersschwache Stühle. Heute sind nur wenig Leute da. Ein paar vereinzelte Inspektoren arbeiten an einem Bericht, lesen Zeitung, unterhalten sich. Bordelle, Nachtclubs, Glücksspiel, Drogen, Prostitution, alles in Händen der französischen Gestapo unter Aufsicht von Lafont, und das Leben im Sittendezernat spielt sich in einer höchst eigentümlichen Atmosphäre ab, eine Art Konservierungskammer für Tätigkeiten und Gebräuche aus der Zeit, in der das Dezernat tatsächlich eine Funktion hatte.

      Domecq setzt sich an seinen Schreibtisch etwa in der Raummitte und macht sich an einen Bericht über den Vorabend im Bagatelle. Bereits seit Tagen kursierte das Gerücht, dass dort im Lauf des Abends eine Lieferung Kokain eintreffen würde. Folglich war der Nachtclub schon um 21 Uhr gerammelt voll. Die übliche Pariser Schickeria …

      Blickt auf. Nur noch zwei Inspektoren im Raum. Die anderen sind wohl einen trinken gegangen, übungshalber, bevor sie reihum die Nachtclubs und Bordelle abklappern, die sie überwachen sollen. Doch diese zwei scheinen sich hier einnisten zu wollen. Also muss er sich weiter beschäftigen.

      Vertieft sich wieder in seinen Bericht, listet auf: Sacha Guitry, Cocteau, Jean Marais, Serge Lifar, Drieu … Schreibt dann weiter: Um zehn Uhr abends betreten Villaplana und Clavié, zwei von Lafonts Männern, das Bagatelle. Marthe Richard, die sich ebenfalls in der kleinen Schar tummelt, erkennt in Villaplana den ehemaligen Torwart der französischen Fußballnationalmannschaft und küsst ihn. Die Gäste jubeln ihm zu, es kommt zu einem wahren Tumult, um neben dem Kokain auch ein Autogramm von Villaplana zu ergattern, der seinen Schriftzug gleich auf die Tütchen setzt, während Clavié die Geldscheine entgegennimmt.

      Domecq hält inne. Sieht sich nach allen Seiten um. Endlich allein. Es ist 19 : 30 Uhr. Er ist in der Zeit. Er schreibt einen abschließenden Satz: Wie soll ich in Anbetracht dessen, dass das Bagatelle unter Lafonts Schutz steht, in der Angelegenheit weiter vorgehen? Lässt den Bericht gut sichtbar auf seinem Schreibtisch liegen und eilt zu den Toiletten.

      Hinterste Kabine. Nicht verriegeln. Er steigt auf den Toilettensitz, packt den Rand des Dachfensters, Klimmzug, macht über einem Innenhof zwei Schritte auf der Dachkante, lässt sich dann durch die nächste Luke in einen Abstellraum voll Eimer und Besen hinab, die die Putzfrauen morgens vor dem Eintreffen der Polizisten benutzen. Er nimmt einen Karton vom obersten Regal, holt ein sperriges Radiogerät heraus, wickelt das Antennenkabel ab und legt es in der Dachrinne aus, nimmt Kartons und Lappen zu Hilfe, um die Geräusche zu dämpfen, und setzt sich auf einen Hocker. Er macht sehr bedächtige, sehr verhaltene Bewegungen, um den Kokon aus Stille und innerem Frieden nicht zum Platzen zu bringen, der ihn im Herzen der Polizeipräfektur umgibt, dem sichersten Ort von Paris. Dies ist ein Augenblick des Glücks. Dann wartet er, 20 : 07 Uhr, der Zeitpunkt seiner Verabredung mit London. Der Kontakt ist hergestellt. Die Gestapo verhaftet (den mir unbekannten) Benezet in seiner Wohnung und mit ihm einen amerikanischen Offizier, den er beherbergt hat. Laval zahlt Deslauriers fünf Millionen für Benezets Freilassung. Instruktionen? Hockt auf seinem Schemel und wartet, während er versonnen an London denkt und an jene unbekannten Stimmen, die laut durch die Rue d’Assas hallten: Die Engländer sind da … Da kommt die Antwort: Nachricht empfangen. Höchste Priorität. Wir wollen alles über den amerikanischen Offizier, Benezet und die Kontakte zu Laval wissen.

      Auf dem Rückweg ein etwas kitzliger Moment: sich beim Balancieren auf der Dachkante vergewissern, dass die Toilettenkabinen leer sind. Dann, allein im Inspektorenzimmer, überfliegt er nochmals seinen Bericht und legt ihn auf den Stapel für den Chef. Rückblende: Dora in ihrem Boudoir, ihre Tochter, es ist hart, die Tochter einer ehemaligen Hure zu sein. Irgendwie könnte er kotzen. Oder liegen ihm die Petits Fours schwer im Magen? Er geht ohne Umwege nach Hause.

      Nichts zu essen. Da muss er eben bis morgen früh mit Doras Törtchen auskommen. Domecq macht sich einen Kaffee mit einer neapolitanischen Kaffeekanne, wie die Kaffeepäckchen ein Geschenk vom Wirt des Capucin, dann setzt er sich, Füße auf dem Balkongeländer, Blick auf Paris, das grau in grau im Zwielicht liegt.

      Zehn Monate arbeitet er jetzt beim Sittendezernat. Kommissar Nohant hat ihn letzten August auf Wunsch des gaullistischen Geheimdiensts als Inspektorenanwärter eingeschleust, unter falscher Identität, mit falschem Lebenslauf. Nohant, eine beleibte bäuerliche Gestalt mit Filzhut auf dem Kopf, ein guter Polizist und Widerstandskämpfer der ersten Stunde. Im November ’43 zusammen mit drei anderen Kommissaren während einer geheimen Zusammenkunft in einem Kellerraum des Café Zimmer von Lafont und seinen Freunden verhaftet. Wer hatte sie denunziert? Brigadiers, die keine Kommissare mochten? Kommunistische Brigadiers, die keine nicht-kommunistischen Kommissare mochten? Kellner des Cafés, die auf eine Prämie aus waren? Ein pflichteifriger Polizist, der keine Widerstandskämpfer mochte? Ausgeliefert an die Deutschen, gefoltert, deportiert. Zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich tot.

      Und er stand bei der Sitte schlagartig auf einsamem Posten. Er solle bleiben, hatte London verfügt, er sei hier ideal platziert, um die Kreise der Kollaboration zu beobachten. Er sei niemals Polizist gewesen und habe auch nie den Wunsch danach verspürt? Nebensächlich. Vor dem Krieg sei er Ägyptologe gewesen, einsames Arbeiten und genaues Hinsehen also gewohnt. Während seines zehnjährigen Aufenthalts in Kairo sei er regelmäßiger Gast am ägyptischen Hof und bei Botschaftsempfängen gewesen, eine hervorragende Annäherung an das Leben der High Society, dabei aber schön weit weg von den entsprechenden Kreisen in Paris, was das Wiedererkennungsrisiko in Grenzen halte. Er musste sich an totale Einsamkeit gewöhnen, und sein einziger Kontakt zur Résistance war allabendlich zwischen 20 Uhr und 20 : 10 Uhr die Funkverbindung nach London. Ohne je zur Aktion überzugehen, was noch frustrierender wurde, als die Kämpfe näher rückten. Und er hat Nohants Spitzel geerbt.

      Darunter zwei Topleute. Chaves, einer von Lafonts Handlangern. Domecq hat viel nachgedacht. Hinter der Razzia im Café Zimmer kann auch er gesteckt haben. Deshalb hat er ihn noch nicht kontaktiert, aber ein paar von Nohants Aufzeichnungen gut verwahrt.

      Und Dora Belle, die offizielle Geliebte eines der wichtigsten SS-Hauptsturmführer in Frankreich. Dora Belle, ein Star der Continental. Dora Belle, eine schmutzige Geschichte, in einem heruntergekommenen Viertel am Pariser Stadtrand auf der Straße geboren, Eltern unbekannt, mit zwölf Jahren Prostituierte, mit vierzehn Mutter und mit sechzehn Mörderin. Nohant wirbt sie an, legt die Mordsache ad acta und lenkt behutsam ihre Schritte. Er lehrt sie lesen und schreiben, sich zu kleiden, als Edelnutte zu arbeiten. Er hält die Zuhälter von ihr fern und hat ein Auge auf die Erziehung ihrer Tochter. Dora begleicht ihre Schuld, indem sie gewissenhaft den Spitzel gibt. Auch als Deslauriers sie zu sich ins Perroquet bleu holt, macht sie weiter. Sie ist zu diesem Zeitpunkt der beste Spitzel, über den die Sitte in Paris verfügt. Nach 1940 ändert sich die Lage. Dora, fasziniert von der virilen Schönheit und dem Charme der siegreichen SS-Hauptleute wie auch von der materiellen und moralischen Sicherheit, die das Naziregime ihr verschafft, hat nichts übrig für die Terroristenlümmel der Résistance, und Nohant geht vorsichtshalber auf Distanz zu ihr. Als Domecq an ihre Akte gelangt, beschließt er, den Kontakt zu erneuern. Er stellt sich als der geistige Sohn von Nohant vor, der leider Gottes an einer unheilbaren Krankheit leide und sich zum Sterben in die Charente-Maritime zurückgezogen habe. Mimt den Hingerissenen, was ihm umso leichter fällt, als er hingerissen ist, erwähnt nebenher, welche Unannehmlichkeiten es mit sich brächte, sollte Deslauriers von ihrem Verhältnis zu Nohant erfahren, wär doch schade, wo das Leben gerade so angenehm ist, und schlägt ihr vor, die französische Polizei auch weiterhin über das Tun und Treiben von Deslauriers und seinen Freunden