Ein paar von Gummibändern zusammengehaltene Bündel Briefe und Papiere. Und vier Stoffsäckchen. Nicht dick. Loiseau nimmt sie, wiegt sie in der Hand. Schätzungsweise fünf- bis sechshundert Münzen.
Falicon höhnt: »Doll ist das nicht. Zum Glück haben wir noch den Engländer.«
Zurück in die Diele. Der Mann am Boden kommt zu sich. Morandot hat ihm die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt.
Loiseau richtet sich zu ganzer Größe auf, nagt an seiner Unterlippe. »Wir nehmen alle mit, auch die Concierge. Ab nach Hause in die Rue de la Pompe.«
Auf dem Gehweg dreht sich Morandot noch einmal um. Der große Altbau, dunkle Fenster, geschlossene Läden, sieht völlig unbewohnt aus. Er streicht zärtlich über seine Waffe, hebt den rechten Arm, stützt die MP auf den linken Unterarm und schickt eine kurze Salve zu den oberen Etagen. »Schlaft gut, ihr Lämmer.«
Eine wahrhaft spartanische Dachkammer im sechsten Stock in der Rue d’Assas. Roher Holzboden, geweißte Wände, ein schmales Eisenbett, ein Spülstein, ein Gaskocher, ein kleiner Tisch, ein Schrank, zwei Velourssessel, ein paar Bücher, nur erlaubte Literatur und eine Bibel. Einziger Luxus: eine Fenstertür, die auf einen winzigen schmiedeeisernen Balkon führt, der blassblaue Himmel, von fliehenden weißen und grauen Wolkenfetzen durchzogen, und die je nach Licht ihre Farben und Formen ändernden Dächer von Paris. Domecq, müde nach einer schlaflosen Nacht, die er damit verbracht hat, dem durch die stille Stadt fegenden Wind zu lauschen, hat seinen Sessel vor die offene Fenstertür gerückt, die Füße aufs Balkongeländer gelegt und genießt mit geschlossenen Augen die Morgensonne. Von Zeit zu Zeit trinkt er kleine Schlückchen eines vorzüglichen brühheißen Kaffees, sehr würzig, nicht bitter, konzentriert sich auf diesen Geschmack, der ihn durchströmt, sich dann langsam in seinem Mund verflüchtigt. Ein Päckchen Kaffee, das der Wirt des Capucin, auf anhaltend gutes Einvernehmen mit den Inspektoren von der Sitte bedacht, ihm gestern zugesteckt hat wie jede Woche.
Noch ein Schluck. Am Ende hat es den Krieg und die Besatzung gebraucht, damit ich guten Kaffee schätzen lerne. Plötzlich fliegen irgendwo die Fenster auf, knallen gegen die Hauswand, unbekannte Männer- und Frauenstimmen brüllen: »Die Engländer sind da …«
Domecq richtet sich auf, verschüttet seinen Kaffee, verbrennt sich, beugt sich übers Geländer. Kein Mensch zu sehen. Sechs Stockwerke tiefer liegt die Rue d’Assas ruhig im Sonnenschein.
In der Rue de la Pompe ist der Engländer Mike Owen in eine Art fensterlose Abstellkammer gesperrt, mit Handschellen unten an einen Heizkörper gekettet. Er sitzt mit vorgebeugtem Oberkörper auf dem Boden und horcht auf jedes Geräusch. Im Flur reges Kommen und Gehen, Leute betreten die Wohnung, ein Dutzend verschiedene Stimmen, auch die einer Frau. Gleich nebenan muss das Mädchen sein, von dort kein Laut. Er zerrt an seinen Handschellen – der Schmerz schießt ihm wieder die Arme hoch –, will sich nur vergegenwärtigen, dass er am Leben ist.
Deslauriers hat sich sein Büro in einem kleinen Raum am Ende des langen Flurs eingerichtet, der bestimmt einmal ein Jungmädchenzimmer war: Tapete mit Rosenstraußreihen auf weißem Grund, Fischgrätparkett, sehr wenige Möbel, zwei Metallspinde für die Akten, an einer der Wände ein paar unterschiedliche Stühle. Und auf einem gelb-blauen Teppich ein wuchtiger, kunstvoll geschnitzter Schreibtisch aus dunklem Holz, vier Karyatiden in üppiger Blöße tragen eine große, mit abgewetztem rehbraunem Leder bezogene Schreibplatte. Die Fensterläden der im ersten Stock zur Straße hin gelegenen Wohnung bleiben stets geschlossen, und an diesem Morgen ist der Raum in lichten Schatten getaucht.
Vor dem Schreibtisch aufgereiht stehen starr und stumm die vier Männer von Loiseaus Trupp. Der Boss, groß, massig, zerbeultes breites Gesicht, Nase schon mal gebrochen, Schmarre durch die rechte Braue, das braune Haar sorgfältig mit Pomade frisiert, marschiert von Wand zu Wand, das Jackett seines gut geschnittenen grauen Anzugs offen, Hände in den Hosentaschen, die Augen auf seine hellbraunen englischen Glattlederschuhe geheftet, bloß dann und wann ein kurzer Blick zu seinen Männern, die er nur von hinten sieht. Falicon, dem Fenster am nächsten, ein durchtriebener kleiner Zuhälter, der sich für besonders schlau hält und es vielleicht auch ist, tut so, als blicke er zur Straße hinaus. Neben ihm Martin, rund und wohlgenährt, tüchtiger Malocher, arbeitsloser Anstreicher, kam in die Rue de la Pompe, um die Räumlichkeiten zu reinigen und neu zu streichen, und blieb, Mann für alles, wenn nur die Bezahlung stimmt, nie eine eigene Idee, zieht den Kopf ein, wartet auf das Donnerwetter. Morandot, stämmig, dunkler Typ, bankrottgegangener Bäckermeister, aktives Mitglied der Cagoule, vor dem Krieg eine rechtsextreme Putschistengruppe, schloss sich nach dem Waffenstillstand Doriots Kollaborationspartei an, Antikommunist, scharfer Antisemit, Dienstältester in der Truppe der Rue de la Pompe, hält sich für einen geistigen Führer, Pranken hinterm Rücken verschränkt und Beine gespreizt in der Haltung des Soldaten in Rührt-euch-Stellung. Und schließlich Loiseau, nahe der Tür, der größte von allen, kahler Schädel, stramme Haltung, ewiger Traum: an Stelle vom Boss der Boss sein. Deslauriers brütet vor sich hin. Nichtsnutzige Bande. Haben mich in eine beschissene Lage gebracht, von der diese Idioten keinen blassen Schimmer haben. Und nicht haben sollen. Erst den Ungehorsam bestrafen. Dann sehen wir weiter. Er bleibt stehen, strafft sich.
»Wer hat euch in die Avenue Henri-Martin geschickt?«
Loiseau antwortet: »Der kleine Poncin hatte uns den Tipp gegeben, dass da ein großer Fang mit Goldmünzen zu machen wäre.«
»Und ihr habt von selbst die Initiative ergriffen? Das kaufe ich euch nicht ab. Wer hat euch dorthin geschickt?«
Loiseau schweigt.
»Wer?«
Immer noch nichts. Deslauriers zieht seinen Revolver aus dem Holster, das er praktisch im Rücken trägt, drückt ihn Falicon ins Genick und schießt. Die drei Männer zucken zusammen, stehen starr, Kopf geradeaus, Blicke aus den Augenwinkeln. Der Körper sackt zusammen, schlagartig geschrumpft in zu weiten Kleidern. Langsam bildet sich eine Blutlache bis hin zum Teppich. Deslauriers wirft die Geschosshülse aus, lädt nach.
»Ich frage noch einmal. Wer?«
Martin öffnet den Mund.
»Nicht du, Martin. Ich will’s von Loiseau hören.«
Ein Zittern überläuft Loiseau. »Das ist eine Aktion von Lafont. Er hat nicht mehr viele Männer in der Rue Lauriston, fast alle haben sich der Nordafrikanischen Brigade angeschlossen, um die Terroristen außerhalb von Paris zu bekämpfen. Also wendet er sich an uns.«
Lafont, Chef der Carlingue, der wichtigsten Gruppe französischer Gestapohelfer. Ein gefährlicher Rivale. Mein Revier sichern, meine Autorität gegenüber meinen Männern wiederherstellen, aber Vorsicht. Lafont ist mächtig.
»Und du hast eingewilligt, ohne mit mir zu sprechen?«
»Lafont hat Geheimhaltung verlangt. Wir sollten das Gold und den Alten mitnehmen und das Ganze bis acht Uhr früh erledigt haben. Danach sollten wir einfach wieder herkommen.«
Deslauriers deutet mit der Revolvermündung auf die Säckchen auf dem Schreibtisch. »Dafür?«
Loiseau zuckt die Achseln. »Es sollten mindestens fünftausend Goldmünzen dort sein.«
Deslauriers begibt sich hinter den Schreibtisch, setzt sich in einen hohen Lehnsessel, legt seine Waffe vor sich hin, sieht die drei mit gewohntem Unmut an. »Das Gold behalte ich. Damit ist eure Scharte ausgewetzt. Ihr bekommt eure Prämien für den Engländer, wenn er denn Engländer ist, ihr bekommt sogar die von Falicon. Der Alte gehört mir, und zwar nur mir. Für euch gibt es ihn nicht mehr.« Mit Nachdruck: »Es hat ihn nie gegeben. Ihr zwei schafft euren Kollegen raus, der wird bald unangenehm riechen, und ihr nehmt euch das Mädchen vor. Sie muss etwas über den blinden Passagier in der Avenue Henri-Martin wissen. Der Einzige, der in dieser Angelegenheit für unsere Behörde von Interesse ist, damit das ganz klar ist. Jetzt seid ihr dran. Loiseau, du bleibst hier, ich habe mit dir zu reden.«
Stumm und mit ausweichenden Blicken verlassen die beiden Männer mit dem Leichnam den Raum. Loiseau steht reglos da und wartet.
»Jetzt, wo deine Männer weg sind, sag